Gesammelte Erzählungen (eBook)

44 Titel in einem Buch: Der fliegende Händler + Die Krawatte + Der verkannte Patriot + Das doppelte Gesicht + Der Siegelring und viel mehr
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2014 | 1. Auflage
351 Seiten
e-artnow (Verlag)
978-80-268-2562-3 (ISBN)

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Gesammelte Erzählungen -  Anatole France
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Dieses eBook: 'Gesammelte Erzählungen: Der fliegende Händler + Die Krawatte + Der verkannte Patriot + Das doppelte Gesicht + Der Siegelring und viel mehr' ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Anatole France (1844 - 1924) war ein französischer Schriftsteller. Am berühmtesten wurden die Romane Die Insel der Pinguine und Die Götter dürsten. 1921 erhielt er den Literaturnobelpreis. Von heutigen Lesern wird Anatole France vor allem als Romancier wertgeschätzt. Inhalt: Der fliegende Händler und mehrere andere nützliche Erzählungen: Crainquebille Putois Riquet Die Krawatte Die großen Manöver von Montil Der verkannte Patriot Das doppelte Gesicht Der Siegelring Die Signora Chiara Die rechtschaffenen Richter Der Christ des Ozeans Ein Traum Sancta Justitia Hausdiebstahl Der kleine Schornsteinfeger oder Wohlangebrachte Mildtätigkeit Das Hemd eines Glücklichen: König Christoph, seine Regierung, seine Sitten und seine Krankheit Das Heilmittel des Doktors Rodrigo Die Herren von Vierblatt und von Waldteufel suchen einen Glücklichen im Königlichen Schloß Jeronimo Die Königliche Bibliothek Der Marschall Herzog von Volmar Von den Beziehungen zwischen Glück und Reichtum Die Salons der Hauptstadt Das Glück, geliebt zu werden Wenn das Glück darin liegt, nicht mehr zu fühlen ... Sigismund Dux Ob das Laster eine Tugend ist ... Der Pfarrer Handschuh Ein Glücklicher

Putois



I.

»Der Garten unserer Kindheit,« sagte Herr Bergert, »den man mit wenigen Schritten durcheilen konnte, war doch für uns eine unermeßliche Welt voll Lust und Schrecken.«

»Lucien, erinnerst du dich noch an Putois«, fragte Zoë und neigte mit dem ihr eigenen Lächeln, wobei sie die Lippen fest zu schließen pflegte, ihr Gesicht über ihre Nadelarbeit.

»Natürlich erinnere ich mich an Putois!… Von allen Gestalten, die mir in meiner Kindheit vor die Augen gekommen sind, ist Putois mir am lebhaftesten im Gedächtnis geblieben. Ich besinne mich noch auf alle Züge seines Gesichts und seines Charakters. Er hatte einen spitz zulaufenden Schädel…«

»Eine niedrige Stirn,« fügte Zoë hinzu.

Die Geschwister sagten nun abwechselnd mit monotoner Stimme und wunderlich ernster Miene alle Einzelheiten einer Art von Signelament her:

»Niedere Stirn.«

»Gläserne Augen.« »Unstäter Blick.«

»Krähenfüße an der Schläfe.«

»Hervortretende, rote, glänzende Backenknochen.«

»Die Ohren hatten keine Ränder.«

»Die Gesichtszüge waren ohne allen Ausdruck.«

»Die Hände waren in steter Bewegung und verrieten seine Gedanken.«

»Er war mager, etwas gebeugt und anscheinend schwächlich.«

»Sein Daumen war riesig groß.«

»Seine Stimme schleppend.«

»Seine Redeweise süßlich.«

Plötzlich rief Herr Bergeret lebhaft:

»Eins haben wir noch vergessen, Zoë! die gelbliche Haarfarbe und das dünne Haar. Wir wollen es noch einmal wiederholen.«

Mit Erstaunen hatte Pauline dieser seltsamen Aufzählung von Putois’ Eigenschaften zugehört und fragte nun ihren Vater und ihre Tante, wie sie dazu kämen, dies Prosastück auswendig zu wissen und wie eine Litanei herzusagen. Herr Bergeret erwiderte ernst:

»Pauline, was du soeben vernommen hast, ist ein geheiligter, ich darf wohl sagen, liturgischer Text für den Privatgebrauch der Familie Bergeret. Es geziemt sich, daß er dir überliefert werde, damit er nicht dereinst mit deiner Tante und mir untergehe.

»Dein Großvater, mein liebes Kind, dein Großvater Eloi Bergeret, ein Mann, der an nichtigen Dingen keinen Gefallen fand, schätzte dieses Stück hoch, besonders in Anbetracht seines Ursprungs. Er nannte es ›die Anatomie von Putois‹. Auch pflegte er zu sagen, erziehe in gewisser Weise die Anatomie von Putois der Anatomie von Quaresmeprenant vor. ›Wenn die Beschreibung, die Xenomanes davon machte,‹ sagte er, ›auch wissenschaftlich bedeutender ist und reicher an seltenen und vorzüglichen Ausdrücken, so wird sie doch durch Gedankenklarheit und Flüssigkeit des Stils von der Beschreibung des Putois übertroffen.‹ Er urteilte so, weil der Doktor Ledouble von Tours damals noch nicht seine Erklärung über die Kapitel 30 – 32 des vierten Buches von Rabelais gegeben hatte.« »Von alledem verstehe ich kein Wort,« sagte Pauline.

»Das kommt daher, weil du Putois nicht kennst, liebe Tochter. Du mußt wissen, daß Putois für mich und Tante Zoë die bekannteste Figur aus unserer Kinderzeit war. Im Hause deines Großvaters Bergeret wurde unaufhörlich von Putois geredet. Jeder glaubte, ihn gesehen zu haben.«

»Wer war denn eigentlich Putois?« fragte Pauline.

Statt zu antworten begann Herr Bergeret zu lachen, und seine Schwester lachte gleichfalls mit fest geschlossenen Lippen.

Pauline ließ ihre Blicke von einem zum andern wandern. Sie fand es wunderbar, daß ihre Tante so von Herzen lachte, und noch wunderbarer, daß sie so in voller Übereinstimmung und Sympathie mit ihrem Bruder lachte. Es war auch in der Tat auffallend, denn Bruder und Schwester waren selten einer Meinung.

»Papa, sag’ mir doch, wer war Putois? Du willst ja, daß ich es wissen soll, so sag es mir doch.« Putois, liebe Tochter, war ein Gärtner. Er war ein Sohn achtbarer Kunstgärtnersleute und hatte in St. Omer eine Baumschule eingerichtet. Aber seine Kundschaft war nicht zufrieden mit ihm, er machte schlimme Streiche. Sein Geschäft hatte er aufgegeben und ging auf Tagesarbeit aus, und die Leute, die ihn beschäftigten, hatten nicht immer Ursache ihn zu loben. Bei diesen Worten sagte Fräulein Bergeret noch immer lachend:

»Erinnerst du dich wohl noch, Lucien, wenn unser Vater auf seinem Schreibtisch sein Tintenfaß, seine Federn, seinen Siegellack, seine Schere oder – was es immer sei – vermißte, so pflegte er zu sagen: ›Ich vermute, daß Putois hier gewesen ist‹.«

»Ja,« erwiderte Herr Bergeret, »Putois stand in keinem guten Ruf.«

»Ist das alles?« fragte Pauline.

»Nein, liebe Tochter. Putois hatte die Eigentümlichkeit, daß er uns bekannt und vertraut war, und daß er dennoch gar nicht…«

»Garnicht existierte!« rief Zoë. Herr Bergeret warf seiner Schwester einen vorwurfsvollen Blick zu:

»Welch ein Ausdruck, Zoë! Warum so den Zauber brechen! Putois hätte gar nicht existiert! Wagst du das wirklich zu sagen, Zoë? Kannst du das begründen? Hast du die Existenzbedingungen, die Art und Weise des Daseins ausreichend geprüft, um wirklich behaupten zu wollen, Putois habe nie existiert, sei gar nie dagewesen? Sicherlich existierte Putois, liebe Schwester, aber es ist wahr, er führte ein eigenartiges Dasein.«

»Ich verstehe immer weniger, was ihr sagt,« bemerkte Pauline verzagt.

»Die Wahrheit wird dir sofort einleuchten, liebe Tochter. Erfahre also, daß Putois in reifem Alter geboren ward. Ich war damals noch ein Kind, deine Tante war schon ein junges Mädchen. Wir bewohnten ein kleines Haus in einer Vorstadt von St. Omer. Unsere Eltern führten ein ruhiges, zurückgezogenes Leben, bis sie von einer Eingeborenen von St. Omer, von einer alten Dame mit Namen Frau Cornouiller entdeckt wurden, die in der Nähe der Stadt auf ihrem Landsitze Monplaisir wohnte und ausfindig gemacht hatte, daß sie die Großtante meiner Mutter sei. Sie machte nun von ihrem verwandtschaftlichen Recht Gebrauch und verlangte, daß unsere Eltern jeden Sonntag zum Mittagessen nach Monplaisir kommen sollten, wo sie sich sträflich langweilten. Sie sagte, es sei wohlanständig, am Sonntag in der Familie zu dinieren, nur Leute ohne Stand und Rang hielten nicht auf diese gute Sitte. Mein Vater weinte fast vor Ärger und Langeweile in Monplaisir. Es tat einem weh, seine Verzweiflung mitanzusehen. Aber Frau Cornouiller bemerkte das nicht. Sie sah überhaupt nichts. Meine Mutter schickte sich mit mehr Anstand in die Sache. Sie litt ebenso sehr wie unser Vater, vielleicht noch mehr, aber sie lächelte.«

»Die Frauen sind zum Leiden geboren,« sagte Zoë.

»Zoë, alles was auf der Welt lebt, ist zum Leiden bestimmt. Vergebens lehnten unsere Eltern diese entsetzlichen Einladungen ab. Der Wagen der Frau Cornouiller stand jeden Sonntag mit unerbittlicher Pünktlichkeit vor ihrer Tür, um sie abzuholen. Es half nichts, man mußte nach Monplaisir fahren, das war eine Pflicht, der man sich absolut nicht entziehen konnte. Es war einmal die festgesetzte Ordnung, die nur durch einen Gewaltstreich durchbrochen werden konnte. Endlich empörte sich mein Vater und schwur, daß er niemals wieder der Einladung der Frau Cornouiller Folge leisten werde. Er überließ es meiner Mutter, einen passenden Vorwand und allerlei Gründe für die Ablehnung ausfindig zu machen. Aber gerade dazu war sie am wenigsten imstande. Sie verstand es ganz und gar nicht, sich zu verstellen.«

»Sage lieber, sie wollte es nicht verstehen, Lucien. Sie hätte ebenso gut lügen können, wie alle anderen Menschen.«

»Sicherlich. Aber wenn sie gute Gründe hatte, so ließ sie die lieber gelten, als daß sie schlechte erfunden hätte. Du erinnerst dich vielleicht noch, es passierte ihr eines Tages bei Tische, daß sie sagte, ›zum Glück hat Zoë Keuchhusten, nun brauchen wir lange Zeit nicht nach Monplaisir zu fahren‹.« »Ja, ganz richtig!« gab Zoë zu.

»Du genasest, Zoë, und Frau Cornouiller kam eines Tages zu unserer Mutter und sagte: ›Meine Liebe, ich rechne darauf, daß Sie am Sonntag mit Ihrem Gatten zum Diner nach Monplaisir kommen‹. Vom Vater aber hatte die Mutter ganz ausdrücklichen Bescheid bekommen, die Einladung unter allen Umstanden abzulehnen, und in dieser Notlage erfand sie einen Grund, der der Wahrheit nicht entsprach.

›Ich bedauere lebhaft, gnädige Frau,‹ sagte unsere Mutter, aber es wird uns unmöglich sein, denn Sonntag erwarte ich den Gärtner.‹

»Frau Cornouiller sah durch die Glastür des Wohnzimmers auf den kleinen verwilderten Garten, wo Spillbaum und Flieder ganz danach aussahen, als ob sie das Messer des Gärtners nie gekannt hatten und auch nie kennenlernen würden.

›Sie erwarten den Gärtner! wozu denn?‹

›Er soll im Garten arbeiten.‹

»Unwillkürlich hatte meine Mutter bei ihren Worten ihre Augen auf das kleine Viereck voll Unkraut und halbverwilderter Pflanzen gerichtet, das sie soeben als Garten bezeichnet hatte, und sah mit Schrecken die Unwahrscheinlichkeit ihrer Erfindung ein.

›Der Mensch‹, sagte Frau Cornouiller, ›könnte wohl am Montag oder Dienstag kommen, um Ihren … Garten zu pflegen. Das wäre auch viel besser. Am Sonntag soll man nicht arbeiten.‹

›Er ist aber in der Woche beschäftigt.‹

»Ich habe oft bemerkt, daß die absurdesten, ungeeignetsten Gründe den wenigsten Widerstand finden. Sie verwirren im Gegenteil den Gegner. Frau Cornouiller bestand denn auch weniger hartnäckig auf ihrer Meinung, als man es bei einer so wenig nachgiebigen Person erwartet hätte. Als sie sich von ihrem...

Erscheint lt. Verlag 22.10.2014
Übersetzer Friedrich Oppeln-Bronikowski
Verlagsort Prague
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Aphorismen
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Die Götter dürsten • Die Insel der Pinguine • Maupassant • Nobelpreis • Romain Rolland • Satire • Stefan Zweig
ISBN-10 80-268-2562-4 / 8026825624
ISBN-13 978-80-268-2562-3 / 9788026825623
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