Märzgefallene (eBook)
608 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30832-7 (ISBN)
Volker Kutscher, geboren 1962, arbeitete nach dem Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte zunächst als Tageszeitungsredakteur, bevor er seinen ersten Kriminalroman schrieb. Heute lebt er als freier Autor in Köln. Mit dem Roman »Der nasse Fisch«, dem Auftakt seiner Krimiserie um Kommissar Rath im Berlin der Dreißigerjahre, gelang ihm auf Anhieb ein Bestseller, dem bisher fünf weitere folgten. Die Reihe ist inzwischen in viele Sprachen übersetzt und durch Tom Tykwers Verfilmung Babylon Berlin international bekannt.
Volker Kutscher, geboren 1962, arbeitete nach dem Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte zunächst als Tageszeitungsredakteur, bevor er seinen ersten Kriminalroman schrieb. Heute lebt er als freier Autor in Köln. Mit dem Roman »Der nasse Fisch«, dem Auftakt seiner Krimiserie um Kommissar Rath im Berlin der Dreißigerjahre, gelang ihm auf Anhieb ein Bestseller, dem bisher fünf weitere folgten. Die Reihe ist inzwischen in viele Sprachen übersetzt und durch Tom Tykwers Verfilmung Babylon Berlin international bekannt.
1
Der Mann saß an einem stählernen Pfeiler im Schatten der Hochbahntrasse, das Kinn auf die Brust gesunken, als sei er nur kurz eingenickt. Man hätte denken können, er schlafe seinen Rausch aus, so kauerte er da, in einem alten, geflickten Soldatenmantel, in Wickelgamaschen und löchrigen Handschuhen, eine dicke Wollmütze tief in die Stirn gezogen.
Wilhelm Böhm musste seinen Bowler festhalten, den ihm der scharfe, frostige Wind vom Kopf fegen wollte. Sie befanden sich direkt unter dem Hochbahnhof Nollendorfplatz, keinen Steinwurf entfernt vom Treppenaufgang, und dennoch war der Tote niemandem aufgefallen, offenbar seit Tagen nicht, jedenfalls niemandem, der es für nötig erachtet hätte, angesichts eines leblosen Körpers, der bei Minustemperaturen auf der Straße lag, die Polizei zu rufen. Böhm hielt die Luft an, als er in die Hocke ging; der tote Mann, den er in Augenschein nehmen wollte, sah einfach aus wie jemand, der stank, ein Stadtstreicher eben, einer der vielen Obdachlosen, die Berlins Straßen bevölkerten und von denen es Jahr für Jahr mehr zu geben schien. Und tatsächlich musste sich der Oberkommissar seinen Schal vor die Nase halten, um weiteratmen zu können, denn trotz der Kälte verströmte der Tote den Gestank eines Menschen, der seit Jahren auf der Straße lebte: alter Schweiß, Urin, Alkohol.
Taubenkot bedeckte den reglosen Körper in einer dünnen, fleckigen Schicht, von den Schuhen bis hinauf zur Wollmütze. Oben aus dem Stahlgebälk gurrte es, unzählige Tauben hockten in den Streben, eine regelrechte Kolonie, die fortlaufend ihre Spuren hinterließ: Auch das Pflaster ringsum war über und über verschmutzt. Verständlich, dass die Passanten, jedenfalls die, die sich auskannten, diese Ecke mieden und die Hochbahn lieber an anderer Stelle unterquerten.
Ein Schupo, der am Nollendorfplatz seine täglichen Runden drehte, hatte schließlich – nach wie viel Tagen? – die Blutlache unter dem leblosen Mann entdeckt und die Zentrale Mordinspektion alarmiert. Die Genugtuung darüber, dass es ihm gelungen war, den Toten loszuwerden, ohne das eigene Revier damit behelligen zu müssen, war Wachtmeister Breitzke immer noch anzusehen. Kein Polizist riss sich darum, den Tod eines ungewaschenen Obdachlosen zu bearbeiten, auch nicht die Kollegen vom 174. Revier.
Den Schal vor Mund und Nase, betrachtete Böhm den Toten. Aus dem linken Nasenloch war das Blut in einem dünnen Rinnsal bis aufs Pflaster gelaufen, wo es eine Lache bildete, die bereits geronnen war. Oder gefroren, so genau war das bei den Temperaturen nicht zu sagen. Dort, wo es seinen Weg über den Mantel genommen hatte, war das Blut zu einem großen Teil im schweren Stoff versickert.
Mit spitzen Fingern durchsuchte Böhm die Taschen des Toten und fand einen alten, völlig zerfledderten Militärpass, der an einer Ecke sogar angesengt war, als habe sein Inhaber ihn bereits einmal verbrennen wollen und ein Feuerzeug an die Ecke gehalten, dann aber doch davor zurückgeschreckt. Der Oberkommissar faltete das speckige, abgegriffene Dokument auseinander. Der Reservist Heinrich Wosniak, so verrieten es die Einträge auf der fleckigen Pappe, geboren am 20sten März 1894 zu Hagen / Westfalen, war im August 1915 an der Ostfront zum 1. Garde-Reserve-Infanterie-Regiment gestoßen, das kurz darauf nach Flandern verlegt wurde. Die Hölle des Grabenkrieges hatte er überlebt, und war dennoch in seinem Soldatenmantel gestorben. Ein Großteil der Berliner Bettler trug Soldatenkleidung; Kleidung, die die Männer, oftmals schrecklich verkrüppelte Gestalten, seit dem Krieg nicht abgelegt hatten. Sie hatten ihre Gesundheit geopfert für das Vaterland, und nun kümmerte sich kein Mensch mehr um sie. Selbst den Leuten, die sie anbettelten, war ihr Anblick eher lästig, als dass sie Mitleid empfanden. Und schon gar keine Dankbarkeit. Dafür, dass diese Männer ihre Knochen hingehalten hatten für den Patriotismus der Daheimgebliebenen.
»Soll ich mit der Spurensicherung anfangen, Oberkommissar?«
Böhm blickte auf. Da stand Kriminalsekretär Gräf, einer der beiden Männer, die er mit rausgenommen hatte zum Nollendorfplatz, und pustete Atemwölkchen in die kalte Februarluft. Nicht mal eine Stenotypistin hatten sie ihm gegönnt, nur den Kriminalsekretär und einen Kommissaranwärter. Der Oberkommissar stemmte seinen schweren Körper in die Höhe und richtete sich auf. Dem unmittelbaren Dunstkreis des Toten entkommen, konnte er endlich wieder frei atmen.
»Fangen Se an, Gräf. Kronbergs Leute sind noch im Wedding, mit denen können wir heute nicht rechnen.« Böhm zeigte auf den Spurensicherungskoffer in der Hand des Kriminalsekretärs. »Das heißt, wir werden uns mit Bordmitteln bescheiden müssen. Schau’n Sie sich erst mal um, ob Sie überhaupt etwas finden. Zigarettenkippen, Fußspuren, was weiß ich. Die Ecke hier ist glücklicherweise nicht so stark frequentiert, jede Spur auf dem Pflaster könnte also ein Hinweis sein.«
Gräf stellte den Koffer ab und ließ die Verschlüsse aufschnappen. »Und was ist mit Fingerabdrücken?«, fragte er.
»Darum kümmere ich mich selber. Am Stahlträger könnten welche sein. Wenn überhaupt. Wer geht in diesen Tagen schon ohne Handschuhe vor die Tür?« Böhm schaute sich um. »Wo bleibt eigentlich Steinke?«
»Hat wohl Probleme, die Kamera aus dem Kofferraum zu kriegen.«
Reinhold Gräf machte sich mit einem Packen Markierungsschilder und einer Handvoll Beweissicherungsbehälter an die Arbeit, und Böhm wandte sich dem Schupo zu.
»Heinrich Wosniak, sagt Ihnen der Name was?«
»Von den Jestalten, die hier rumlungern, kenn ick doch keene Namen.«
»Haben Sie den Toten denn schon mal gesehen?«
»Wie?«
»Ich meine, das ist doch Ihr Revier. Hat der vielleicht hier schon mal irgendwo rumgesessen? Irgendwo gebettelt? Auf ’ner Parkbank geschlafen? So was eben.«
Wachtmeister Breitzke zuckte die Achseln. »Da müsst ick erst mal sein Jesichte sehen.«
Böhm nickte. Der Kopf des Toten war so tief auf die Brust gesunken, die verfilzten Haare hingen so weit in die Stirn, dass man das Gesicht kaum erkennen konnte.
»Wir können den Mann erst bewegen, wenn die Spurensicherung abgeschlossen ist. Solange muss ich Sie bitten zu bleiben.«
»Warten Se mal!« Breitzke hörte sich mit einem Mal deutlich weniger gelangweilt an und zeigte auf die vernarbte Haut, die unterhalb der Mütze der Leiche zu sehen war. »Vielleicht könnte det Kartoffel sein. Der steht schon mal am Nolle rum, drüben bei der U-Bahn, und schnorrt die Leute an.«
»Ich denke, von den Gestalten hier kennen Sie keine Namen?«
»Is ja ooch ’n Spitzname.«
»Kartoffel«, sagte Böhm. »Das heißt, den richtigen Namen kennen Sie nicht?«
»Ne, saach ick doch.«
»Sobald wir Fotos gemacht haben, schau’n Sie sich das Gesicht mal in Ruhe an. Vielleicht isser das ja wirklich.«
Wachtmeister Breitzke wirkte nicht begeistert, aber er nickte.
Böhm hörte ein leises Fluchen. Kommissaranwärter Steinke näherte sich mit dem Fotoapparat, die unhandliche Kamera unter den Arm geklemmt, das schwere Stativ geschultert. Ob der studierte Jurist, direkt vom Hörsaal in die Burg gekommen, jemals eine Hilfe sein würde, das bezweifelte Böhm. Auch nach einem Jahr bei der Kriminalpolizei agierte der Kommissaranwärter wie ein blutiger Anfänger; das Einzige, mit dem er sich bestens auskannte, waren Dienstgrade und Besoldungsstufen. Dennoch hatte Steinke gute Chancen, die Prüfungen zu bestehen, und dann wäre er als Kommissar der Vorgesetzte von Männern wie Gräf, dem leider der Ehrgeiz fehlte, die Kommissarsprüfung abzulegen, der aber der weitaus bessere Kriminalist war. Böhms einzige Hoffnung war, dass Steinke vielleicht doch durch die Prüfung rasselte, es gab schon mehr als genug unfähige Kriminalkommissare am Alex.
»Da sind Se ja endlich, Steinke.«
»Komme mir vor wie ein Packesel«, sagte der Kommissaranwärter und ließ das Stativ zu Boden fallen. Er ging zu dem Toten hinüber und verpasste dem leblosen Bündel einen kurzen Fußtritt, als handele es sich um einen überfahrenen Hund.
»Was machen Sie denn da, Mann?«
»Wollte nur feststellen, ob der Penner wirklich tot ist und nicht nur besoffen.«
»Wäre er nicht tot, wären wir wohl nicht hier«, sagte Böhm. »Lernen Sie heutzutage nicht mehr, dass Sie an einem Tatort selbstverständlich nichts anzurühren haben, bis die Spurensicherung abgeschlossen ist?«
»Schon, aber …«
»Und ganz abgesehen davon: Erweisen Sie einem Toten gefälligst mehr Respekt!«
»Mit Verlaub, Herr Oberkommissar, aber das ist ein Stadtstreicher, ein … Pennbruder. Frage mich, warum wir für so einen überhaupt rausfahren müssen.«
»Was soll denn das heißen? Dass so einer es nicht verdient, dass wir die Umstände seines Todes untersuchen?«
»Ich meine ja nur.«
»Meinen Sie nicht, bauen Sie lieber die Kamera auf und erledigen Sie Ihre Arbeit. Wir wollen hier endlich weiterkommen.«
Für einen Augenblick sah es so aus, als wolle Steinke noch etwas sagen, er öffnete den Mund, aber dann fuhr oben ein Zug in den Hochbahnhof ein, und das Donnern des Stahls machte jedes weitere Wort unhörbar. Der Kommissaranwärter winkte ab und begann, das Stativ auseinanderzufalten.
Böhm holte Rußpulver, Pinsel und Klebefolien aus dem Spurensicherungskoffer und...
Erscheint lt. Verlag | 6.11.2014 |
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Reihe/Serie | Die Gereon-Rath-Romane |
Die Gereon-Rath-Romane | Die Gereon-Rath-Romane |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 30er Jahre • 5. Fall • Auftragsmörder • Babylon Berlin • Babylon Berlin TV-Serie • Berlin • Brand • Der nasse Fisch • Der stumme Tod • Die Akte Vaterland • Ermittler • Ermittlung • Feuer • Gereon Rath • Goldstein • Hochzeit • Kommissar • Kommissar Gereon Rath • Krimi • Kriminalfall • Krimi-Reihe • Marlow • Mord • Mordserie • Nationalsozialismus • Politik • Polizei • Reichstag • Reichstag-Brand • Reichstagbrrand • Reichstagsbrand • Reihe • Serie • Serienmörder • Soldaten • Soldatenmorde • Soldaten-Morde • SPIEGEL-Bestseller • TV-Serie • Volker Kutscher • Zeitgeschichte • Zeit-Geschichte |
ISBN-10 | 3-462-30832-7 / 3462308327 |
ISBN-13 | 978-3-462-30832-7 / 9783462308327 |
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