Die Mansarde (eBook)

Roman
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2014 | 1. Auflage
224 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-0797-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Mansarde -  Marlen Haushofer
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Die Mansarde ihres Hauses ist der einzige Ort, der ganz alleine ihr gehört. Hierhin zieht sie sich zurück, um ihrem Hausfrauenalltag zu entfliehen und zu zeichnen. Hier muß sie sich auch mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, als sie eines Tages Briefe mit Seiten aus ihrem alten Tagebuch bekommt, die sie an eine längst vergessene Zeit in den Bergen erinnern.

Marlen Haushofer wurde 1920 im oberösterreichischen Frauenstein geboren. Sie zählt heute zu den wichtigsten deutschsprachigen Autor:innen des 20. Jahrhunderts und wurde mit zahlreichen Literaturpreisen geehrt. Ihre Bücher sind in mehrere Sprachen übersetzt und für Film und Theater adaptiert. 1970 starb sie in Wien.

Marlen Haushofer wurde 1920 im oberösterreichischen Frauenstein geboren. 1946 veröffentlichte sie ihren ersten Text. Sie zählt heute mit Ingeborg Bachmann zu den Vorläuferinnen der modernen Frauenliteratur. Marlen Haushofer wurde mit zahlreichen Literaturpreisen geehrt. Sie starb 1970 in Wien.

SONNTAG

Von unserm Schlafzimmerfenster aus sehen wir einen Baum, über den wir uns nie einig werden. Hubert behauptet, es sei eine Akazie. Er sagt Agazie, weil sein Vater, der aus Görz stammte, dieses Wort so aussprach. Ich weiß nicht, ob alle Leute aus Görz das tun oder ob es nur eine Eigenheit von Huberts Vater war. Hubert liebt Akazien, von denen es in alten Romanen heißt, der Duft ihrer Blüten sei süß und berauschend. Er ist tatsächlich süß und berauschend, wie ja alle Eigenschaftswörter aus alten Romanen treffend sind. Nur darf man sie heute nicht mehr verwenden. Trotzdem werden Akazienblüten immer süß und berauschend riechen, solange es auf der Welt noch eine einzige Nase gibt, die das feststellen kann.

Hubert hält also den Baum jenseits der Straße für eine Akazie. Dabei versteht er überhaupt nichts von Bäumen. Er liebt Akazien nur, weil sein Vater, der alte, damals junge Ferdinand, in einer Akazienallee zu lustwandeln pflegte. Ich nehme an, er tat dies nicht allein, sondern in Begleitung eines jungen Mädchens. Das Mädchen trug gewiß einen Sonnenschirm, und dieser Sonnenschirm war aus gelber Seide. Und jener unsagbare Duft erfüllte die Welt, eine Welt, die rund und ungebrochen war und die es nicht mehr gibt. Auch den alten Ferdinand gibt es nicht mehr, aber sein Sohn behauptet immer noch, der Baum vor unserem Fenster sei eine Akazie.

Dazu kann ich nur lächeln. Für mich ist der Baum eine Ulme oder Erle, was beweist, daß auch ich nicht sehr viel von Bäumen verstehe, obgleich ich auf dem Land aufgewachsen bin. Es ist eben schon lange her, und wer weiß, wo ich damals meine Augen hatte.

Ich lege auch keinen Wert darauf, die Namen zu wissen, die im Naturgeschichtsbuch stehen. »Schönbaum« genügt mir vollkommen als Bezeichnung. Manche Vögel heißen bei mir Rotfüße oder Grünfedern, und jedes Säugetier, dessen Name mir unbekannt ist, heißt Pelztier, langohriges, dickschwänziges, rundschnauziges, seidenweiches Pelztier. Den so Benannten macht das gar nichts, sie reichen keine Ehrenbeleidigungsklagen ein, und auch dem Baum dort drüben ist es einerlei, wie ich ihn nenne. Also soll er eine Ulme oder Erle sein.

Er weiß nicht, daß es mich gibt. Seine merkwürdigste Eigenschaft ist, daß man ihn nur im Winter sehen kann. Sobald er austreibt und sich mit Laub bedeckt, wird er unsichtbar, bis er eines Tages wieder kahl und zartverästelt vor dem grauen Novemberhimmel steht und das Rätselraten um seinen Namen wieder anfängt.

Hubert richtet sich im Bett auf und sagt: »Es ist natürlich eine Agazie.« – »Erle oder Ulme«, sage ich starrsinnig. »Du hältst mich wohl für schwachsinnig«, sagt Hubert, »glaubst du, ich kenne eine Agazie nicht auf den ersten Blick?« Ich weiß genau, daß er in Wirklichkeit gar nicht weiß, wie eine Akazie aussieht, sage es aber nicht, um ihn nicht zu kränken. Ich weiß nämlich nie so genau, was ihn kränken könnte, manchmal ist er dickfellig, manchmal kränkt er sich über Winzigkeiten. Das mit der Akazie würde ihn gewiß kränken, wie alles, was sich irgendwie auf seinen Vater bezieht. Hubert betreibt nämlich insgeheim ein bißchen Ahnenkult. Da ich das auch tue, bin ich in diesem Punkt vorsichtig. Ich schwieg, ließ die Sache auf sich beruhen und sah hinüber auf den Baum.

Es ist ein Sonntag im Februar, und diese kleine Szene spielt sich jeden Sonntagmorgen ab. An einem Wochentag haben wir natürlich keine Zeit, uns derartigen Spielen hinzugeben. »Ein Vogel sitzt auf dem Baum«, verkündet Hubert, »ein Star.« – »Unsinn«, sage ich, »im Winter gibt es keine Stare, es wird eine Amsel sein.« Ich bin etwas im Nachteil, weil Hubert weitsichtig ist und ich leicht kurzsichtig bin. Ich konnte nur einen kleinen schwarzen Fleck in einer Astgabel sehen. »Nein«, sagt Hubert, »es ist bestimmt keine Amsel.« – »Vielleicht ein Grünling?« schlage ich vor. Ich weiß nicht genau, wie die Vögel heißen, die ich Grünlinge nenne, sie sehen aus wie sehr große Spatzen, aber grün. »Du mit deinen Grünlingen!« sagt Hubert verächtlich und schlägt ein Buch auf, eine Beschreibung der Schlacht von St. Gotthard-Mogersdorf, 1664. Er liest mit Vorliebe Bücher über alte Schlachten und bildet sich ein, er wäre ein besserer Stratege gewesen als die vermoderten alten Generale. Es ist beklemmend, zu sehen, wie nahe es ihm geht, daß er unsere verlorenen Schlachten nicht korrigieren kann. Nicht aus Patriotismus, dahinter bin ich längst gekommen, nur aus einem brennenden Verlangen nach Perfektion. Ihn kränken die verlorenen Schlachten sämtlicher Nationen. Trotzdem scheint ihn das Lesen dieser Bücher zu befriedigen, und da es tonnenweise Bücher über alte Schlachten gibt, wird ihm der Lesestoff nie ausgehen. Er könnte ruhig hundert Jahre alt werden. Wahrscheinlich wird dieser Fall nicht eintreten, und es wäre auch nicht wünschenswert.

Hubert ist jetzt zweiundfünfzig und, wenn man bedenkt, daß er gar nichts für seine Gesundheit tut, in ganz guter Verfassung. Sein Blutdruck ist normal, manchmal knarren seine Gelenke ein wenig, vier Zähne fehlen ihm, das ist nicht viel, dafür hat er noch ziemlich dichtes braunes Haar, ein bißchen Grau ist natürlich auch dabei. Er raucht vielleicht zu viel, trinkt aber kaum und ist überhaupt ein mäßiger Mann mit einem leichten Hang zur Pedanterie. Ich wüßte nicht, warum er nicht alt werden sollte. Freilich, er arbeitet zu viel, aber er scheint das gern zu tun, also kann es nicht so schädlich sein.

Er lächelt und gleitet auf einer akazienduftenden Rutschbahn zurück in die Schlacht von St. Gotthard-Mogersdorf, vergißt seine Frau, den Baum und den Vogel auf diesem Baum.

Der Baum steht flach vor dem Himmel, wie eine Zeichnung auf grauem Reispapier. Er sieht auch ein bißchen chinesisch aus. Wenn man ihn lange anstarrt, zumindest wenn ich ihn lange anstarre, verwandelt er sich. Der weißgraue Himmel fängt an, zwischen den Ästen aufzuquellen, formt sich zu lockeren Bällen, und bald hält der Baum, Akazie, Erle oder Ulme, in unzähligen silbergrauen Fingern den Himmel gefangen. Wenn ich dann die Augen schließe und nach einer Minute wieder hinsehe, ist der Baum flach wie eine Zeichnung, ein Bild, das weder traurig noch fröhlich macht und das ich stundenlang anstarren könnte. Gleich darauf beginnt die geheimnisvolle Verwandlung von neuem, und der Himmel wird rund und eingefangen von zartgekrümmten Fingern.

Das wunderbarste an diesem Baum ist aber, daß er Wünsche ansaugen und auslöschen kann. Nicht, daß ich noch besonders brennende Wünsche hätte, aber es gibt Beunruhigungen, Ärgernisse und Verstimmungen. Das alles zieht der Baum aus mir heraus, bettet es in seine Astgabeln und deckt es zu mit weißen Wolkenbällen, bis es sich in der feuchten Kühle auflöst. Dann kann ich leer und leicht den Kopf abwenden und noch eine halbe Stunde schlafen. In dieser halben Stunde träume ich nie. Der Baum, Akazie, Erle oder Ulme, ist ein gründlicher Baum, auf den man sich verlassen kann.

Dafür bin ich sehr dankbar, denn es kommt ja darauf an, Kräfte zu sammeln und dank diesen Kräften die Zeit mit Anstand hinter sich zu bringen. Es ist mir nicht gegeben, mit Tellern zu werfen, aber ich möchte auch nicht gehässig oder ironisch werden, und dazu besitze ich eine leichte Neigung. Man sollte auch nicht brüten oder schmollen oder, wie es auf österreichisch heißt, mocken. Das englische Wort sulk drückt am besten diesen Zustand aus, der unbedingt vermieden werden muß. Schmollen klingt ungebührlich neckisch, und brüten ist eigentlich etwas ganz anderes, auch ein Eremit kann brüten, und das stört keinen Menschen, von einem schmollenden Eremiten hat die Welt noch nie gehört. Mocken kommt der Sache schon näher, es deutet hin auf das Dumpfe und Dumme einer in diesem Zustand befindlichen Person. In sulk aber ist alles vorhanden und noch dazu jene Kälte und gemachte Gleichgültigkeit, die das Opfer verletzen soll. Und ich will keinen Menschen verletzen. Es werden ohnedies ununterbrochen und rundherum viel zu viele Leute verletzt.

Hubert brütet gelegentlich. Er brütet aber diskret, an seinem Schreibtisch sitzend, eine Zeitung vor dem Gesicht. Manchmal geht er zu diesem Zweck auch ins Kaffeehaus. Es würde mir nicht einfallen, ihn dorthin zu begleiten. Wenn ich in ein Kaffeehaus gehen will, gehe ich allein hin. Ehepaare haben dort nichts verloren. Alles Mögliche können sie gemeinsam tun, nur nicht im Kaffeehaus sitzen und Zeitungen lesen. Sie geraten sofort in den Verdacht, einander satt zu haben bis zum Hals.

Natürlich haben wir einander manchmal satt bis zum Hals, aber sobald uns das klar wird, versinken wir in tiefe Melancholie, bis dieser beklagenswerte Zustand vorüber ist. Wir können es uns einfach nicht lange leisten, einander satt zu haben, denn wem sollten wir uns sonst zuwenden, wer könnte uns eine Stütze sein? Fremd sind alle Menschen für uns, auch unsere Freunde, die eigentlich nur Bekannte sind. Fremd ist uns sogar unsere Tochter Ilse, die fünfzehn Jahre alt ist und nicht recht weiß, was sie mit uns anfangen soll. Sie bewohnt das hübscheste Zimmer im Haus, denn sie soll es gut haben, und wir möchten, daß sie sich glücklich fühlt. Sie gedeiht sehr gut und ist ein fröhliches Mädchen; manchmal erinnert sie mich an eine Tante, die ins Kloster gegangen ist, nur wird Ilse nicht ins Kloster gehen. Mit Sicherheit kann ich das natürlich nicht behaupten, es geschehen ja immerzu die unerwarteten Dinge. Es ist für Ilse sehr gut, daß wir sie nicht wirklich brauchen und uns nicht ungebührlich an sie hängen. Ilse gehört nicht zum innersten Kreis. Vor ihrer Geburt ist etwas geschehen und hat sie zu einem Kind gemacht, das nach dem wirklichen Leben der Eltern geboren worden ist.

Eine Postuma ist sie, nur gehen ihre...

Erscheint lt. Verlag 1.2.2014
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Erinnerungen • Hausfrau • Mansarde • Roman • Tagebuch • Vergangenheit
ISBN-10 3-8437-0797-9 / 3843707979
ISBN-13 978-3-8437-0797-8 / 9783843707978
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