Sie ist 19 und erzählt davon, dass Träume wahr werden können. Michaela DePrince wächst im kriegszerrütteten Sierra Leone in einem Waisenhaus auf. Sie ist dort »Nummer 27«, wegen der Flecken auf ihrer Haut geächtet als »Teufelskind«. Als sie mit vier ein vergilbtes Magazincover mit dem Bild einer Ballerina findet, gibt es ihr Hoffnung: Sie will so werden wie diese strahlende Frau im Tutu. Dann wird sie überraschend in die USA adoptiert, wächst behütet und geliebt auf. Mit fünf erhält sie erste Ballettstunden, später Stipendien für die renommiertesten Ballettschulen der USA. Mit dem Dokumentarfilm »First Position« tanzt sie sich 2012 in die Herzen der Menschen - und zählt heute zu den Top-Nachwuchsballerinas der Welt. Mit farbigen Fotos im Innenteil.
Michaela DePrince, 1995 in Sierra Leone geboren, wurde als Kriegswaise mit 4 Jahren von einem amerikanischen Paar adoptiert. Als 5-Jährige begann sie mit Ballett, mit 13 tanzte sie erstmals auf einer Profibühne. 2010 studierte sie an der renommierten Jacqueline Kennedy Onassis School of the American Ballet Theatre. 2011 spielte sie im Dokumentarfilm 'First Position. Ballett ist ihr Leben' während des Youth America Grand Prix, einem der wichtigsten internationalen Tanzwettbewerbe, mit. Heute tanzt sie am niederländischen Staatsballett.Elaine DePrince, Michaelas Adoptivmutter und Co-Autorin, war Lehrerin und zog fünf Söhne groß, ehe sie sich entschloss, ein Kind aus Westafrika zu adoptieren. Am Ende wurden es sechs Kinder, weil der Bedarf an Hilfe so groß war, wie sie heute sagt. Sie lebt mit ihrem Mann und den fünf weiteren Adoptivtöchtern in New York City und schreibt, komponiert und betreibt ein Musiklabel.
Kapitel 5
Nummer siebenundzwanzig
Helles Sonnenlicht strömte durchs Fenster und weckte mich. »Mama … Papa …«, wisperte ich, bis die Erinnerung zurückkehrte. Meine Eltern waren tot. Mein Zuhause war fort, mein ganzes vertrautes Leben. Ich schlief in einem Saal voll fremder Kinder an einem fremden Ort. Im Waisenhaus. Vorsichtig wälzte ich mich herum und schaute das Mädchen neben mir an, das finster die Stirn runzelte. »Was hast du?«, fragte ich sie erschrocken, weil ich dachte, dass sie erst jetzt, bei Tageslicht, meine Flecken entdeckt hatte und nichts mehr mit mir zu tun haben, geschweige denn neben mir auf einer Matte schlafen wollte.
Das Mädchen rang verzweifelt die Hände und brachte keinen Ton heraus. Endlich flüsterte sie: »Es tut mir so leid. Ich hab auf die Matte gemacht.«
Ich schoss kerzengerade in die Höhe und starrte auf die Matte hinunter. Ein dunkler Fleck breitete sich darin aus. Ich biss mir auf die Zunge und dachte daran, wie nett das Mädchen mich gestern Abend aufgenommen hatte.
»Das trocknet schon wieder«, tröstete ich sie und half ihr, die Grasmatte zusammenzurollen und in den Hof hinauszutragen. Dort breiteten wir sie in der Morgensonne zum Trocknen aus.
»Schnell«, sagte das Mädchen, sobald wir damit fertig waren. »Die Tanten rufen gleich unsere Nummern zum Frühstück auf.«
»Was für Nummern?«, fragte ich.
»Das wirst du gleich sehen«, sagte sie, packte meine Hand und zog mich hinter sich her.
Draußen, im sonnenglühenden Hof, waren alle anderen Waisenkinder versammelt und warteten auf ihr Frühstück. Sie schnatterten wie eine Horde Affen in einem Mangobaum. Doch sobald sie mich entdeckten, verstummten alle und starrten mich an. Ich wusste, dass sie auf meine Flecken schauten. Beschämt senkte ich den Kopf. »Nicht auf den Boden schauen«, zischte meine neue Freundin mir zu. »Kopf hoch! Du musst immer den Kopf oben behalten.« Lächelnd nahm sie meine Hand und zog mich zu den anderen.
Zwei Frauen schleppten einen großen Kochtopf mitten in den Hof. Eine der beiden stellte sich mit einem Schöpflöffel in der Hand daneben. »Das ist Tante Sombo. Sie ist nicht böse, nur ein bisschen dumm. Und schüchtern«, raunte mir meine Bettnachbarin zu. »Aber die da – Tante Fatmata – die ist böse«, fügte sie hinzu und nickte zu der großen, knochigen Frau hinüber, die ich schon kannte und die jetzt brüllte: »Nummer eins, Kadiatu Mansarey … Nummer zwei, Isaty Bangura … Nummer drei, Sento Dumbaya …« Und so ging es weiter. Tante Fatmata rief der Reihe nach alle vierundzwanzig Mädchen und die drei Jungen auf, die im Waisenhaus lebten.
Plötzlich fiel mir ein, dass ich den Namen meiner neuen Freundin noch gar nicht wusste. Aber ich traute mich nicht, den Mund aufzumachen, solange die Nummern aufgerufen wurden. Ich brauchte ja nur zu warten, bis das Mädchen vortrat, dann würde ich es erfahren. »Nummer sechsundzwanzig, Mabinty …« Mabinty, das war ich! Aber ehe ich vortreten konnte, zupfte meine neue Freundin mich am Kleid, sodass ich mitten in der Bewegung erstarrte. Und prompt rief Tante Fatmata den Familiennamen: »Suma.« Meine Freundin trat vor, um ihre Schale Reis in Empfang zu nehmen. Wir hatten also denselben Vornamen. Endlich rief Tante Fatmata: »Nummer siebenundzwanzig, Mabinty Bangura.« Ich stürzte nach vorne, um mein Essen abzuholen, und sah sofort, dass meine Schale nicht so voll war wie die der meisten anderen Kinder. Enttäuscht schaute ich auf Mabinty Sumas Schale, die nur ein kleines bisschen voller war als meine. Auch die Schale von Nummer fünfundzwanzig, einem Mädchen namens Mariama Kargbo, war kaum voller als meine. Da begriff ich, dass ich als Nummer siebenundzwanzig keine guten Karten hatte, denn der Reis ging meistens aus, bis das letzte Mädchen an der Reihe war.
Als ich mit meiner Schale Reis in den Händen zurückkam, winkte Mabinty Suma mich zu sich herüber. »Mabinty Bangura, komm, iss mit mir«, sagte sie lächelnd. Ich strahlte, weil ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Freundin hatte. Bisher hatte ich nur manchmal mit meinen Cousinen gespielt.
Ich hockte mich neben Mabinty Suma und wir fingen an zu essen. Mabinty Suma formte ein Reisbällchen mit den Fingern ihrer linken Hand und stopfte es in den Mund. Mir stockte der Atem vor Entsetzen. Jedes Kind weiß, dass man mit der rechten Hand isst. Mit der linken wischt man sich ab, wenn man auf dem Klo war.
Mabinty Suma schaute mich an. Bevor ich die Sprache wiederfand, sagte sie schnell: »Ich bin Nummer sechsundzwanzig, weil ich Linkshänderin bin und nachts in meine Schlafmatte mache, verstehst du?« Im Flüsterton fügte sie hinzu: »Das Bettnässen ist nicht so schlimm. Die Tanten hassen mich noch viel mehr, weil ich Linkshänderin bin. Ich bin ja nicht die Einzige, die ins Bett macht. Das passiert vielen anderen hier auch, weil sie Angst davor haben, im Dunkeln aufs Klo zu gehen.«
Jetzt wurde mir alles klar. Ich war Nummer siebenundzwanzig und folglich das unbeliebteste Mädchen im ganzen Waisenhaus. Kein Wunder, dass ich die kleinste Portion Reis bekommen hatte! Ich spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg. Meine Flecken brannten wie Feuer. Wahrscheinlich glühten sie richtig, sodass jeder sie sehen konnte.
Im selben Moment entdeckte Tante Fatmata unsere Matte. »Sieh nur, Sombo, das ist doch nicht zu fassen! Nummer sechsundzwanzig hat schon wieder ins Bett gemacht. Was ist los mit dem Mädchen? Kann sie nicht aufstehen und aufs Klo gehen? Ist sie nur zu faul oder zu dumm dazu?«
Tante Sombo grinste und nickte mit dem Kopf. Ein paar von den Mädchen feixten mit, aber viele starrten verlegen auf ihre Füße. Und ich wusste auch, warum. Ich sah es ihren Gesichtern an, dass auch sie eine nasse Matte im Schlafsaal hinterlassen hatten. Wie konnte Tante Fatmata so dumm sein? Sie musste doch wissen, dass Mabinty Suma nicht die einzige Bettnässerin im Waisenhaus war. Aber schon griff Tante Fatmata nach der Weidenrute und meiner Freundin schossen die Tränen in die Augen. »Komm her, Nummer sechsundzwanzig«, kommandierte die Tante. Ohne zu zögern, trat ich vor und stellte mich zwischen Tante Fatmata und Mabinty Suma. »Nein, bitte, Tante Fatmata, du darfst sie nicht schlagen. Das ist ungerecht. Sie ist doch nicht die Einzige hier, die in ihre Schlafmatte macht.«
Die Tante warf den Kopf zurück und gluckste leise. »Hör dir mal die Hässliche an, Sombo – diese Fleckige da! Was bildet sie sich ein? Soll ich mir von ihr sagen lassen, was ich zu tun habe?«
Tante Fatmata hob ihre Weidenrute und schlug zuerst mich, dann Mabinty Suma. Sie peitschte uns, bis wir überall am Körper blutige Striemen hatten. Endlich sagte sie zu mir: »So, du hässlicher Balg – jetzt bist du nicht nur gefleckt, sondern auch noch gestreift.«
Mabinty Suma schluchzte laut, aber ich konnte nicht weinen. Ich war viel zu wütend. Der Zorn brannte in mir wie ein loderndes Feuer. Papa hatte mir einmal eine Geschichte über Feuer speiende Drachen vorgelesen. Wäre ich doch nur ein Drache, dachte ich, dann könnte ich Feuer auf Tante Fatmata spucken!
Später durften alle anderen Kinder Fußball spielen, nur wir beide mussten dableiben und die Babys baden und füttern. Ich liebe Babys, deshalb war es keine Strafe für mich. Sie waren so süß und niedlich und meine Flecken waren ihnen egal.
Als die Babys gewickelt und gefüttert waren, gingen wir mit unserer Grasmatte in den Schlafsaal. Wir kamen gerade noch rechtzeitig ins Haus, bevor der tägliche Regenguss herunterpladderte. Alle strömten herein und machten Klatschspiele. Bei siebenundzwanzig Händepaaren wird das ganz schön laut, und der Lärm hallte von den Wänden wider, bis der ganze Saal davon erfüllt war. Nach einer Weile ging das Händeklatschen in Singen und Tanzen über. Ich wollte auch mitmachen, aber immer wenn ich mich einer Gruppe näherte, kehrten mir die Mädchen den Rücken zu. Manche schnalzten missbilligend mit der Zunge, und andere liefen schreiend davon: »Teufelskind! Leopardenmädchen! Geh bloß weg – du steckst mich noch an mit deinen Flecken.«
Nur Mabinty Suma spielte mit mir. Wir waren die beiden Außenseiterinnen hier. Doch damit würde ich mich nicht abfinden. Entschlossen stellte ich mich mitten in den Saal. Ich hatte eine blühende Fantasie, wie Papa immer sagte, und konnte mir gut Geschichten und Spiele ausdenken. Mit dieser Fähigkeit würde ich es vielleicht schaffen, die anderen auf meine Seite zu bringen.
»Ich weiß, was wir drinnen spielen können«, verkündete ich laut. Alle Augen hefteten sich auf mich, denn in einer Welt, in der es kein anderes Spielzeug gibt als einen zerlumpten Stoffball, sind neue Spiele immer willkommen.
»Bei diesem Spiel müssen alle mitmachen. Also wirklich alle«, fügte ich hinzu, »sonst ist es nicht so lustig.« Ich wartete einen Augenblick, aber ich wurde nicht ausgezischt, also redete ich weiter: »Gut, dann setzen wir uns jetzt alle im Kreis hin.«
In Wahrheit hatte ich keine Ahnung, was wir spielen sollten, und improvisierte einfach drauflos. »Also, das Spiel geht so: Wir denken uns die gruseligste Geschichte aus, die ihr je gehört habt. Das erste Mädchen fängt mit der Geschichte an, dann kommt die nächste und übernächste, und jede spinnt die Geschichte ein bisschen weiter, bis das letzte Mädchen im Kreis den Schluss erzählt.«
»Und was ist mit den Jungs?«, rief Omar, der größte und klügste der drei Jungen.
Ich verdrehte die Augen und schnalzte mit der Zunge, aber ich ließ ihn in den Kreis kommen.
»Ich fange mit der Geschichte an!«,...
Erscheint lt. Verlag | 29.9.2014 |
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Übersetzer | Ilse Rothfuss |
Zusatzinfo | Mit fbg. Fotos |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Gift Of The Harmattan |
Themenwelt | Literatur |
Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre | |
Schlagworte | ab 12 • ab 13 • Adoption • Adoption & Waisenkinder • Adoption & Waisenkinder • Afrika • Amerika • Autobiografie • Autobiografie, Sierra Leone, Kriegskinder, Adoption, Adoption & Waisenkinder, Amerika, Jugendbuch, Ballett, Begabung, Lebensgeschichte • Ballett • Begabung • eBooks • galileo big pictures • Jugendbuch • Jugendbücher • Kriegskinder • Lebensgeschichte • Michaela DePrince • Sierra Leone • ungewöhnliche Lebensgeschichte • Waisenkinder • Young Adult |
ISBN-10 | 3-641-14245-8 / 3641142458 |
ISBN-13 | 978-3-641-14245-2 / 9783641142452 |
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