Nachrichten aus meinem Leben (eBook)
601 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-0817-0 (ISBN)
Erwin Strittmatter wurde 1912 in Spremberg als Sohn eines Bäckers und Kleinbauern geboren. Mit 17 Jahren verließ er das Realgymnasium, begann eine Bäckerlehre und arbeitete danach in verschiedenen Berufen. Von 1941 bis 1945 gehörte er der Ordnungspolizei an. Nach dem Kriegsende arbeitete er als Bäcker, Volkskorrespondent und Amtsvorsteher, später als Zeitungsredakteur in Senftenberg. Seit 1951 lebte er als freier Autor zunächst in Spremberg, später in Berlin, bis er seinen Hauptwohnsitz nach Schulzenhof bei Gransee verlegte. Dort starb er am 31. Januar 1994. Zu seinen bekanntesten Werken zählen sein Debüt 'Ochsenkutscher' (1950), der Roman 'Tinko' (1954), für den er den Nationalpreis erhielt, sowie die Trilogie 'Der Laden' (1983/1987/1992).
1955
1. Januar 55
Die Nacht ist Schnee gefallen. Die Schneeschicht ist noch dünn; man durchtritt sie. Der Himmel ist bis 2h nachmittags schneegrau-wolkig. Nach 2h tritt für eine halbe Stunde die Sonne durch. Das Sonnenlicht wird durch ganz dünne Wolken gefiltert. Der Neuschnee glitzert. Es ist nicht kalt, vielleicht 1–2°. Um drei Uhr hat sich der Himmel wieder bezogen. Zwischen 16 + 17h dunkelt es.
Wir gingen mit Evchen zum grossen und kleinen Thörn-See und freuten uns über die Stille. Zweimal flogen Wildgänse über den Wald. Einmal waren es mehr als hundert Stück. Sie flogen in der bekannten Winkelform, nur war der eine Schenkel des Winkels lückenhaft. Die Gänse hielten jedoch trotz der Lücken eine gerade Schenkellinie ein. Einmal sahen wir etwa 50 Gänse aus dem Grossen Thörnsee aufsteigen. Sie flogen zuerst dicht an dicht und wirr durcheinander. Über dem Wald aber konnten wir sehen wie sie sich zu formieren begannen. Der Abstand von Gans zu Gans wurde grösser.
13. Jan. 1955
Betriebsgruppen-Sitzung
Parteileitungswahl. Zwei Tage wird diskutiert. Rechenschaftsbericht. Kandidatenvorschläge. Es stellt sich heraus: Das Vertrauen der gesamten Belegschaft gehört solchen Leuten, die schon mehrere Funktionen haben. Andere Funktionen kann man ihnen nicht abnehmen. Wird’s also wieder so, dass die Arbeit der Leitung nur halb gemacht werden kann. Ein teuflischer Kreis! Es mangelt an »Menschen«.
15. Jan. 55
Einen Tag nicht geschrieben – einen Tag nicht gelebt.
[…]
26.VI.55
[…]
Ich sehe:
Sehr oft die Losung: »Der Marxismus ist kein Dogma …« Trotzdem gibt es gerade in unserer Kommunistischen Partei in der DDR überwiegend Dogmatiker, »Parteikatholiken«. […]
Zugegeben, in den ersten Jahren nach 1945 gab es weniger Parteibürokratismus. (Parteikatholiken waren sofort da!) Mit den Jahren aber wird immer weniger überzeugt und mit den »Massen« gesprochen, sondern kommandiert. Diese Methode kommt den »Parteiunteroffizieren« entgegen. Sie »schaffen« in Wirklichkeit nichts. Die Einschüchterung ist gar nichts (das zeigte der 16. und 17. Juni 1953). Überzeugen an Hand von ökonomischen Verbesserungen der Lebenslage des zu Überzeugenden ist alles. Ja, es gibt viele Menschen, die nehmen sogar vorübergehend ökonomische Verschlechterungen ihrer Lebenslage in Kauf, wenn man ihnen (nachhaltig) erklärt, weshalb das nicht anders sein kann. Gegen Ungereimtheiten und Zwecklügen, wie sie in der Argumentation unserer Funktionäre gang und gäbe sind, sind sie misstrauisch. Es widerstrebt ihnen, sich verdummen zu lassen! Das sollte man bei ihrer Vergangenheit als Positivum werten.
20.VII.55
Ich sehe:
Bei uns ist der Sozialismus oder der Anfang dazu eingerichtet worden. Die sowjetischen Einrichter wie die deutschen Einrichter betrügen sich ein wenig selbst. Menschlich. Die wirkliche Verfassung der Einrichtung ist wohl den wirklich führenden Genossen in der SU am 17. Juni 1953 klargeworden. […]
[Ende August 1955]
Bei Brecht besprechen:
Revolutionäre Situation in Westdeutschland usw.
Jugoslawien
Der Fall Nico Rost
Einstein als lit. Vorwurf
Bericht über Westdeutschland
31.VIII.55
Stimmungsbild
Die ersten ausgiebigen Morgennebel. Heini zwei Tage hier. Wir fahren Lehm und Sand für den Töpfer. Machen eine Belastungsprobe mit Pony Pedro. Knut richtet eine neue Taubenzucht ein.
Grummet noch nicht gemäht. Alle Tage Gurken. Pilze wachsen immer noch nicht. […]
Doll. 4.IX.55
Stimmungsbild
Gestern morgens zogen noch einmal die Kraniche über den Hof. Die jungen Schwalben hocken nur noch nachts im Nest.
Immer noch Spätsommer. Die schönen Buchen im Naturschutzgebiet am Nehmitz-See! Evchen und ich auf dem Klipper-Klapp. Die untergehende Sonne strahlt Kiefern und die Buchenlaubschirme von unten an. »Wenn man bedenkt, dass das hier immer so schön ist, ob wir vorbeifahren oder nicht«, sagt Evchen.
Füttern schon im Dunkel. Knut geht mit der Stallaterne hin und her. Duft von verbranntem Petroleum. Kindheitserinnerung. – Man freut sich schon auf die abendliche Stube
16.IX.55
[…]
Der Apfelbaum
Wir rannten zur Bahnstation. Der Zug war schon abgefahren. Da wir schweissnass waren, und da es Februar und Winter war, liefen wir an den Schienen entlang bis zur nächsten Station, um die Schweisskühle loszuwerden. Die Station war eine Bretterbude. Wir froren. Der Zug liess auf sich warten. Wir sammelten Holz am Waldrand und machten Feuer im Öfchen der Station. Eva schlief sogar in der sanften Wärme, an meine Schulter gelehnt, ein.
Das war vor fast zwei Jahren, als wir ein Landhäuschen für uns suchen gingen.
Den Apfelbaum in der Nähe der Bretterbude sah ich erst heute, obwohl ich damals sicher auch von seinen Fallzweigen für unser Öfchen genommen haben werde.
So etwas von einem Apfelbaum! Seine Krone war wie ein Berg rotbäckiger Äpfel mit grünen Blättern dazwischen. Er gehört zu den Bäumen, die ein Gesicht haben, die man nie vergisst. Jetzt werde ich immer diesen Baum haben, wenn ich dort vorüberfahre. Ich werde sehen, wie er sich zu allen Jahreszeiten benimmt.
Doll. 3.X.55
[…]
Ernte
Höchste Maisstaude 3.10m
Höchste Topinamburstd. 2.50m
und
eben kam ein Telegramm, das besagte, es sei mir für meinen Roman »Tinko« der Nationalpreis verliehen worden. […]
Doll. 16.X.55
Stimmungsbild
Herbstnässeln. Tropfen auf letzte Baumblätter im Dunkel. Der Duft des modernden Laubes auf dem Rasen. Das Pferd am Halfter. Sein warmes Schnauben und der scharfe Duft der nassen Pferdehaut. Die verbündete Pferdekraft an meiner rechten Hand, der ich mich jederzeit bedienen kann. Auf den Tierleib schwingen, davonjagen.
Auch wenn der Regen prasselte, auch wenn es stürmte, wo immer und in welchem Lande diese Dinge zusammenkämen und kommen, dort wäre und ist Heimat. Das sind die Düfte, die Geräusche und die Gefühle der Kindheit. Wo sie wieder ersteht, ist Heimat. […]
Berl. 25.X.55
Tagwerk
Nach Berlin. Wir haben uns über acht Tage nicht gesehen. Da wir intensiv erleben, zählt jetzt jeder Tag zehn frühere Tage unseres Lebens. Bis hoch in die Nacht haben wir uns Erlebnisse, Erfahrungen, Erkenntnisse mitzuteilen.
Berl. 27.X.55
Tagwerk
Besorgungen. Nachmittags Jury-Sitzung im Kulturministerium. Freundschaftliches Wiedersehen mit Peter Huchel. In Dramatik sind lauter undiskutable Arbeiten eingereicht worden. In der Epik glaube ich einen Martin Selber entdeckt zu haben.
Abends Kurt Stern bei uns. Vordergründige Gespräche, die sich meist auf den Schematismus im politischen Leben beziehen. Man lernt sich erst langsam kennen.
Doll. 30.X.55
[…]
Trotz gegenteiliger Meinung ist man mit einem Kunstwerk noch so ziemlich allein. (Eva ausgenommen; denn Eva ist ich, und ich bin Eva). Entweder es ist ein Kunstwerk oder es ist keines.
Man versuche zum Beispiel sein Werk, nachdem man es für einigermassen fertig hält, nach den vielen (oft sogar gut gemeinten), aber sich widersprechenden Ratschlägen von Freunden und Genossen zu »verbessern«, und man wird alles andere als ein Kunstwerk übrig behalten; und wenn es zuvor eines war, dann kann man danach die Trümmer zusammenlesen.
Doll. 13.XI.55
Ausgebrannt und ausgedorrt scheinen Herz und Hirn. Man musste in den letzten Tagen soviel ausgeben, soviel reden.
Daneben aber wurden Erkenntnisse gewonnen. Ich studierte Aphorismen von Tagore und Aufzeichnungen von Einstein. Beiden ist das gemeinsam, was Einstein »kosmische Religion« oder »Religiosität« nennt. Mir wird immer klarer, wie richtig und wichtig Marxismus und Leninismus sind; für einen philosophisch basierten Kopf aber sind sie allerdings Nahziel – minimales Programm. Aber wie gut tut es, wenn man weiss, dass man den richtigen Weg zum Fernziel und zur Verwirklichung des Maximalprogramms geht.
21.XI.55
Tagwerk
530 hoch. 1 Seite Novelle »Der Ball fand nicht statt«. Abschrift der ersten 50–60 Seiten vom »Wundertäter« für die NDL. Dabei noch stilistisch gefeilt und umgeschrieben. 5 Briefe geschrieben. Jauche geschöpft. Komposthaufen gerichtet. Topinambur-Knollen gehackt. Gelesen: Hamsun »Die Liebe ist hart«. Lenin »Empiriokritizismus«. Zeitungen.
Berl. 24.XI.55
Tagwerk
800 hoch. Den ganzen Tag Sitzung beim Künstler-Aktiv in der Akademie. Abends mit Dudow in seine Wohnung. Sein Drehbuch »Der Hauptmann von Köln« geholt und später den Anfang gelesen.
28.XI.55
Arbeit und Befriedigung
Bei der Arbeit an einem Kunstwerk kommt man [an] einen Punkt, an dem es einem fertig zu sein scheint. Zu diesem Zeitpunkt stellt sich Zufriedenheit mit dem Werk ein. Das ist der höchste Punkt, den man bei der jeweiligen Reife erlangen kann. Mit zunehmender Reife und Erkenntnissen verliert sich die Zufriedenheit mit dem Geschaffenen wieder, dann aber mag das Werk als Meilenstein und Wegmarke für unsere Entwicklung stehen bleiben. Ausdruck des neuen Reife- und Erkenntnisstandes möge dann ein neues Werk werden. Die Hauptsache ist, dass man...
Erscheint lt. Verlag | 13.8.2014 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Briefe / Tagebücher |
Schlagworte | 1989/90 • 20. Jahrhundert • Anthologie • Autobiografie • DDR • Deutschland • Ereignisse • Erinnerungen • Erlebnisse • Erwin Strittmatter • Geschichte • Literatur • Politik • Sammlung • Schriftsteller • Strittmatter • Tagebuch • Tagebücher |
ISBN-10 | 3-8412-0817-7 / 3841208177 |
ISBN-13 | 978-3-8412-0817-0 / 9783841208170 |
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