Scheintod (eBook)

Frankfurt liest ein Buch 2021

(Autor)

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2014 | 1., Sonderausgabe
399 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-73604-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Scheintod - Eva Demski
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Frankfurt am Main 1974. Ein Anwalt wird tot in seiner Kanzlei aufgefunden. Die Umstände seines Todes sind ungeklärt. Die Polizei ermittelt: Er war Anwalt der linken Szene, zu seiner Klientel gehörten RAF-Mitglieder, Rocker, Junkies und Strichjungen.
Seine Frau, die seit drei Jahren von ihm getrennt lebt, beginnt, sich noch einmal mit ihm auseinanderzusetzen: mit seiner Arbeit, seinem Leben - und ihrer Liebe. Was weiß sie eigentlich von diesem Mann, den sie einmal geliebt hat, der ihr so vertraut war?
Bald gerät die Witwe selbst ins Visier der polizeilichen Ermittlungen, wird der Mitwisserschaft an politischen Aktivitäten verdächtigt, während sie verschlüsselte Botschaften aus dem politischen Untergrund erhält. Um zu begreifen, sucht sie seine Kollegen auf, Mandanten aus der Halbwelt, Genossen und ehemalige Revolutionäre und kehrt in dunklen Spelunken ein. Immer tiefer wird sie in ein verborgenes Leben des Toten hineingezogen, der ihr gleichzeitig immer fremder wird.
Scheintod ist der Roman einer Liebe zu Zeiten großer politischer Unruhen. Eva Demski erzählt unsentimental, doch mit feinem Gespür von einer Frau, die vor die Herausforderung gestellt wird, ein Leben im Tod zu ergründen und dabei Erinnerungen und Zweifel, Trauer und Verlust zu bewältigen.



Eva Demski, geboren 1944 in Regensburg, lebt in Frankfurt am Main. Ihr literarisches Werk wurde vielfach ausgezeichnet.

DER ERSTE TAG

Die Bühne

Als der Mann gestorben war, schien niemand es für nötig zu halten, ihn in angemessener Zeit unter die Erde und damit allmählich aus den Köpfen seiner Umgebung zu bringen. Das letzte, was die Frau von ihm gesehen hatte, war ein badewannenartiger Zinksarg gewesen, den zwei graugekleidete Männer leise fluchend um die enge Spindel des Treppenhauses drehten. Vier Stockwerke waren es. Die Frau war oben stehengeblieben und wußte nicht, wie das Auto, in das sie den Sarg geschoben hatten, aussah. Grau? Schwarz? Wahrscheinlich irgendeine nicht störende Farbe, damit die Leute, die auf der Straße unten stehengeblieben waren, nicht erschraken.

Wohin der Sarg gebracht wurde, war zunächst unklar. Niemand fragte danach, die Eltern nicht, auch die Frau nicht, und den Freunden stand es nicht zu. Erst als die Zeit zwischen dem Tod des Mannes und seiner endgültigen Entfernung sich unangemessen dehnte, fielen ein paar Fragen, die sich auf den Blumenschmuck und die Toleranz des Priesters bezogen.

Elf Tage und Nächte also war der Körper des Mannes noch über der Erde aufbewahrt worden, und das keineswegs in würdiger Dunkelheit, auf einem geschmückten letzten Bett, sondern zunächst in einer Blechschublade, dann auf einem Tisch mit Rinnen, dann wieder in einer Blechschublade und ganz zuletzt erst in einem Sarg. Jedenfalls ergaben dies die Nachforschungen der Frau. Hätte sie nicht etwas geahnt, sie hätte nicht danach gefragt.

Man macht wohl einen Kreuzschnitt über dem Brustbein, ein wenig vom Inneren wird herausgenommen und den für notwendig gehaltenen Untersuchungen zugeführt. Der Rest der Organe wird weggeworfen, dann polstert man den Körper mit Holzwolle aus und näht ihn zu. Das ist sicher nicht schwierig, denn zu dem Zeitpunkt hat der Leib längst ausgeblutet. Bei den Ägyptern wäre der Organrest in einem kunstvoll gestalteten Töpfchen bewahrt worden, das Herz vielleicht in Gold. Die Frau hatte elf unruhige Tage und elf stille Nächte Zeit, sich derlei auszudenken.

Als der Mann an einem sonnigen kühlen Aprilsamstag starb, stand er im dreißigsten Lebensjahr. Er starb nackt und schnell, wenn man bedenkt, wie schrecklich viel Zeit andere damit verbringen. Sein Sterben hatte nicht länger gedauert als einen Vierteltag. So schien es jedenfalls am ersten Tag seines Totseins. Er war nicht mehr dazu gekommen, sich anzuziehen, vielleicht hatte er auch gar nicht den Wunsch gehabt. Menschen, die es mit dem Atmen schwer haben, sind gern nackt, so als könne die Haut mit Millionen kleinen Lungen helfen.

Die große Wohnung war halbdunkel geblieben, nur wenig Sonne zwängte sich durch die Lamellen der Jalousien. Das erste, was die Frau tat, als sie auf die Nachricht seines Sterbens hin in die Wohnung kam, war, Licht und Luft hereinzulassen. Der Mann war noch nicht ganz tot, und sie begann schon sich über ihn hinwegzusetzen, ihn zu verhöhnen. Er hatte Licht und Luft gehaßt, Gemüse und Spaziergänge auf Erdboden waren ihm ein Greuel. Vitamine in jeder Form schlugen ihn in die Flucht. Aber an diesem Tag konnte er sich nicht mehr wehren.

Im Flur der Wohnung standen verlegen einige Leute in weißen Mänteln, unten hatte die Frau einen großen Krankenwagen stehen sehen. Niemand sprach mit ihr. Es wäre ihr recht gewesen, übersehen zu werden, wenn Geschäftigkeit, warme, freundliche, leidenschaftliche Hilfe der Grund für das Desinteresse an ihrer offensichtlich gesunden Person gewesen wäre. Aber die Helfer halfen nicht, höchstens einander mit gemurmelten Ratschlägen und Beschwichtigungen. Als die Frau ins Zimmer wollte, hielten sie sie fest, denn darin, daß das nicht möglich sei, waren sie einig. Sie schaute in den Kanzleiraum, vom Blau des Flurs in das Grün des Kanzleiraums, und nur vor dem Rot des Schlafzimmers blieb die Tür geschlossen. Da, am ersten Tag seines Totseins, setzte sich die Frau ins Treppenhaus, um nicht zu stören, bei der Hilfe dachte sie, aber es war beim Sterben.

Allerdings war davon nicht die Rede, dazu waren alle Leute viel zu beschäftigt, und weil die Frau beschlossen hatte, nicht zu stören, wunderte sie sich darüber, wie viele Männer jetzt an ihr vorbei in die Wohnung gingen, ohne sich darum zu kümmern, ob sie störten. Es waren gutaussehende, lässig angezogene Männer im Alter des sterbenden Mannes. Alle in der Wohnung waren etwa gleich alt, bis auf den Jungen, der in einer Ecke stand und sich schluchzend hinter den Strähnen seiner langen Haare versteckte. Die Frau erkannte sofort, daß es Kripobeamte waren, die da an ihr vorbei, über sie hinweg in die Wohnung stiegen, als seien sie gebeten, ja geradezu erwünscht. Als die Frau begriffen hatte, was sie sah, wußte sie, daß der Mann tot war. Sie hätte ihn sonst gehört. Aber nun schwieg es hinter der geschlossenen Schlafzimmertür anders als vorher. Er wehrte sich nicht gegen die Zivilen, also war er tot.

Die Frau stand auf und ging zurück in die Wohnung. Es war nicht ihre Wohnung. Sie bewegte sich vorsichtig, trotz des Übergriffs mit den Jalousien, sie ging viel zögernder als die Zivilen, die ihre Nasen in alle Zimmer steckten und die Schlafzimmertür öffneten, als sei überhaupt nichts passiert.

Ich möchte ihn sehen, sagte die Frau.

Da war absolut nichts mehr zu machen, antwortete einer der Ärzte verlegen – oder war es ein Ersatzdienstler? Oder ein Ehrenamtlicher vom Roten Kreuz? –, absolut nichts. Hat er das Asthma schon lange?

Die Frau sagte nichts, nur: Ich möchte ihn sehen.

Es geht noch nicht, sagte ein anderer Arzt oder Ersatzdienstler oder Ehrenamtlicher, Sie sehen doch, die Kripo ist bei ihm. Da erst fiel der Frau ein, daß der Mann katholisch war und daß es hätte heißen müssen, der Pfarrer ist bei ihm, und nicht, die Kripo ist bei ihm. Obwohl das gut zu ihm paßte.

Der Junge weinte noch immer ein schwächliches, maunzendes Gewinsel. Die Frau tröstete ihn nicht.

Ich gehe jetzt hinein, sagte sie. Es waren so viele Leute in der Wohnung, wer hätte sie hindern sollen. Außerdem war es ihr Recht, ihren Mann zu sehen, einen toten Rechtsanwalt von gut dreißig Jahren, mit dem sie seit drei Jahren nicht mehr zusammengelebt hatte und dessen Freund noch immer in der Ecke des Flurs sein schniefendes Weinen hinter einem Haarvorhang versteckte.

Die Frau hatte schon Tote gesehen, Sterbende auch, sie hatte Nachtdienst im Krankenhaus gemacht. Die Leute sterben, wie man weiß, im Krankenhaus in den Stunden nach Mitternacht. Meist waren die Toten ausgetrocknet gewesen, abgemagert, an Leitungen hängend, die sie mit Flüssigkeit versorgten, von großen weißen Verbänden verunstaltet. Die Frau war oft froh gewesen, wenn diese Sterbenden es dann endlich hinter sich hatten. Der zähe Rest Leben hatte sie so zermergelt, sie hatten sich so abarbeiten müssen und waren am Ende ganz in der Hand einer Fremden. Die Frau erinnerte sich an Patienten, denen sie das Loch am Hals hatte zuhalten müssen, damit sie sprechen konnten, damit ihre Stimme den Ton zurückbekam. Auf der Schwelle zum Schlafzimmer des Mannes wollte sie keine Angst haben vor einem Toten.

Die Kripoleute störten sie sehr, sie fragten mit halblauter Stimme Sachen, die sie nicht verstand, und verdeckten ihr den Blick auf das große Bett. Das hatte er sich nach ihrer Trennung gekauft. Das Schlafzimmer war ein schöner, unrechtwinkliger Raum in warmem Rot, Bücher und Süßigkeiten auf der Erde, ein Stuhl, auf dem die Kleider des Mannes warteten. Seine großen Schuhe standen drunter. Die Frau schaute auf ein Plakat, auf das der Mann »Keine Macht für niemand« geschrieben hatte. Sie glaubte ihm das nicht. Er hatte Macht gern, natürlich nicht von anderen. Ein Plattenspieler hielt noch ihren Blick vom Bett fern, ein Regal, ein Stoß Zeitungen. Ein Tischchen, auf dem die kleinen weißen Rezeptzettel gut sichtbar lagen. Der Nachtschrank, dessen Tür halb offenstand und Plätzchenschachteln, Schokoladetafeln und Bonbonbeutel sehen ließ, große Dauerlutscher und Lakritzen, Kekse, Medikamente und ein paar Pornohefte.

Sie hatten ihn nicht einmal richtig auf das Bett gelegt, sondern es schien, als sei nur sein Oberkörper zur Ruhe gekommen, zu einer unwillig ertragenen Ruhe. Er lag genau wie einer, bei dem man nicht weiß, ob er gerade dabei ist aufzustehen oder sich eben hinlegen will, seine Füße schon oder noch auf der Erde, der Oberkörper mit ausgebreiteten Armen noch oder schon auf dem Bett. Es störte die Frau, den schönen Leib des Mannes in einer so hilflosen Stellung zu sehen, seiner letzten Bewegung, wenn sie den Leuten, die sich da überall zu schaffen machten, Glauben schenkte. Aber so einfach war es nicht, ihnen zu glauben. Zu viele Jahre hatte der Mann ihr beigebracht und immer wieder bewiesen, daß man ihnen nichts glauben darf, weder denen im weißen Kittel noch denen in den grünen Uniformen, denen in den schwarzen Roben nicht und auch nicht denen in jener bewußt legeren Freizeitkleidung, denen noch am allerwenigsten. Aber er lag da, sah niemanden an und schaute doch auf das aufgeregte Gedränge in seiner Kanzlei und seiner Wohnung. Er wehrte sich nicht, und das war zunächst das einzige, was sie an seinen Tod glauben ließ.

Er war nackt gestorben, und sie hatten ihn nicht bedeckt. Die Frau schaute den Körper des Mannes an, nichts an diesem Körper war ausgedient. Warum also sterben, wenn das Kleid noch schön und brauchbar ist, seine winterweiße Haut glatt, seine Knochen fest und stark, seine Haare wild und dunkel und sogar seine Zähne trotz der ungehemmten Zuckerschleckerei noch beißfähig? Allein seine Haare sahen übrigens tot aus. Das hatten sie manchmal zu seinen Lebzeiten schon getan, wenn er unzufrieden war oder das Leben ihn nicht genug...

Erscheint lt. Verlag 14.4.2014
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Belletristische Darstellung • Die Linke • Frankfurt am Main • Frankfurt liest ein Buch • George-Konell-Preis 2018 • Geschichte 1974 • linke Szene • Mord • Politik • Preis der Frankfurter Anthologie 2008 • Rechtsanwalt • Witwe
ISBN-10 3-458-73604-2 / 3458736042
ISBN-13 978-3-458-73604-2 / 9783458736042
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