Jahrestage 1–4 (eBook)

Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

(Autor)

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2014 | 1., Band 1-4 im Schuber, Registerband extra erhältlich (st 4498)
2150 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73599-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Jahrestage 1–4 - Uwe Johnson
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Tag für Tag, über ein Jahr hinweg, erzählt Gesine Cresspahl ihrer zehnjährigen Tochter Marie aus der eigenen Familiengeschichte, vom Leben in Mecklenburg in der Weimarer Republik, während der Herrschaft der Nazis, in der sich anschließenden sowjetischen Besatzungszone und den ersten Jahren in der DDR. Zugleich schildert der Roman das alltägliche Leben von Mutter und Tochter in der Metropole New York im Epochejahr 1967/1968, inmitten von Vietnamkriegs- und Studentenprotesten. In den »Jahrestagen« entfaltet Uwe Johnson ein einzigartiges Panorama deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert - eine »Lese-Weltreise« (Reinhard Baumgart) in die bewegte New Yorker Gegenwart des Jahres 1968 und zugleich in die Geschichte einer deutschen Familie seit der Weimarer Republik. Ein Register zu Uwe Johnsons Roman 'Jahrestage' ist unter dem Titel 'Kleines Adressbuch für Jerichow und New York' separat erhältlich.

<p>Uwe Johnson wurde am 20. Juli 1934 in Kammin (Pommern), dem heutigen Kamien Pomorski, geboren und starb am 22. oder 23. Februar 1984 in Sheerness-on-Sea. 1945 floh er mit seiner Mutter und seiner Schwester zunächst nach Recknitz, dann nach Güstrow in Mecklenburg. Sein Vater wurde von der Roten Armee interniert und 1948 für tot erklärt. 1953 schrieb er sich an der Universität Leipzig als Germanistikstudent ein und legte sein Diplom über Ernst Barlachs <em>Der gestohlene Mond</em> ab. Bereits während des Studiums begann er mit der Niederschrift des Romans<em> Ingrid Babendererde</em><em>. Reifeprüfung 1953</em>. Er bot ihn 1956 verschiedenen Verlagen der DDR an, die eine Publikation ablehnten. 1957 lehnte auch Peter Suhrkamp die Veröffentlichung ab. Der Roman wurde erst nach dem Tode von Uwe Johnson veröffentlicht. Der erste veröffentlichte Roman von Uwe Johnson ist <em>Mutmassungen über Jakob</em>. Von 1966 - 1968 lebte Uwe Johnson in New York. Das erste Jahr dort arbeitete er als Schulbuch-Lektor, das zweite wurde durch ein Stipendium finanziert. Am 29. Januar 1968 schrieb er in New York die ersten Zeilen der <em>Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl</em> nieder. Deren erste ?Lieferung? erschien 1970. Die Teile zwei und drei schlossen sich 1971 und 1973 an. 1974 zog Uwe Johnson nach Sheerness-on Sea in der englischen Grafschaft Kent an der Themsemündung. Dort begann er unter einer Schreibblockade zu leiden, weshalb der letzte Teil der <em>Jahrestage </em>erst 1983 erscheinen konnte. 1979 war Uwe Johnson Gastdozent für Poetik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt. Ein Jahr später erschienen seine Vorlesungen unter dem Titel <em>Begleitumstände</em>. Sein Nachlass befindet sich im Uwe Johnson-Archiv an der Universität Rostock.</p>

1. September 1967 Freitag


Der amerikanische Befehlshaber in Süd-Viet Nam sagt: Die Nordvietnamesen lügen. Radio Hanoi gibt die amerikanischen Verluste (Tote, Verwundete, Vermißte) für die ersten sechs Monate dieses Jahres mit 110 000 an. Er sagt: Es sind 37 038.

An diesem Tag wird das Gesetz über Ehescheidung von 1787 ungültig. Wer jetzt heiratet, muß zwei Jahre warten, bis er wieder frei ist.

Du mußt nicht mich heiraten: sagt D. E.: du sollst bei mir leben.

D. E. schickt Blumen, Telegramme, Theaterkarten, Bücher. Er führt Marie zum Essen aus, er hat sich mit Esther angefreundet, er hört Mr. Robinsons Erzählung von seiner Militärdienstzeit in Westdeutschland zu. D. E. wohnt in New Jersey, aber er verbringt viele Zeit in den Bars um die 96. Straße am Broadway, zwei Blocks vom Riverside Drive. Am Telefon kann er fast immer sagen: Ich bin in der Nähe. D. E. ist ein Mann von fast vierzig Jahren, ein langer Kerl in irischen und italienischen Jacken, mit einem langen, fleischigen, geduldigen Gesicht, über dem er sein graues Haar lang und gescheitelt trägt, als wollte er sein Alter verstecken. D. E. ist zweihundert Pfund schwer und bewegt sich auf kleinen Füßen flink. D. E. fährt einen großen englischen Wagen, seine Anzüge sind in ausgesuchten Farben gehalten, D. E. fehlt es an wenig. D. E. arbeitet in der Rüstung.

D. E. sagt: Ich arbeite für die Verteidigung.

Gesine hat D. E.s Namen zum ersten Mal in Wendisch Burg gehört, 1953. Er hatte die selbe Schule besucht, von der Klaus Niebuhr und die Babendererde in jenem Frühjahr vorzeitig abgingen, und er sollte von seinem Physikstudium in Ostberlin ausgeschlossen werden, nachdem er in einer Fakultätsversammlung den Fall Babendererde als ein Beispiel für Verfassungsbruch in der Deutschen Demokratischen Republik (durch die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik) dargestellt hatte. Da noch nicht, aber nach dem Juniaufstand verließ er das Land. Er wird sich entschieden haben mit einer solchen Liste von positiven und negativen Faktoren, wie er sie heute anlegt, wenn er sich zwischen Autos oder Häusern oder politischen Meinungen nicht entscheiden kann. Damals hatte auf der einen Seite Wendisch Burg gestanden, der Sozialismus in der ostdeutschen Manier und eine verschleppte Liebschaft mit Eva Mau; auf der anderen Seite seiner Rechnung war herausgekommen: Die Aussichten für meine Ausbildung sind hier nicht günstig. So hatte er sich nicht selbst entschließen müssen.

Gesine hatte ihn im Flüchtlingslager Marienfelde in Westberlin zum ersten Mal gesehen, einen hageren, steilköpfigen Jungen mit damals blondem Haar, der sich in einer zerstreuten Art um sie bemühte, indem er sie nach Jerichow ausfragte und ihr politische Theorie mit viel physikalischem Vokabular vortrug. Mühelos wußten sie sich nur über den Fall Babendererde zu unterhalten. Er machte sich nicht die Mühe, sich in die selbe Stadt wie sie weisen zu lassen. Sie traf ihn nur zwei Tage, bevor er nach Westdeutschland ausgeflogen wurde. Vor der Aufnahmekommission sollte er gesagt haben: Ich habe mich für das kleinere Übel entschieden. Sie ließen ihn dafür nach Stuttgart, er schrieb seine Doktorarbeit in Hannover, von Westdeutschland ging er nach England, in die U. S. A. gekauft wurde er 1960. Er schickte zwar Ansichtspostkarten, manchmal Briefe, in denen vornehmlich von den Taten und Erlebnissen Eva Maus die Rede war, und aus Stuttgart schrieb die junge Frau Niebuhr Berichte über D. E.s rasche Liebschaften in einem bewundernden, fast ergebenen Ton. Die Babendererde spricht von D. E. noch heute wie von einem älteren Verwandten, als hätte sie ihm etwas zu verdanken. Gesine war elf Monate in New York, ehe er sie fand, beim Blättern im Telefonbuch, und sie zum ersten Abendessen einlud, ein massiger, maulfauler, fast feierlicher Patron, und ihr die Ehe antrug, nachdem er Marie kennengelernt hatte.

D. E. arbeitet für eine Firma in einem Industrial Park, New Jersey, die an der DEW LINE beteiligt ist. D E W sind die Anfangsbuchstaben von Distant Early Warning, einer Linie aus Radarstationen rund um die Territorien des nordatlantischen Vertrages, die sowjetische Raketen so rechtzeitig anzeigen sollen, daß noch Zeit ist für einen amerikanischen Gegenschlag. Er wird den Militärs mehr versprochen haben als eine Entschiedenheit für das geringere Übel, ehe sie ihn an diese Arbeit ließen und ihre Geheimnisse bei ihm sicher glaubten. Er arbeitet kaum noch in der Wissenschaft, er ist ein Techniker. Er verdient inzwischen fünfundzwanzigtausend Dollar im Jahr, und ein Teil seiner Arbeit sind nun Inspektionsreisen nach England, Italien, Frankreich, Dänemark, Norwegen, und ein Vertreter der Gesandtschaft wartet an der Paßkontrolle. Nach D. E.s Darstellung sitzt sein Kollege bei den Sowjets eingesperrt in einem Militärflughafen und treibt Schwarzhandel mit Fachliteratur. Seine Firma kann sich verlassen auf die Regierungsaufträge für die verbesserten Systeme der siebziger Jahre, und D. E. kann sich verlassen auf das Vertrauen, das die Firma in seine Fähigkeiten setzt. D. E. läßt sich daran gelegen sein, diese Fähigkeiten durch die regelmäßige Einnahme von Alkohol herabzumindern.

Das Haus, das D. E. uns anbietet, sitzt an einem breiten Bach in einer waldigen Gegend von New Jersey. Es ist ein altes Kolonistenhaus aus Holz, mit weißen Klinkerschindeln, blauschiefrigem Dach. Es gehört ihm jetzt fast zur Hälfte. Das Haus wird besorgt von D. E.s Mutter, einer knochigen, schüchternen, arbeitsseligen Dame, die ihr Englisch von ihren Dienstmädchen gelernt hat. D. E. war einer von den wenigen, die ihre Leute aus Ostdeutschland zu holen wußten, bevor die offene Grenze in Berlin gesperrt wurde. Der Ort besteht aus wenigen, verstreut liegenden Wohnhäusern, und ihr Bild von den U. S. A. hat D. E.s Mutter sich aus einer Ähnlichkeit der Landschaft bei Wendisch Burg gemacht, und bei weitem von den Fernsehprogrammen. Sie ist so stolz auf ihren Sohn, sie will begraben werden, wo er zu Erfolg kam. Zu Gesine beträgt sie sich vorsichtig, fast förmlich, als müsse sie Ängste ausräumen. Sie seufzt über D. E., wenn er sich abends in sein Schreibzimmer begibt mit dem französischen Rotwein, den er kastenweise von einem Importeur bezieht, aber sie schweigt, und sie stellt ihm jeden Morgen zwei Flaschen bereit. D. E. sitzt an seinem stählernen Trumm von einem Schreibtisch, eine gewichtige, betrübte Figur in der Nacht, und telefoniert mit der Insel Manhattan. Er sagt: Dear Miss Mary, quite contrary, besuch mich doch, das Wochenende ist so lang. Ich mache dir im Garten eine Braterei, ich fahre dich an die See. Er sagt: Wenn sie nicht will, laß mich euch besuchen.

Du willst nur nicht allein sein, wenn du stirbst.

Bei mir wäre aber das Kind versorgt.

Leider hat D. E. das Kind herumgekriegt. Marie lacht über seine Grimassen, besonders die der verletzten Würde, über seine Vorführung von nölendem Mecklenburgisch, in der er ihr zuliebe jeden zweiten Satz mit einem quietschenden »Nich?« abschließt, über seine Übungen im Dialekt der Südstaaten oder Neu-Englands, und sie beneidet ihn um sein Englisch, denn D. E. ist in Sprachen ein Papagei. Marie glaubt seine Geschichten voll rascher Kehrtwendungen, von jener Dame, die einen Polizisten vor der St. Patrick-Kathedrale mit ihrem Schuh über den Kopf schlug, von seinen Katzen, die zählen können, von Vizedirektoren seiner Firma, die auf dem siebenten Stockwerk Krieg gegen einander führen. Marie entwirft Kodes, seit er ihr Verschlüsselungssysteme beigebracht hat. Marie bewundert sein Benehmen in Restaurants, und daß er Geld hat für Restaurants im 51. Stock. Marie schiebt ihre Tür nachts einen Spalt auf, wenn D. E. am Tisch sitzt bei seinen Flaschen und redet, über Laser, über die staatliche Entwicklungsgeschichte Mecklenburgs, über Toms Bar. Marie hält die beiden Gästezimmer oben in D. E.s Haus für ihr eingetragenes, unabänderliches Eigentum. Sogar diesen Namen hat D. E. von ihr, weil sie den geringen Schluckauf zwischen »Di« und »I« genießt. Ihm nimmt sie das Trinken nicht übel (er liegt nicht auf den Stufen vor den Notausgängen des Kinos in der 97. Straße, zerlumpt, verschuppt in Schmutz und Bart, heiser schnarchend, die Hand noch an der Flasche in brauner Tüte, er ist kein Broadwaybettler, er ist ein Professor). Einmal hatte D. E. seinen Besuch angesagt, und Marie ging ans Telefon und bestellte einen Vorrat Rotwein und Zigaretten Gauloise und bezahlte mit Haushaltsgeld. Aber D. E. kommt mit Tüten unter beiden Armen, unter der Achsel hat er Blumen, zwischen den Fingern klemmt er Schokolade, und schon vom Flur her ist seine dröhnende frotzelnde Stimme im Gespräch mit Mr. Robinson zu hören, und Mr. Robinson bleibt in der offenen Fahrstuhltür stehen und sieht zu, wie D. E. die Cresspahlsche Wohnung betritt, den Kopf schnuppernd erhoben, ehrfürchtig ausrufend: Die gu-te mecklenbur-gische Küche! Und Marie lacht.

2. September, 1967 Sonnabend


In der Nacht, bis in den frühen Morgen, krochen die Autos dicht an dicht am Fluß in das lange Wochenende und schickten kurze Wellen dumpfen Lärms in die offenen Fenster am Riverside Drive. D. E. war nicht abzubringen von einem Vergleich mit näherkommendem Artilleriefeuer. Jetzt haben die Ausflügler Stille hinterlassen, und bis zu 660 von ihnen, wird vorhergesagt, werden am Abend des Tages der Arbeit in Verkehrsunfällen gestorben sein.

Der Morgen ist kühl, hell,...

Erscheint lt. Verlag 20.10.2014
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1968 • 20. Jahrhundert • Chronik • cresspahl • DDR • Deutschland • Familie • Geschichte • Gesellschaft • Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln 1983 • Jahrestage • Nationalsozialismus • New York • Ostdeutschland DDR • Panorama • Roman • Sowjetische Besatzungszone • ST 4455 • ST4455 • Studentenproteste • suhrkamp taschenbuch 4455 • Thomas-Mann-Preis der Hansestadt Lübeck 1978 • Uwe Johnson • Vietnamkrieg • Weimarer Republik • Wilhelm-Raabe-Preis der Stadt Braunschweig 1975
ISBN-10 3-518-73599-3 / 3518735993
ISBN-13 978-3-518-73599-2 / 9783518735992
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