Über Pop-Musik (eBook)

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2014 | 1. Auflage
474 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30783-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Über Pop-Musik -  Diedrich Diederichsen
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Diedrich Diederichsen über Pop-Musik: das Opus magnum Ganze Generationskohorten von Pop-Fans hat er angeregt und aufgestört: Diedrich Diederichsen. Nun erscheint mit Über Pop-Musik das Ergebnis seines lebenslangen Nachdenkens über Pop.Über Pop-Musik ist ein kluges, ein kontroverses Buch, dessen Thesen ganze Gebäude eilig zusammengezimmerter Übereinkünfte zum Einsturz bringen werden. Pop-Musik, sagt Diederichsen, ist gar keine Musik. Musik ist bloß der Hintergrund für die viel tiefer liegenden, viel weiter ausstrahlenden Signale des Pop. Pop ist ein Hybrid aus Vorstellungen, Wünschen, Versprechungen. Er ist ein Feld für Posen und Pakte, für Totems und Tabubrüche. Der Autor bezieht seine Argumente aus Semiotik und Soziologie ebenso wie aus der Geschichte und Gegenwart der Pop-Kultur und aus den angrenzenden Gebieten Jazz, Kino, Oper. Es dürfte das erste Buch sein, das der ganzen Vielgestaltigkeit des Phänomens Rechnung trägt, und das einzige, in dem gleichzeitig Theodor W. Adorno und Congo Ashanti Roy auftreten. Und es ist ein sehr persönliches Buch. Diederichsen greift immer wieder auf die eigenen Erfahrungen zurück, sein Initiationserlebnis war ausgerechnet ein Konzert des bleichen Bluesrockers Johnny Winter. Was er über dessen Auftritt schreibt, gilt für viele, die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgewachsen sind: Pop hat »eingelöst, was wir alle immer schon geahnt hatten, aber als Kinder nie ganz genau wussten: dass es etwas gibt. Nicht, wovon Winter heulte, war wichtig, sondern dass in komischen Geräuschen ein Weg zur Welt war.«

Diedrich Diederichsen, geb. 1957 in Hamburg, ist Professor für Theorie, Praxis und Vermittlung von Gegenwartskunst an der Akademie der bildenden Künste in Wien. In den 80er Jahren war er Redakteur bei den Musikzeitschriften Sounds und SPEX, seit den 90ern arbeitet er als Hochschullehrer u. a. in Stuttgart, Frankfurt, Wien, Pasadena, St. Louis, Los Angeles. Bei KiWi erschienen seit 1985 neun Bücher (u. a. »Sexbeat«, »Politische Korrekturen«, »Über Popmusik«).

Diedrich Diederichsen, geb. 1957 in Hamburg, ist Professor für Theorie, Praxis und Vermittlung von Gegenwartskunst an der Akademie der bildenden Künste in Wien. In den 80er Jahren war er Redakteur bei den Musikzeitschriften Sounds und SPEX, seit den 90ern arbeitet er als Hochschullehrer u. a. in Stuttgart, Frankfurt, Wien, Pasadena, St. Louis, Los Angeles. Bei KiWi erschienen seit 1985 neun Bücher (u. a. »Sexbeat«, »Politische Korrekturen«, »Über Popmusik«).

Die unmögliche Produktion


Im Spiegel


Auch wenn man nicht die leicht reduktionistische, aber tendenziell triftige These vertritt, dass in der Pop-Musik – im Gegensatz zu früheren Kulturindustrien – potenziell jeder Rezipient ein Produzent sein könnte oder gar ist, eines ist sicher: Vor dem im vorangegangenen Abschnitt erwähnten Spiegel haben sie alle gestanden. Die narzisstische Pose, die vereinzelt erst zu Beginn der Pubertät und während deren krisenhaften Verlaufes dann immer öfter vor dem Spiegel entwickelt wird, bleibt normalerweise flüchtig. In Verbindung mit Sound, nicht dem fröhlich geträllerten Melodiechen, sondern dem bestimmten, definierten Sound einer konkreten Aufnahme, deren Abspielen oder Memorieren sich gegen keine Wiederholung sperrt und für jede Wiederholung des narzisstischen Rituals zur Verfügung steht, wird aus der flüchtigen Pose ein stabiles Programm des Selbst. Nicht immer, aber sehr oft übersetzt es den Sound bei der Fixierung der Pose in die Anrufung, selbst diese oder ähnliche Sounds herzustellen – als wieder mal eine Idee der Objektivierung, der Beherrschung, der Verfügung über diese herrlichen, fragilen Momente voller Potenzialität.

Man lernt als zukünftiger Pop-Musiker sicher eine Menge vor dem Spiegel, aber nicht so sehr die Techniken der Selbst-Präsentation und der Performance. Über diesen Aspekt der Pop-Musik-Produktion reden wir mehr in dem dafür zuständigen Kapitel. Man lernt aber, wie man sich selbst in Bezug zur Musik einsortieren kann: als Metonymie, nicht als Metapher. Die herkömmliche Interpretation der Spiegel-Szene ist ja: Der junge Mensch »identifiziert« sich mit dem Interpreten oder gar dem lyrischen Ich des gehörten oder inwendig memorierten Songs und führt eine expressive Szene vor dem Spiegel auf. Er spielt den Song und will sein wie das von ihm Ausgesprochene. Auch diese Szene mag es geben, sie wird vor allem in der Phase der Pop-Musik wichtig gewesen sein, als Sounds sehr oft als Indizes bestimmter Biografien, literarischer Stoffe etc. konventionalisiert waren, also in der Zeit der Singer / Songwriter. Für künftige Pop-Musiker mag aber noch etwas anderes wichtig gewesen sein – die Konstruktion: Ich und der Sound. Ich und ein bestimmter Sound, Ich und verschiedene bestimmte Sounds.

Ausdrucksästhetik ist immer bestimmt von einem hohen Risiko, dem Einsatz des Persönlichen. Darin ist sie entweder kulturindustrieller Kitsch oder avantgardistische Romantik, darin womöglich auch unter bestimmten Bedingungen vertretbar. Eine metonymische Verbindung zwischen dem unverwechselbaren Ich und einer anderen, aber austauschbaren unverwechselbaren Einheit, einem Objekt, einem Zeichen, einem menschlichen Partner, ist möglicherweise die interessantere Konstruktion im Zusammenhang der Produktion von Pop-Musik. Die Wette der klassischen Moderne auf den Zusammenhang von Autor und Werk und auf dessen Verantwortung bewahrt zwar vor Korruption, aber ganz unabhängig von ihren möglichen, wenn auch nicht zwingenden Schwächen – Heroismus, Exzeptionalismus, Genie-Kult – schließt sie psychologisch andere Produktionsformen aus: Zusammenarbeit kennt sie allenfalls in der Arbeitsteilung mit entsprechender Funktionsdifferenzierung und Hierarchie, die entsprechenden Gegenmodelle Combo und Band sind aus der Expressionsposition wieder nur hierarchisch vorstellbar. Im metonymischen Modell – geboren aus der Konstellation »Spiegelbild und ein Sound« und nicht »Spiegelbild wie ein Sound« – steht dagegen künstlerische Promiskuität nicht im Widerspruch zum Narzissmus. Meine Einmaligkeit und mein Genuss an ihr ist nicht verhandelbar, aber er kommt zur Welt nicht durch einen von mir verantworteten Ausdruck, sondern durch ein Verhältnis zu ähnlich konstruierten anderen, sei es temporär wie bei der Combo im Jazz oder vom Selbstverständnis her auf ewig gestellt wie bei der Band.

In der Fabrik und in der Klitsche: Billige und sentimentale, vernutzte und heruntergekommene Zeichentypen, abjekte Zeichen, Müll


Pop-Musik basiert auf einfacher Musik. Es geht um etwas anderes als darum, mit Musik-als-Musik jemanden zu beeindrucken. Oft geht es um die Negation von klassischen musikalischen Effekten: das Ausbleiben einer melodischen Schließung, das Ausbleiben oder Verzögern des B-Teils, der Bridge, des Chorus oder darum, durch die Hegemonie des Rhythmischen das Melodische und Harmonische (und so das konventionellerweise eigentlich Musikalische) in den Hintergrund zu verbannen, zu dienenden Funktionen zu degradieren. Im Gegensatz zu populärer Musik im alten Sinne (Schlager, Folklore), die auf die Melodie-Effekte des Liedes und seiner musikalischen Mnemotechnik setzen, und im Gegensatz auch zur E-Musik, die auf die nicht-triviale Gestaltung und Bestimmung des Klangmaterials setzt, benutzt und produziert die Pop-Musik musikalische Zeichen nicht im Hinblick auf ihren Eigenwert, ihr jeweiliges expressives oder mnemotechnisches Vermögen, sondern greift auf vorgefundene, oft vernutzte, entleerte, billige musikalische Ideen zurück. Sie tut dies vor allem in allen Erneuerungsphasen wie Punk oder Techno. Wenn im Anschluss an Adornos Aufsatz über die populäre Musik[27] deren ästhetisches Spannungsfeld immer über die Gegensätze zwischen musikalischer Avanciertheit und Standardisierung aufgezogen wird, könnte man sagen, dass Pop-Musik genau die populäre Musik der 50er Jahre war, die sich in zweiter Generation auf das musikalisch Abgenutzte, auf das Hyperstandardisierte, zum Klischee Geronnene stürzte. Sie tat dies nicht aus einem früh entwickelten Camp-Bewusstsein heraus und schon gar nicht, weil sie gewusst hätte, was sie tat. Sie brauchte die heruntergerockten, zu Tode standardisierten Melodien oder auch die Nicht-Melodien des Blues, die eigentlich nichts als Akkordschemata waren, Skelette pentatonischer Tonfolgen, weil ihr die Musik eh nur ein Medium im systemtheoretischen Sinne war. Ein Medium mithin, das eine (andere) Form zur Geltung bringen musste.

Diese Form kann die physische Besonderheit des Sängers sein, seine aus dem Studio übertragene Körperlichkeit, sie kann ein aufreizender Rhythmus, ein neuartiger, zum Fetisch werdender Sound-Effekt sein, eine Performance – sie alle brauchen eine möglichst einfache oder standardisierte oder auch abgenutzte, billige, den Blick, die Aufmerksamkeit widerstandslos auf anderes freigebende Musik, eine Musik, die nichts tut als alltägliche Selbstverständlichkeit auszustrahlen. Nur vor dem Hintergrund einer solchen alltäglichen, billigen, nichtigen Musik kann der Körper der Sänger, ihr Atem, der Rhythmus ihrer Bewegungen zur Hauptsache aufsteigen, ihre Person zum Gegenstand einer Performance werden, die nicht einfach nur den Aufführungsregeln von Musik gehorcht. Der Style der großen Performer, die nach den Performance-Regeln der Pop-Musik auftreten, kann nur vor dem Hintergrund der und im Umgang mit den achtlos hin- und hergeworfenen verschlissenen Formen gedeihen. Die Nähe zum Schmutz, die Vertrautheit mit dem verfemten Dreck, profitiert von dessen Aura des Wirklichen, aber auch von dessen hintergrundgeeigneter Einfachheit.

Doch zwei Dinge können diese heruntergekommene Musik auch wieder nach vorne bringen. Ihre Billigkeit, ihre Simplizität kann nun wieder musikalisch in den Mittelpunkt geraten: Ihre Einfachheit kann zu Reinheit werden. Musiker können auf die Idee kommen, dass es musikalische Gründe für die Wahl einfacher Mittel gibt, statt des Aufkommens neuer Sensationen und Attraktionen, denen die alten und industriell vernutzten Musikformen nur eine Bühne bieten. Diese Musiker erklären das Einfache zur Reduktion aufs Wesentliche – »I always liked simple rock«, John Lennon –, und schon das erste große primitive Rock’n’Roll-Instrumental, »Rumble« von Link Wray, dürfen wir uns als Ergebnis dieser ästhetischen Sensibilität vorstellen. Auf dieser Ebene ist es keine Pop-Musik im von mir beschriebenen Sinne mehr allein, sondern zugleich eine Form von Minimalismus. Doch von dieser Minimalisierung und dadurch auch Musikalisierung des Rock werden wir (ab S. 254) noch sprechen.

Es gibt aber noch eine andere mögliche ästhetische Konsequenz, von der ersten in der musikalischen Realität gar nicht immer leicht zu unterscheiden. Diese andere Konsequenz betrifft weniger die Einfachheit, die man auf der Ebene ihrer Immanenz zum Minimalismus oder Primitivismus ausbauen kann, sondern auf dem Schmutz der heruntergekommenen, billigen, standardisierten Floskel, auch des sentimentalen und emotional erpresserischen Drecks. Während die Simplizität des heruntergekommenen, dreckigen, einfachen Industriematerials dazu taugt, den Entertainer, den Star, den Performer gerade auch in seiner Distanz, in seiner Unterschiedlichkeit zu den von ihm verwendeten, lediglich dienenden Zeichen und Ausdrucksmaterialien zu konturieren, kann man das Dreckige und Verfemte, Sentimentale und Billige auch so einsetzen, dass sie gerade durch den Kontakt, durch die Nähe des anrüchigen Materials, die Präsenz des Künstlers und Performers steigert. Dreck – als Sentimentalität ebenso wie als Primitivität und Gewalt – ist ein Material, das mit seiner Ursache verbunden ist. Diese Ursache ist industrielle Produktion von Kulturwaren.

Bilder operieren damit, dass sie sich von ihren Ursachen trennen. Der ikonische Star ist ein Ideal, das als ein Bild kursiert, welches man anbetet. Man rechnet nicht mit einer Entsprechung in der Realwelt, die man bewohnt. In der vorhin erwähnten Hollywood-Star-Fotografie...

Erscheint lt. Verlag 8.3.2014
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Kunst / Musik / Theater Musik Pop / Rock
Schlagworte Diederich Diederichsen • Diedrich Diederichsen • Eigenblutdoping • Erinnerungen • Essay • Gesellschaft • Kunst • Musikgeschichte • Musik-Geschichte • Musikzimmer • Pop • Popkultur • Pop-Kultur • Popmusik • Sexbeat • Soziologie • Theoretiker
ISBN-10 3-462-30783-5 / 3462307835
ISBN-13 978-3-462-30783-2 / 9783462307832
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