Moskauer Tagebücher (eBook)

Wer wir sind und wer wir waren

(Autor)

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2014 | 2. Auflage
266 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73699-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Moskauer Tagebücher -  Christa Wolf
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Zehnmal besucht Christa Wolf die Sowjetunion, zum ersten Mal 1957 als junge Frau, zuletzt im Oktober 1989. Sie fährt mit Max Frisch auf der Wolga nach Gorki, trifft in Gagra am Schwarzen Meer eine schlagfertige Moskauer Rechtsanwältin und steht in Komarowo am Grab Anna Achmatowas. Vor allem aber ist sie eine scharfe Beobachterin der sozialen und politischen Verhältnisse, die die Freundschaft verfolgter Dissidenten wie Lew Kopelew gewinnt. In den Tagebuchnotizen entsteht ein facettenreiches Bild des Riesenreichs im Wandel, bis hin zu den Tagen des dramatischen Endes, und gleichzeitig erleben wir Christa Wolf im persönlichen Dialog mit sich selbst und den russischen Freunden. Ergänzt werden ihre Aufzeichnungen durch Begleittexte ihres Mannes Gerhard Wolf sowie durch Briefe, zeitgenössische Fotos und Dokumente.

<p>Christa Wolf, geboren 1929 in Landsberg/Warthe (Gorz&oacute;w Wielkopolski), lebte in Berlin und Woserin, Mecklenburg-Vorpommern. Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen, darunter dem Georg-B&uuml;chner-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Uwe-Johnson-Preis, ausgezeichnet. Sie verstarb am 1. Dezember 2011 in Berlin.</p>

ZWEITE REISE 1959


In Moskau und Kiew zum III. Schriftstellerkongreß der UdSSR, 17. bis 29. Mai 1959


17.??5.??59

Moskau, nun doch; nachdem die Vorfreude schon wieder vergangen war. Im Flugzeug stellt Strittmatter Betrachtungen über die Relativität von Raum und Zeit an: Wenn man vom Fenster aus auf den Flügel des Flugzeugs schaut, scheint sich, je weiter der Blick zur Spitze wandert, das Flugzeug umso langsamer zu bewegen. Vorausgesetzt, daß man mit einem Auge noch ein Stück Land als Richtpunkt erhascht. Blickt man genau auf den Flügel direkt am Rumpf und liegt die Maschine sehr ruhig, hat man überhaupt nicht das Gefühl der Bewegung. Während wir schon jenseits der Oder sind, fährt das Auto, das uns zum Flugplatz brachte, noch nach Berlin rein. Wir reden über Einstein, über die Möglichkeit von »Marsmenschen«, die in letzter Zeit durch die Forschungen sowjetischer Wissenschaftler wieder in größere Nähe gerückt sind. Behaupte noch einer, die beiden Marsmonde (von dem Durchmesser!) seien künstliche Monde, vor Zeiten von vernunftbegabten Wesen hochgeschossen. Die darunterliegende Kultur ist längst vergangen – eine Vorstellung, die mich etwas deprimiert. Auch der große Komet, der 1908 in Sibirien niederging, soll ein Venusschiff gewesen sein!

2400 m. hoch, Felder wie verschwimmende Wasserflecken. Schönes, leicht dunstiges Wetter bis Wilna. Wie immer reichhaltiges Mittagessen. Die Landung, wenn auch von kleinen Luftböen durchsetzt, hatte mir kaum zu schaffen gemacht. Auf der Toilette funktioniert die Spülung nicht – wie vor zwei Jahren; und rote Seife liegt da, wie damals. Tischgespräch: Aus einem ND-Artikel zu schließen, gleichen die sowjetischen Schriftstellerprobleme den unseren aufs Haar. Ich werfe ein: Hoffentlich auf einem etwas höheren Niveau! Gotsche und Strittmatter bestreiten. Gotsche erläutert Prinzipien unserer Literaturpolitik: Unsere Leute mehr propagieren, über die Abseitsstehenden den Mantel des Schweigens breiten und sie die Vergänglichkeit des Ruhms fühlen lassen.

6?Christa Wolf, Erwin Strittmatter, Anna Seghers und Otto Gotsche

Wilna – Moskau. Wolkenfelder, phantastische Figuren. Die Wolkentürme und -banken sind nach oben, gegen den unwahrscheinlich blauen Himmel, scharf abgegrenzt, nach unten zu verfließen ihre Ränder. Teilweise hinten – blaue Regen- und Gewitterbänke. Der Propeller, das hatte ich gar nicht mehr so genau in Erinnerung, wird bei schneller Umdrehung unsichtbar bis auf einen flimmernden, gelb-weißen durchsichtigen Kreis, den die Propellerspitzen ziehen. 3000 Meter Höhe.

In Moskau hat es geregnet. Mengen von Flugzeugen, auch TU's, auf dem Flugplatz. Steshenski und Sobko empfangen uns, sehr nett. Champagner. Auf dem Weg nach Moskau überholt das Auto 300 Amateurmarathonläufer, die zur Spartakiade üben. Und dann der riesenbreite neue Häuserring. Noch unfertig, doch so schnell es geht, bewohnt. Neue breite Hauptstraße, führt über eine doppelstöckige Brücke (darunter U-Bahn).

Mein Status ist natürlich weitgehend unklar: Stesh. bringt mich zur deutschen Botschaft, wo mir ein Sonntagsdiensthabender zwar Geld auszahlen, aber kein Zimmer geben kann. Zurück. Es klappt doch noch im »??????« [»Moskwa« – Hotel »Moskau«], Riesengebäude, sehr gut.

Tischgespräch mit Anna Seghers (die mich sehr herzlich begrüßt), Karlludwig Opitz, Str. [Strittmatter], Go. [Gotsche], Stesh. [Steshenski]. Seghers animiert Gotsche zum Geschichtenerzählen; Go. erzählt aus der illegalen Arbeit. Man spricht über Techniken beim Schreiben: ob mit Tonband oder nicht? Anna sagt, sie würde sich genieren, mit Mikrophon zu Leuten zu gehen, um ihre Aussagen festzuhalten. (Ich auch.)

Steshenski-Witz: Während der Taschkenter Konferenz läutet ihn nachts der Flugplatz aus dem Bett: Drei Neger sind angekommen, sie haben kein Geld und müssen untergebracht werden. Ein Zweibett-, ein Einbettzimmer im Hotel; alle drei sind in bunte Tücher eingewickelt und werden auf die Zimmer verteilt. Am nächsten Morgen stellt sich heraus, daß der eine Bewohner des Zweibettzimmers eine Frau ist. Steshenski schließt: »Nun gutt. Aber kamen keine Beschwerden. Und das ist Hauptsache!«

Nr. 2: Ein Mütterchen kommt zum ersten Mal nach Moskau und sieht den Wald von Fernsehkreuzen auf den Häusern; »Boshe moi!« [»Mein Gott!«] ruft sie aus, »seit wann begräbt man denn die Leute auf den Dächern?«

Noch gut eine Stunde Gorkistaße auf- und abgelaufen, bis GUM und Roten Platz. Schön. Sonntag abend, und Menschen über Menschen. Eine Spur besser angezogen schon als vor zwei Jahren. Auch die Auslagen besser. Vorhängeschloß vor jedem Laden. Keine Hunde, fällt Opitz auf. Kein Platz in den Wohnungen dafür. Go. erzählt von früheren Besuchen, teilweise aus den zwanziger Jahren.

Eben Glockenspiel des Kreml aus dem Radio. Mitternacht.

In einem Reclamheftchen aus Gorkis Aufsätzen herausgelesen: »Die Liebe ist die Grundlage der Kultur, der Hunger die der Zivilisation.«

?????????? [Kanzeljarija]: Kanzlei: Hund vor der Tür.

Spencer: »Aus bleiernen Instinkten läßt sich kein goldenes Verhalten machen.«

Gorki polemisiert dagegen.

In der Hotelhalle treffen wir Noneschwili. Ich traue mich nicht, russisch zu sprechen. Aber er schenkt mir einen großen Schokoladentaler.

 

28.??5.

Vorabend vor der Abreise. So lange habe ich also – meinen Vorsätzen ganz zuwiderhandelnd – keine Zeile geschrieben. Wir waren zu gehetzt. Auch jetzt muß ich einen ziemlichen inneren Widerstand erst überwinden.

Zuerst schien es, die Reise würde sehr nüchtern und nutzlos verlaufen. Der Kongreß – Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag vormittag, Sonnabend vormittag – war eine einzige, ziemlich ungemilderte Qual. Surkows Referat langweilig, breiig, formalistisch – und so auch die Diskussionsbeiträge. Richtige, unterstreichenswerte Erklärungen, Rechenschaftsberichte, aber kein entscheidender Vorstoß in die nötige Richtung. Interessant: Von 468 Delegierten (5600 Schriftsteller insgesamt) nur 38, die nach 1946 angefangen haben zu schreiben. Große Überalterung. Und – ich kann es mir nur als Überbleibsel aus vergangenen Zeiten erklären – kein Mut zu eigener Meinung. Mit Ausnahmen: Rjurikow, Smirnow, neuer Chefredakteur der »Lit. Gasjeta« [Literaturzeitung], sprach als einziger ohne vorbereitetes Konzept. Die anderen plauderten aneinander vorbei. Erwin dichtet:

»Dichter, dichte dicht und dauerhaft,

Dichter, dichte ohne Sauersaft.«

Wir hatten das Gefühl: So ein Kongreß wäre heute bei uns nicht mehr möglich. Rjurikow wies darauf hin, daß die UdSSR von ?SSR und uns lernen könnte.

7?Faksimile: Tagebuch-Doppelseite

Kreml-Saal, wo der Oberste Sowjet tagt: Groß, weiß, schlicht, schön. Lenin-Statue an der Stirnseite. Sehr angenehme, tageslichtähnliche Beleuchtung. Daneben übrige Prachträume: Georgi-Saal, Wladimir-Saal usw. Mosaikfußboden, spiegelglatt, herrliche Wandgemälde und Goldschnitzereien. Anna, als ich zum ersten Mal in einem dieser Säle stand und ihn bestaunte: »Du, höre mal, in deinem ganzen Leben, sag ich dir, hast du noch nicht ein so herrliches Klosett gesehen wie hier im Kreml. Alles in Mahagoni!« So was macht sie gerne. Strittmatter nennt sie eine ausgekochte Hexe, geizig soll sie auch sein, aber ich kann mir nicht helfen: Mir gefällt sie sehr. Sie hat mir ein winzigkleines weißes Pferdchen aus Elfenbein geschenkt. Überhaupt war sie sehr nett zu mir. Einmal sagte sie, als sie gerade im GUM gewesen und von dem Riesenbetrieb dort sehr beeindruckt war: »Du, manchmal muß ich denken, der Marx hat das nicht gewußt, als er sich seine ganzen Sachen ausgedacht hat, daß es so viele Menschen auf der Welt gibt, besonders hier im Osten; so viele Blusen und Röcke zum Beispiel kann man doch gar nicht machen, wie die alle kaufen und anziehen wollen …« – »Mag er's nicht gewußt haben – was hätte das geändert?« »Hast schon recht, geändert hätte's nichts.« Sie denkt viel über unsere Zeit nach und scheint sich mit manchem sehr zu quälen. Ehe sie irgendein Bedenken anmeldet, entschuldigt sie sich hundertmal und schiebt andere vor, die es ihr eingeflüstert haben sollen. Sie hat Angst, man könnte sie als revisionistisch verschreien.

8?Christa Wolf beim Schriftstellerkongreß

 

1. Juni

Wieder zu Hause. Und wieder das mir schon bekannte Wehgefühl zu überwinden, das neben und unter der großen und schönen Wiedersehensfreude immer aufsteigt. Mit Wladimir habe ich einen Freundschaftspakt geschlossen. Er war sehr traurig in den letzten Tagen; »ganz durcheinander« sagte er, während er vor mir stand und – ich weiß nicht zum wievielten Male – mein Halstuch zusammenzog. »Ich fühle mich komischerweise so wohl in deiner Nähe«, sagte er, und ich lachte und verwies ihm das »komischerweise«. Aber mir war auch nicht immer zum Lachen, wenngleich ich nicht daran dachte, mir irgendwelche nicht vorhandenen Gefühle einzureden. Und ihm habe ich sie auszureden versucht, erfolglos. Mein Mann habe, meinte er, das große Los gezogen, als er mich geheiratet habe. Wir duzten uns seit dem Empfang im Kreml. Ich merkte bald wieder, worauf es mit ihm hinauslaufen sollte. »Du verstehst dich doch gut mit deiner Frau?« fragte ich ihn. Er schwieg. Dann: »Nicht besonders und nicht immer.« Das war der Kern der Sache, er kam später darauf zurück. Sie...

Erscheint lt. Verlag 6.10.2014
Co-Autor Tanja Walenski
Mitarbeit Stellvertretende Herausgeber: Gerhard Wolf
Nachwort Gerhard Wolf
Zusatzinfo Mit zahlreichen Abbildungen
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Berichte • Erinnerungen • Moskau • Russland • ST 4637 • ST4637 • suhrkamp taschenbuch 4637 • Tagebuch • Wolf, Christa
ISBN-10 3-518-73699-X / 351873699X
ISBN-13 978-3-518-73699-9 / 9783518736999
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