Judith und Jolanthe - Oliver Fehn

Judith und Jolanthe

Eine Gespenstergeschichte ohne Gespenster

(Autor)

Buch | Softcover
104 Seiten
2014
Pandämonium Verlag
978-3-944893-04-4 (ISBN)
8,95 inkl. MwSt
Zwei Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Jolanthe, die bäuerlich-herbe Raumpflegerin in der Nachtbar 49th Parallel, und die Serviererin Judith – jung, attraktiv und alles andere als ein Kind von Traurigkeit. Die beiden Frauen werden Freundinnen und erzählen sich aus ihrem Leben – doch als Judiths 12jähriger Sohn Levin auftaucht, der jede Nacht nach Sperrstunde zauberhafte Klänge auf dem Barpiano spielt, gerät Jolanthes Welt jäh aus den Fugen. Sie beginnt, den Jungen auf fanatische Weise zu vergöttern, und zeichnet ein Bild von ihm, dem Levin nicht gerecht werden kann.

Oliver Fehns erste längere Arbeit seit der „Klavierbrücke“ – eine Novelle voller Fantasie und Farben, die von Liebe handelt, von der Musik und vom versäumten Leben. Zu „Judith und Jolanthe“ komponierte der Autor auch vier Klavierstücke (Levin’s Theme, Judith’s Rag, Jolanthe’s Waltz und In Search of My Father), die er vielleicht irgendwann auf CD einspielen wird.

Oliver Fehn, geboren 1960, ist Autor zahlreicher Romane und Sachbücher. Im Pandämonium-Verlag erschienen bisher sein Roman "Die Klavierbrücke", die Kurzgeschichtenbände "Keiner will mehr nach San Francisco" und "Hitzemond", sowie seine Übersetzung von Mark Twains Roman "Der geheimnisvolle Fremde". Neben seiner Autorentätigkeit arbeitet er vor allem als Übersetzer von Büchern aus dem Musikfachbereich.

Rennräder waren teuer. Sie hatte sich einen Katalog besorgt und angesichts der hohen Preise sofort resigniert. „Wir könnten zusammenlegen“, sagte sie zu Judith. „Er muss kein solches Rad haben“, sagte Judith. „Er hat ein Fahrrad, das reicht. Rennräder haben nur die Kinder reicher Leute. Und ich will nicht, dass die Leute denken, dass wir wollen, dass sie glauben, dass wir reich wären.“ Jolanthe, die sich nicht sicher war, ob sie den Satz verstanden hatte, beschloss, sich selbst um das Rad zu kümmern. Aber sie wusste nicht einmal, wo es so etwas gab und wie man es transportierte. Irgendwann sah sie keine andere Lösung, als Levin selbst um Rat zu fragen. Sie wählte dazu eine jener Stunden, in denen er wieder unten am Klavier saß. „Du musst das nicht für mich tun“, sagte er. „Du bist nicht meine Mutter.“ Er hatte nur die Wahrheit gesprochen, denn sie war nicht seine Mutter; für sie jedoch klang es wie die tödliche Diagnose eines Arztes. „Eigentlich hast du Recht, was ist schon ein Fahrrad?“ sinnierte sie. „Man kann damit Eindruck schinden, aber hat man das nötig? Ich meine, wenn man klug ist und die Herzen berührt. Die Menschen mögen dich, wie du bist, Levin.“ „Hör doch auf, Jolanthe.“ Er fuhr herum. „Die spielen das doch nur. Weil es edel ist. In Wirklichkeit bin ich für die der Sohn der schönen Judith, an der sich nachts in der Bar die Männer aufgeilen. Ein Rotlichtkind. Das bin ich für sie. Und das wird auch immer so bleiben.“ Dann vertiefte er sich wieder in seine Klaviernoten und sagte kein Wort mehr. Und sie spürte, was er erkannt hatte: Die anderen wollten seine Liebe nicht – wie oft bei Kindern aus Familien mit zweifelhaftem Ruf. Sie wollten ihm Liebe geben, oder besser als Liebe verkleidetes Mitleid, aber seine eigene Liebe wollten sie nicht. Sie kam ihnen wie eine Bürde vor, billig, wertlos. Er hatte sich bemüht, eine Kindheit lang bemüht, sein Bestes zu geben. Er hatte gelächelt, anderen zugehört, jedem Hund auf der Straße was gegeben. Und war abgeblitzt. Irgendwann zog man den Stecker. Jolanthe war fest entschlossen, um diesen Jungen zu kämpfen. „Wieso hast du dir ein Lied für mich ausgedacht?“ fragte sie. „Ich habe für jeden ein Lied“, sagte Levin. „Auf diese Weise kann ich mir besser merken, wie die Leute so sind. Ohne die Musik könnte ich sie gar nicht unterscheiden. Für meine Mutter habe ich sogar mehrere Lieder. Weil sie der wichtigste Mensch in meinem Leben ist. Und ein Lied für sie nicht reicht, um alles unterzubringen.“ „Sie ist eine gute Seele, ja“, sagte Jolanthe. „Sie würde wahrscheinlich alles für dich tun. Ich habe mich richtig gewundert, dass sie kein Foto von dir besitzt.“ „Ein Foto? Wozu?“ Er schlug zwei Tasten ganz unten auf der Klaviatur an, die zusammen einen schauerlichen Klang ergaben. Jolanthe würde sie sofort wiedererkennen, wenn sie am Tag ihres Abschieds von dieser Welt ertönten. „Hat nicht jede Mutter Fotos von ihren Kindern?“ murmelte sie. Wieder die beiden Töne, diesmal noch schwerer, noch brutaler. „Wozu soll das denn gut sein, wenn man sich jederzeit sehen kann?“ „Weil man älter wird“, sagte Jolanthe, „und sich verändert. So weiß man immer, wie man irgendwann einmal ausgesehen hat.“ „Wen interessiert das? Die Leute jammern immer nur über das, was sie nicht mehr haben. Schau mal, ich habe mein Klavier – soll ich warten, bis es irgendwann weg ist und ich endlich darüber jammern kann? Nein, ich habe es heute. Hier. Jetzt. Muss ich jetzt ein gottverdammtes Foto davon machen?“ Er hörte auf zu spielen. Jolanthes Blicke streiften seine Notenblätter, für sie nur eine Wüste aus Zeichen und Chiffren, wie die Welt da draußen auch. „Sie ist schon eine gute Seele“, sagte sie. „Ich nehme an, du würdest gern bei ihr wohnen.“ „Kannst du mich jetzt einfach mal glücklich sein lassen?“

Erscheint lt. Verlag 30.4.2014
Sprache deutsch
Maße 120 x 190 mm
Einbandart Paperback
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Dramatik / Theater
Schlagworte Beziehung • Drama • Freundschaft • Leben • Liebe • Musik • Oliver Fehn
ISBN-10 3-944893-04-2 / 3944893042
ISBN-13 978-3-944893-04-4 / 9783944893044
Zustand Neuware
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