Eugenik und andere Übel (eBook)

(Autor)

Thomas Lemke (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2014 | 1., Deutsche Erstausgabe
200 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73637-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Eugenik und andere Übel - Gilbert Keith Chesterton
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Die Debatten um die Reproduktionsmedizin und die Erblichkeit der Intelligenz werfen Fragen auf nach der Kontinuität eugenischer Praktiken, d. h. der Optimierung menschlicher Eigenschaften durch die Steuerung des Fortpflanzungsverhaltens. Dieses Programm ist eng verknüpft mit dem »Dritten Reich«, Zwangssterilisationen und der Vernichtung »unwerten Lebens«. Doch schon vor Beginn der Naziherrschaft warnten Autoren wie Aldous Huxley und Gilbert Keith Chesterton hellsichtig vor den Gefahren der Eugenik. Chestertons Essay 'Eugenik und andere Übel' zeigt grundlegende Probleme eugenischen Denkens auf und liegt nun erstmals auf deutsch vor. Thomas Lemke erläutert den historischen Kontext und zeigt, daß Chestertons Mahnungen nichts von ihrer Aktualität verloren haben.

<br />Gilbert Keith Chesterton<b> </b>wurde am 29. Mai 1874 in London geboren. Er begann eine Ausbildung als Illustrator an der Slade School of Art und besuchte Literaturvorlesungen am Londoner King's College. Als Kolumnist und Literaturkritiker schrieb er für verschiedene liberale Zeitungen. Von 1900 an erschienen von ihm über hundert Bücher, Gedichte, Kurzgeschichten und Theaterstücke, die durch ihre stilistische Brillanz schnell eine große Bekanntheit erlangten. In besonderem Maße setzte sich Chesterton, der 1922 zum Katholizismus konvertierte, in seinen Büchern und Aufsätzen mit seiner Beziehung zum Christentum auseinander, meistens allerdings - wie in der bekannten Gestalt des Priester-Detektivs <i>Pater Brown - </i>auf humoristische Weise. Er starb am 14. Juni 1936 in Beaconsfield.

[Cover] 1
[Informationen zum Buch/zum Autor] 2
[Impressum] 4
Inhalt 7
Thomas Lemke Die Tyrannei der Zukunft Gilbert Keith Chesterton und die Paradoxien der Eugenik 9
I. 12
II. 25
III. 38
Anmerkungen 53
Gilbert Keith Chesterton Eugenik und andere Übel 67
An den Leser 69
ERSTER TEIL 71
I Was ist Eugenik? 73
II Die ersten Einwände 81
III Die Anarchie von oben 90
IV Der Geisteskranke und das Gesetz 99
V Die ungreifbare Autorität 114
VI Der unwiderlegte Einwand 128
VII Die wissenschaftliche Staatskirche 139
VIII Resümee einer falschen Theorie 148
ZWEITER TEIL 155
I Die Ohnmacht der Unbußfertigkeit 157
II Wahre Geschichte des Tagelöhners 167
III Wahre Geschichte des Eugenikers 180
IV Die Rache des Fleisches 191
V Die Gemeinheit des Motivs 200
VI Das Verschwinden der Freiheit 212
VII Die Umwandlung des Sozialismus 223
VIII Das Ende der Hausgötter 233
IX Ein kurzes Kapitel 244
Erläuterungen 248

73I Was ist Eugenik?

Aufzuschreien, bevor man geschlagen wird, ist die vernünftigste Sache der Welt. Es hilft nichts, aufzuschreien, nachdem man geschlagen wurde; besonders, wenn es ein tödlicher Schlag ist. Zwar heißt es, daß das Volk zu vorschneller Empörung neigt; doch wie weise Historiker wissen, wurden die meisten Diktaturen nur deshalb möglich, weil die Leute zu spät aufwachten. Oft kommt es entscheidend darauf an, sich einer Tyrannei zu widersetzen, bevor sie da ist. Es ist keine Lösung, mit vager Zuversicht zu versichern, daß die Sache lediglich in der Luft liegt. Ein Axthieb läßt sich nur parieren, solange die Axt noch in der Luft ist.

Es gibt gegenwärtig eine Bewegung, eine Denkschule, die genauso zielstrebig und organisiert ist wie irgendeine jener Gruppierungen, anhand von deren Namen man den Lauf der englischen Geschichte skizzieren könnte. Sie ist eine ebenso handfeste Sache wie die Oxford-Bewegung oder die Puritaner im Langen Parlament oder die Jansenisten oder die Jesuiten. Es ist eine Sache, die sich benennen läßt, die sich diskutieren läßt und die sich immer noch vernichten läßt. Man nennt sie aus Bequemlichkeitsgründen »Eugenik«; und daß man sie vernichten sollte, will ich auf den folgenden Seiten beweisen. Mir ist bekannt, daß verschiedene Leute Verschiedenes unter dem Begriff verstehen; das liegt jedoch allein daran, daß das Böse stets Vorteil aus Vagheiten zieht. Mir ist bekannt, daß angesehene Leute Idealismus und Barmherzigkeit dieser Sache preisen und mit silberzüngiger Rhetorik von reinerer Mutterschaft und glücklicheren Kindern sprechen. Das liegt jedoch allein daran, daß man dem Bösen immer gerne schmeichelt und so auch die Erinnyen »die Wohlmeinenden« genannt hat. Mir ist bekannt, daß diese Sache viele Anhän74ger hat, deren Absichten ganz und gar unschuldig und human sind; und die ernsthaft darüber erstaunt wären, daß ich sie so charakterisiere, wie ich es hier tue. Doch liegt das allein daran, daß das Böse stets durch die Entschiedenheit edelmütiger Gimpel siegt; und es hat zu allen Zeiten eine verheerende Allianz von außerordentlicher Naivität und außerordentlichen Missetaten gegeben. Von denen, die getäuscht worden sind, werde ich selbstverständlich so sprechen, wie man es von derartigen Werkzeugen immer tut; und sie an dem Guten messen, das sie zu tun glauben, nicht an dem Bösen, das sie tun. Doch die Eugenik an sich ist für jeden etwas Wirkliches, der genug Verstand hat, zu begreifen, daß Ideen etwas Wirkliches sind; und die Eugenik an sich ist, ob sie in kleinem oder großem Maßstab, demnächst oder später, aus wohlmeinenden Motiven oder aus böswilligen, an tausend Menschen oder an dreien erprobt wird, die Eugenik an sich ist etwas, über das sich ebensowenig verhandeln läßt wie über einen Giftanschlag.

Es ist nicht besonders schwer, ihren Kern zu erfassen, obgleich sich manche ihrer Befürworter ziemlich vage über sie äußern. Die Bewegung beruht auf zwei Dingen: einer grundlegenden Moral, der alle Eugeniker anhängen, und einem Plan zu deren gesellschaftlicher Umsetzung, in dem sie erheblich differieren. Was die grundlegende Moral angeht: Es ist offensichtlich, daß die ethische Verantwortung des Menschen davon abhängt, daß er die Konsequenzen seines Tuns kennt. Wenn ich (hypothetisch, wie Dr. Johnson in jenem Leuchtturm der Prophetie) für einen Säugling verantwortlich wäre, und der Säugling wäre krank, weil er die Seife verschluckt hat, würde ich gegebenenfalls einen Arzt rufen. Womöglich riefe ich ihn von erheblich ernsteren Fällen weg, von den Krippen anderer Kinder, die viel Verderblicheres verzehrt haben; doch das läßt sich rechtfertigen. Man könnte nicht 75von mir verlangen, genug über die anderen Patienten zu wissen, um verpflichtet (oder auch nur berechtigt) zu sein, ihnen zuliebe das Kind zu opfern, für das ich unmittelbar und in erster Linie verantwortlich bin. Nun ist die grundlegende Moral der Eugenik diese: daß das Kind, für das wir in erster Linie und unmittelbar verantwortlich sind, das ungeborene Kind ist. Das heißt, daß wir genug über gewisse unausweichliche biologische Anlagen wissen (oder in Erfahrung bringen können), um die Frucht einer ins Auge gefaßten Vereinigung in jenem nüchternen und klaren Licht der Vernunft zu betrachten, in dem wir heute allein unseren Partner bei dieser Vereinigung betrachten können. Es ist denkbar, daß wir zu jenem mindestens ebensosehr wie zu diesem verpflichtet sind. Wir können zuerst auf das Kind, das noch nicht da ist, Rücksicht nehmen, bevor wir auf die Gattin Rücksicht nehmen, die neben uns steht. Man darf nicht übersehen, daß das ein relativ neuer Akzent in der Moral ist. Zwar waren gesunde Leute schon immer der Ansicht, daß der Zweck einer Ehe, sei es infolge göttlichen Gebots oder des Willens der Natur, darin besteht, Kinder zu zeugen; doch haben sie, ob sie ihre Kinder nun als Lohn ihres Glaubens oder als Prämie für ihre Gesundheit betrachteten, das Belohnen Gott beziehungsweise die Prämierung der Natur als etwas weitgehend Unverfügbares überlassen. Der einzige Mensch (und das ist der Punkt), dem gegenüber man fest umrissene Pflichten hatte, war der an der Sache beteiligte Partner. Auf dessen Rechte unmittelbar Rücksicht zu nehmen war das Beste, das man tun konnte, um mittelbar auf die Rechte seiner Nachkommen Rücksicht zu nehmen. Wenn die Haremsfrauen heroische Lieder sangen, sobald der Moslem aufs Pferd stieg, taten sie dies, weil es einem Mann rechtmäßig zustand; wenn der Kreuzritter seiner Gattin vom Pferd half, tat er dies, weil es einer Frau rechtmäßig zustand. Ähnlich definierte und detaillierte Rechte er76kannten sie dem ungeborenen Kind nicht zu; sie betrachteten es vielmehr von dem agnostischen und opportunistischen Standpunkt, von dem aus Mr. Browdie über das hypothetische Kind von Miss Squeers spricht. Indem sie diese Geschlechterverhältnisse für gesund hielten, hofften sie naturgemäß, gesunde Kinder hervorzubringen; das war aber auch alles. Zweifellos erwartete die moslemische Frau, daß Allah einer folgsamen Gattin schöne Söhne schenken werde; sie hätte aber nicht zugelassen, daß irgendeine Wunschvorstellung solcher Söhne etwas an ihrer Folgsamkeit änderte. Sie hätte nicht gesagt: »Ich werde von nun an eine ungehorsame Gattin sein; denn die gelehrten Aderlasser sagen mir, daß große Propheten häufig die Kinder ungehorsamer Gattinnen sind.« Zweifellos hoffte der Kreuzritter, daß ihm die Heiligen zu kräftigen Kindern verhülfen, wenn er den Pflichten seines Standes nachkam, zu denen es unter anderem gehören konnte, seiner Gattin vom Pferd zu helfen; doch er hätte nicht davon Abstand genommen, dies zu tun, wenn er in einem Buch gelesen hätte, daß häufige Stürze vom Pferd die Geburt von Genies befördern können. Der Moslem wie der Christ hätte solche Spekulationen nicht nur für unfromm, sondern für ganz und gar unpraktikabel gehalten. Ich stimme ihnen darin zu; aber das ist hier nicht der Punkt.

Der Punkt hier ist, daß eine neue Denkschule die Eugenik gegen die Ethik in Anschlag bringt. Und das zeigt sich an einem schon geläufigen Faktum: daß die Helden der Vergangenheit in den Augen der Eugeniker Übeltäter sind. In ihren Büchern und Artikeln suggerieren sie ständig, daß wir nichteugenische Ehen als Sünde betrachten sollten und womöglich bald werden; daß wir zu spüren lernen müßten, daß die Heirat mit einem Kranken eine Art Kindesmißhandlung ist. Die Geschichte hingegen ist voll von Lobliedern auf Leute, die ihre Verbindung mit einem Kran77ken als heilig betrachtet haben; von Fällen wie dem Colonel Hutchinsons oder dem Sir William Temples, die ihren Verlobten treu blieben, obwohl deren Schönheit und Gesundheit offensichtlich beschädigt war. Und auch wenn die Krankheiten Dorothy Osbornes und Mrs. Hutchinsons nicht unter die eugenischen Spekulationen fallen sollten (was ich nicht weiß), liegt es doch auf der Hand, daß sie es sehr wohl sein könnten; und gewiß würde das an der meisten Menschen moralischer Auffassung der Sache nichts ändern. Es geht hier nicht darum, welche der beiden Ethiken ich bevorzuge; ich bestehe lediglich darauf, daß sie konträr sind. Tatsächlich stellen die Eugeniker gerade jene Männer als Vorbilder hin, die man in den betroffenen Familien als Wortbrüchige bezeichnet. Folgerichtig müßten sie Männern Denkmäler errichten, die ihre Geliebten wegen eines körperlichen Makels verlassen; mit Inschriften, die den guten Eugeniker preisen, der, wenn die Geliebte vom Fahrrad fällt, nobel auf die Heirat mit ihr verzichtet; oder den heroischen Jüngling, der von einem an Wundrose leidenden Onkel erfährt und sich großherzig aus dem Staub macht. Vollkommen auf der Hand liegt jedoch dies: daß die Menschheit die Verbindung von Mann und Frau bislang für so heilig und ihre Konsequenzen für die Kinder für so unkalkulierbar gehalten hat, daß sie es stets mehr bewunderte, wenn einer sich um seine Ehre, als wenn er sich um seine Sicherheit sorgte. Zweifellos...

Erscheint lt. Verlag 10.3.2014
Übersetzer Frank Jakubzik
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte edition unseld 41 • EU 41 • EU41 • Eugenik • Geschichte 1927 • Quelle
ISBN-10 3-518-73637-X / 351873637X
ISBN-13 978-3-518-73637-1 / 9783518736371
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