Abriss der Kritik (eBook)

Frankfurter Poetikvorlesungen
eBook Download: EPUB
2014 | 1. Auflage
112 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403249-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Abriss der Kritik -  Wolfgang Hilbig
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Die Geburt der Moderne aus dem Geist der Kritik - das ist eines der zentralen Themen der Poetikvorlesungen, die Wolfgang Hilbig im Sommersemester 1995 an der Frankfurter Universität hielt. Es geht ihm nicht allein um die Literaturkritik, die ihn als Schriftsteller natürlich besonders berührt, sondern um die Kritik als Motor der Aufklärung und unserer Kultur schlechthin. Doch Hilbig nimmt die Kritik deshalb keineswegs von der Kritik aus: »Die Aufklärung begann mit der Kritik an der Religion, und das Bewegungselement dieses Zeitabschnitts griff nach und nach auf alle anderen Bereiche über und unterwanderte sie; dies dauerte so lange, bis die Kritik schließlich selbst zu einer Art Religion wurde. Um das ganze metaphorisch zu fassen: dem positiven weißen Gott der Religion wurde die schwarze Gottheit der Negation entgegengesetzt.« Hilbigs Vorlesungen machen den Leser zum Zeugen einer konsequenten Selbstreflexion: Der Autor fragt mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit und Radikalität nach dem Sinn und Ziel der Literatur der Moderne. Er schreckt dabei weder vor Zweifeln am eigenen Schreiben noch vor klaren Urteilen über die Rolle der zeitgenössischen Literaturkritik zurück.

Wolfgang Hilbig, geboren 1941 in Meuselwitz bei Leipzig, gestorben 2007 in Berlin, übersiedelte 1985 aus der DDR in die Bundesrepublik. Er erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen, darunter den Georg-Büchner-Preis, den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Bremer Literaturpreis, den Berliner Literaturpreis, den Literaturpreis des Landes Brandenburg, den Lessing-Preis, den Fontane-Preis, den Stadtschreiberpreis von Frankfurt-Bergen-Enkheim, den Peter-Huchel-Preis und den Erwin-Strittmatter-Preis. Im S. Fischer Verlag erscheint die siebenbändige Ausgabe seiner Werke, »eine der wichtigsten Werkausgaben der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur« (Uwe Schütte, Wiener Zeitung). Wolfgang Hilbig WERKE Band I GEDICHTE Band II ERZÄHLUNGEN UND KURZPROSA Band III DIE WEIBER - ALTE ABDECKEREI - DIE KUNDE VON DEN BÄUMEN (Erzählungen) Band IV EINE ÜBERTRAGUNG (Roman) Band V »ICH« (Roman) Band VI DAS PROVISORIUM (Roman) Band VII ESSAYS, REDEN, INTERVIEWS Literaturpreise: 1983 Brüder-Grimm-Preis 1985 Förderpreis der Akademie der Künste, Berlin 1987 Kranichsteiner Literaturpreis 1989 Ingeborg-Bachmann-Preis 1992 Berliner Literaturpreis 1993 Brandenburgischer Literaturpreis 1994 Bremer Literaturpreis 1996 Literaturpreis der Deutschen Schillerstiftung, Dresden 1997 Lessingpreis des Freistaates Sachsen 1997 Fontane-Preis der Berliner Akademie der Künste 1997 Hans-Erich-Nossack-Preis (Kulturkreis d. dt. Wirtschaft) 2001 Stadtschreiberpreis von Frankfurt-Bergen-Enkheim 2002 Peter-Huchel-Preis für deutschsprachige Lyrik 2002 Georg-Büchner-Preis 2002 Walter-Bauer-Literaturpreis der Stadt Merseburg 2007 Erwin-Strittmatter-Preis des Landes Brandenburg

Wolfgang Hilbig, geboren 1941 in Meuselwitz bei Leipzig, gestorben 2007 in Berlin, übersiedelte 1985 aus der DDR in die Bundesrepublik. Er erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen, darunter den Georg-Büchner-Preis, den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Bremer Literaturpreis, den Berliner Literaturpreis, den Literaturpreis des Landes Brandenburg, den Lessing-Preis, den Fontane-Preis, den Stadtschreiberpreis von Frankfurt-Bergen-Enkheim, den Peter-Huchel-Preis und den Erwin-Strittmatter-Preis. Im S. Fischer Verlag erscheint die siebenbändige Ausgabe seiner Werke, »eine der wichtigsten Werkausgaben der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur« (Uwe Schütte, Wiener Zeitung). Wolfgang Hilbig WERKE Band I GEDICHTE Band II ERZÄHLUNGEN UND KURZPROSA Band III DIE WEIBER – ALTE ABDECKEREI – DIE KUNDE VON DEN BÄUMEN (Erzählungen) Band IV EINE ÜBERTRAGUNG (Roman) Band V »ICH« (Roman) Band VI DAS PROVISORIUM (Roman) Band VII ESSAYS, REDEN, INTERVIEWS Literaturpreise: 1983 Brüder-Grimm-Preis 1985 Förderpreis der Akademie der Künste, Berlin 1987 Kranichsteiner Literaturpreis 1989 Ingeborg-Bachmann-Preis 1992 Berliner Literaturpreis 1993 Brandenburgischer Literaturpreis 1994 Bremer Literaturpreis 1996 Literaturpreis der Deutschen Schillerstiftung, Dresden 1997 Lessingpreis des Freistaates Sachsen 1997 Fontane-Preis der Berliner Akademie der Künste 1997 Hans-Erich-Nossack-Preis (Kulturkreis d. dt. Wirtschaft) 2001 Stadtschreiberpreis von Frankfurt-Bergen-Enkheim 2002 Peter-Huchel-Preis für deutschsprachige Lyrik 2002 Georg-Büchner-Preis 2002 Walter-Bauer-Literaturpreis der Stadt Merseburg 2007 Erwin-Strittmatter-Preis des Landes Brandenburg

2. Vorlesung


Wenn Sie den ersten Teil meiner Vorlesungen gehört haben, halten Sie es vielleicht nicht für nötig, daß ich schon den zweiten mit einer Art Zwischenmeldung beginne. In meinem Kopf spuken die Stimmen der Kritik und die divergierendsten Aussagen aus dem Chaos der Theorien, die das Feld in den letzten Jahren zu beherrschen versucht haben. Wahrheiten, so muß ich sagen, finde ich in allen diesen Aussonderungen, ich finde sie mehr oder weniger schlecht geschrieben und in vielen Fällen wahrscheinlich noch schlechter übersetzt: Übersetzer sind mangelhaft bezahlte Leute, und modische Wahrheiten lassen sich nur innerhalb kürzester Zeiträume verkaufen. Und es sind jede Menge Wahrheiten darunter, die eigentlich einander ausschließen müßten, nichtsdestoweniger stellen sie in ihrem jeweiligen Theorie-Gefängnis Wahrheiten dar. Besonders aber hallen mir diejenigen Sätze nach, die uns, die Literaten oder die Kritiker, oder die Literaten und die Kritiker, als eine bemitleidenswerte Reihe von Untoten hinstellen, und das Übelste an uns sei, wir hätten noch gar nicht gemerkt, daß wir längst krepiert sind. Lassen wir das dahingestellt sein. Utopisten und Dystopisten haben die Eigenart, Realitäten zu behaupten, die noch nicht eingetreten sind, es liegt dies an ihrem Willen zur Macht. Und ich glaube etwas von dem zu wissen, was ich sage, denn ich habe fast vierzig Jahre in einem Staat übernachtet, in welchem zunehmender Realitätsverlust das Gesetz des Handelns war. Ich habe also, ich sagte es schon, die Stimmen der Kritik im Ohr und komme deshalb zu der Feststellung: die Kritik existiert noch. Ich kann sogar präzisieren und sagen, die Literaturkritik, als ein Teil der Kritik, existiert weiterhin, wie sie auch immer beschaffen sein mag. Und da die Literaturkritik, scheinbar ohne Not, noch jede Menge Stoff zum Kritisieren findet, komme ich zu der beruhigenden Feststellung: auch die Literatur erfreut sich noch ihres Daseins. Wer sich dazu berechtigt fühlt, mag die Verfassung dieser Existenz – im Fall der Kritik oder der Literatur, oder in beiden Fällen – eine verdeckte Agonie nennen. Ich fühle mich außerstande, Ihnen den definitiven Zeitpunkt ihres Ablebens zu nennen, und deshalb halte ich alle theoretischen Euthanasie-Versuche auf diesem Gebiet für unverschämt und überflüssig.

Damit habe ich mir erst einmal – reichlich spät wahrscheinlich – einen Ausgangspunkt geschaffen, von dem aus ich über das Verhältnis der beiden Partner weiterreden kann. Aber es stellt sich mir eine Frage, von der ich nicht weiß, ob ich sie im Verlauf meiner Ausführungen beantworten kann: Ist dieses Verhältnis, von dem ich hier spreche, nicht nur eine Fiktion? Das Urteil der Kritik bezieht sich, wenn wir vom allgemeinsten Verständnis der Literatur ausgehen, auf etwas Erdichtetes, auf etwas Ausgedachtes: wenn die Kritik also literarische Texte unter diesem Gesichtspunkt betrachtet und kritisiert, müßte dann ihr Bestreben nicht darin liegen, den fiktiven Charakter der Literatur zu stärken? Wenn es stimmt, daß der Charakter dessen, worüber Kritik und Literatur ihren Disput führen, fiktiv ist, warum ist dann nicht auch dieser Disput eine Fiktion? Wenn ich die Fragen so stelle, dann suche ich wahrscheinlich nach einer gemeinsamen Ebene, auf der sich die Auseinandersetzung zwischen Kritik und Literatur abspielt. Aber natürlich hält sich die Kritik nicht im mindesten für den Bestandteil einer Fiktion, die Kritik vertritt in diesem Zusammenhang die Seite der Realität. Demzufolge glaubt sie über das Wesen einer eventuellen Botschaft urteilen zu müssen, die sich aus dem Bereich der Fiktion an die Wirklichkeit richtet. Wir könnten also sagen, das Interesse der Kritik an einem literarischen Werk entsteht dadurch, daß sie in diesem Werk Vergleichbares oder zumindest Berührungspunkte entdeckt, die einer ihr bekannten Wirklichkeit mehr oder weniger entsprechen. Ihr Urteil entsteht aus der Antwort auf die Frage, ob sie die literarische Fiktion in der Wirklichkeit für möglich hält oder nicht. Ganz gleich, wie ihre Antwort ausfallen mag, man könnte sie letztlich als einen Anpassungsversuch bezeichnen, der sich gegen die Geschlossenheit der Fiktion richtet. Noch deutlicher wird dies, wenn anstelle einer bekannten Wirklichkeit eine der Kritik schon bekannte Fiktion – also ein anderes literarisches Werk – als Folie für den Vergleich dient, wie dies in den allermeisten Fällen für die Literaturkritik zutrifft. Immer wieder wird sich die Kritik am schon Bestehenden orientieren und damit notgedrungen in Widerspruch geraten zum Autor der Fiktion. Daß sich dieser Widerspruch nicht auflösen läßt, ist geradezu die Voraussetzung für ein funktionierendes Verhältnis von Kritik und Literatur. Im Moment scheint es allerdings so, als ob dieses Spannungsverhältnis zu erschlaffen beginnt, und zwar zum Schaden der Kritik wie auch der Literatur. Ich hoffe, daß ich bei Gelegenheit noch einmal auf dieses Thema zurückkommen kann.

Ich habe an dieser Stelle schon mehrfach von einer Partnerschaft gesprochen, und ich meine es mit diesem Wort tatsächlich ernst. Es ist eine Binsenweisheit, daß auch zwei geschworene Gegner zumindest in einem Punkt Partner sind: es geht ihnen darum, ihren Konflikt aufrechtzuerhalten, denn offenbar erscheint ihnen derselbe produktiv. Im ersten Teil meines Vortrags habe ich mehrfach aus einem Aufsatz zitiert, der zu dem Schluß kommt, daß diese Partnerschaft aufgekündigt ist. Warum fällt es mir so schwer, eine solche Quintessenz zu akzeptieren? Hat es nicht etwas Tröstliches, sich um Besprechungen nicht kümmern zu müssen? Dies hätte es vielleicht, wenn allein der Autor Adressat einer Kritik wäre, aber Rezensionen wenden sich natürlich in der Hauptsache an die Konsumenten der Literatur. Außerdem habe ich ganz andere Erfahrungen mit Kritik, denn ich habe in einem anderen Land begonnen zu schreiben, dort wirkte die Kritik anders: sie richtete sich letzten Endes nur an die Autoren, und ihre Praxis war untergründiger.

Dies aber hat sich verändert: seit einiger Zeit bin ich zu der altmodischen Haltung zurückgekehrt, die Literaturkritik sei eine der wenigen wahrnehmbaren Reaktionen auf das, was ich schreibe. Zudem versucht die Kritik Einfluß auf meine Leser zu nehmen, immerhin bietet sich ein solcher Gedanke an, was ein Grund mehr ist, sich mit ihr zu beschäftigen. Dabei ist es für mich eine zweit-, wenn nicht drittrangige Frage, ob der Kritiker, der meinen Lesern seine Ansichten über meine Texte mitteilt, eine unabhängige Figur ist oder von einer Institution oder der Industrie bezahlt wird. Ich kann mir in keiner Institution oder Industrie ein Interesse daran vorstellen, daß meine Bücher nicht gekauft werden, es sei denn, jene befänden sich zufällig in Konkurrenzstellung zu dem Medienkonzern, dem mein Verlag angeschlossen ist. Wären die Verkaufszahlen meiner Bücher so beschaffen, daß ihr Verlust meinen Verlag schädigen könnte, so wäre es für ein angenommenes Konkurrenzunternehmen doch effektiver, wenn es versuchte, diese Bücher für sich zu gewinnen, anstatt sie kritisieren zu lassen.

Enzensbergers Aufsatz Rezensenten-Dämmerung, den ich hier meine, stammt aus einer Zeit, in der ich sehr wohl noch daran interessiert war zu erfahren, welcher politischen Fraktion der eine oder der andere Kritiker nahestehen mochte … in dem knappen Jahrzehnt, das seitdem vergangen ist, ist mein Interesse daran beinah erloschen. In den letzten Jahren war in mir die Hoffnung aufgekeimt, die Literaturkritik könne lernfähig sein und beginnen, von ihren eingefahrenen Ideologismen abzusehen. Es war deprimierend, erkennen zu müssen, wie starr sie daran festzuhalten gedachte. Im literarischen Feuilleton, von dem man es gewohnt ist, mahnend darauf hingewiesen zu werden, daß es noch immer kein größeres Werk gäbe, das ernsthaft auf die sogenannte Wende reagiert, in demselben Feuilleton herrscht unverfroren das Vokabular des kalten Krieges, ideologische Standpunkte und Standpauken werden verteilt wie eh und je, die Hauptkampfmittel des literarischen Parteienstreits, Observation und Denunziation, haben sich sogar, seitdem sie nicht mehr mit wirklichen Konsequenzen verbunden scheinen, potenziert. Und da soll die Literatur ein fröhliches Befreiungsfest feiern?

Enzensbergers Aufsatz geht von einer Situation aus, die noch gar nicht eingetreten ist und die, wer weiß, in dieser Form vielleicht auch gar nicht eintreten wird. Er ist eine Analyse, die ihren Gegenstand, so genau er auch gesehen wird, viel zu allgemein faßt: ich bin aber das Ergebnis einer viel zu reaktionären Gesellschaftsordnung, als daß ich mich damit zufriedengeben könnte, daß der Einfluß der Kritik gleich Null sein soll. Mit dieser Gesellschaftsordnung meine ich nicht nur das sogenannte sozialistische System, sondern die Ordnung, die der kalte Krieg hergestellt hatte. In dieser Konstellation war Kritik entweder lebensgefährlich oder ihr Einfluß wurde künstlich unterbunden.

Ich will zuerst einige Augenblicke persönlich werden und von den Zuständen sprechen, in die ich durch Kritik versetzt werde: ich bin gegen Kritik keineswegs unempfindlich, das Gegenteil ist der Fall. Wenn ich mich bislang nie über Kritik geäußert habe, wenn ich ihr nie in irgendeiner Weise geantwortet habe, wie man dies aus der Literaturgeschichte kennt, so nicht, weil ich sozusagen über den Dingen gestanden hätte, sondern weil ich es nicht gewagt habe. Das Begriffsgefüge der Kritik hat für mich etwas Unheimliches, es bleibt mir aus jeder Kritik ein unabweisbarer Rest zurück, und dieser scheint auf die Grundsubstanz meines Schreibens zu zielen. Selbst wenn ich alle Argumente einer kritischen Rezension widerlegen könnte, es bleibt von dem Angriff eine Verletzung zurück, mit der...

Erscheint lt. Verlag 25.9.2014
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abriss • Adjektiv • Bankrott • Bewußtseinsindustrie • DDR • Deutschland • Elias Canetti • Essay • Festnahme • Fiktion • Frankfurt am Main • Gewimmer • Glasperlenspiel • Hermann Hesse • Jurek Becker • Karl Kraus • Konflikt • Konkurrenzkampf • Korruption • Krise • Larmoyanz • Literaturkritik • Nachkriegsliteratur • Octavio Paz • Pendeln • Poetikvorlesung • Samuel Beckett • Selbstzensur • sommersemester • Übernahme • Unangreifbarkeit • Unsterblichkeit • Utopie • Verfassen • Verzeichnis • Vorlesung • Zwischenmeldung
ISBN-10 3-10-403249-1 / 3104032491
ISBN-13 978-3-10-403249-8 / 9783104032498
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