Unschuldslamm (eBook)

Der erste Fall für Schöffin Ruth Holländer
eBook Download: EPUB
2014 | 1. Auflage
304 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-0646-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Unschuldslamm -  Judith Arendt
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Ruth Holländer kann sich nicht beklagen: Die Scheidung ist durch, der Sohn aus dem Haus, und die 16-jährige Tochter pubertiert fast nicht mehr. Auch Ruths französisches Bistro läuft erfreulich gut. Aber dann kommt ein Bescheid vom Amtsgericht: Zu ihrem Entsetzen wird Ruth zur Schöffin berufen. Sie muss in einem Mordfall beisitzen. Schon bald hegt sie Zweifel an der Schuld des Hauptangeklagten: Hat der junge Mann wirklich seine Schwester getötet? Ruth beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln. Und schon nach den ersten Fragen im Umfeld des vermeintlichen Mörders wird ihr klar, dass sie mitten im gefährlichsten Abenteuer ihres Lebens gelandet ist ...

Judith Arendt ist das Pseudonym der Autorin Henrike Engel. Sie schreibt gelegentlich Drehbücher für deutsche Fernsehserien und sieht umso lieber amerikanische. Ihre Leidenschaft gilt dem Kriminalroman, insbesondere dem skandinavischen und britischen. Judith Arendt lebt mit ihrer Familie seit einigen Jahren in der Nähe von München.

Judith Arendt ist das Pseudonym einer erfolgreichen Krimi-Autorin. Sie schreibt gelegentlich Drehbücher für deutsche Fernsehserien und sieht umso lieber amerikanische. Ihre Leidenschaft gilt dem Kriminalroman, insbesondere dem skandinavischen und britischen. Judith Arendt lebt mit ihrer Familie seit einigen Jahren in der Nähe von München.

»Ehrenmord«-Täter vor Gericht

Berliner Morgenpost, im Januar

Sie wird davon nicht mehr lebendig werden, aber ihr Bild wird vielen Menschen vor Augen stehen, wenn am heutigen Dienstag der Prozess um den Mord an Derya D. vor der 28. Strafkammer des Landgerichts Moabit eröffnet wird. Im August des vergangenen Jahres wurde die Deutsch-Kurdin Derya D., 16 Jahre, durch mehrere Messerstiche getötet und ihre Leiche in der Nähe der Teufelsseestraße gefunden. Angeklagt wird ihr Bruder Aras D., 22, dem die Staatsanwaltschaft vorwirft, seine Schwester vorsätzlich und heimtückisch ermordet zu haben. Der mutmaßliche Täter gibt an, seine Schwester bereits schwer verletzt aufgefunden zu haben. Warum die beliebte und lebenslustige junge Kurdin ihr Leben auf so grausame Weise lassen musste, erklärt Oberstaatsanwalt Hannes Eisenrauch so: »Derya wollte ihr Leben selbst bestimmen. Sie wollte sich ihren Freund aussuchen, an Partys teilnehmen und ein normaler Berliner Teenager sein. Das war mit der traditionellen Auffassung ihrer Familie von der Rolle der kurdischen Frau nicht vereinbar.« Die Staatsanwaltschaft fordert lebenslange Haft für Aras D. wegen Mordes, die Verteidigung plädiert auf Freispruch. Aras D. schweigt ebenso wie die Eltern der beiden Geschwister zu den Vorwürfen.

Offenbar handelt es sich also auch bei dem Fall der jungen Derya um einen »Ehrenmord« – ein Delikt, mit dem sich die deutschen Behörden immer öfter in Berlin konfrontiert sehen. Ist die Multikulti-Gesellschaft gescheitert?

Berlin-Moabit, Turmstrasse,
ein Freitagmorgen im Januar, halb neun

Ruth wartete geduldig an der Ampel, bis sie über die Straße gehen durfte. Sie hatte heute Morgen beschlossen, den unfreiwillig freien Tag dafür zu nutzen und ein paar Schritte zu Fuß zu gehen. Trotz des grauen Januarhimmels und des Schneematsches auf den Straßen war sie von zu Hause zum Ufer hinunterspaziert, von dort zum Landgericht gegangen, und weil sie dann immer noch viel zu früh war, hatte sie beschlossen, noch eine Runde im Fritz-Schloss-Park zu drehen. Es war herrlich gewesen – obwohl sie noch immer schlechte Laune hatte und unwillig war, sich als Schöffin zur Verfügung zu stellen.

Als Ruth das Schreiben im November bekommen hatte, war für sie sofort klar gewesen, dass sie Widerspruch einlegen würde. Das war eigentlich nicht vorgesehen, aber Ruth hatte vorgehabt, sich schlauzumachen, ob es nicht doch Schlupflöcher geben könnte. Es war für sie gar nicht erst in Frage gekommen, sich über ein Engagement als Schöffin überhaupt Gedanken zu machen. Sie fand, dass sie bereits genug um die Ohren hatte und schlicht keine Zeit, an den avisierten zwölf Verhandlungstagen, die man ihr mitgeteilt hatte, teilzunehmen. Was sie jedoch erstaunt hatte, war, dass sie in ihrer unmittelbaren Umgebung mit dieser Haltung auf keinerlei Gegenliebe gestoßen war.

»Geil, voll spannend«, urteilte Annika, »das sind bestimmt end die krassen Geschichten.«

Auf Ruths Einwand, dass sie keine Zeit und erst recht keine Nerven für »end die krassen Geschichten« hatte, hatte ihre Tochter nur die Augenbrauen hochgezogen und angemerkt, dass es typisch für ältere Single-Frauen sei, immer so gestresst zu sein. Die hätten ja sonst nichts.

Auch bei ihrem Sohn fand Ruth kein Verständnis.

»Klar, da musst du hin«, urteilte Lukas. »Den Richter und den Bullen auf die Finger gucken. Die machen ja sonst, was sie wollen.«

Nur Jamila hatte sich in Ruhe Ruths Sturm der Entrüstung über die »zwangsweise Rekrutierung« angehört. Sie hatte verständnisvoll genickt und ruhig weitergearbeitet. Erst später am Abend, als sie das Lokal und die Küche aufgeräumt hatten, hatte Jamila ihnen beiden ein kleines Glas Rotwein eingegossen und das Thema noch einmal angeschnitten.

»Weißt du«, hatte sie vorsichtig begonnen und Ruth mit ihren schwarzen Augen ernst über den Rand des Glases angeblickt, »wir schaffen den Laden hier auch mal ohne dich.«

»Kommt gar nicht in Frage!« Ruth hatte den Wein hastig hinuntergestürzt und war hinter der Theke verschwunden. Sie wollte der Diskussion um jeden Preis entgehen.

»Ich glaube, es ist ganz gut für dich, hier mal rauszukommen«, hatte Jamila unbeirrt das Thema fortgesetzt.

»Pfff. Da kann ich mir Besseres vorstellen. Ein Wellness-Wochenende im Spreewald zum Beispiel.«

»Das meine ich nicht.« Jamila hatte Ruth an der Hand gefasst, damit sie sich ihr nicht entziehen konnte.

»Ich meine, es ist gut, wenn man sich mal mit etwas anderem als der eigenen Nabelschau beschäftigt.«

Ruth wollte sofort beleidigt zurückschießen, denn sie fand, dass sie sich andauernd für andere aufopferte, für das Bistro, ihre Kinder, die Angestellten und den Ex-Mann, aber Jamila ließ sie nicht zu Wort kommen.

»Du machst seit Jahren keine Pause, Ruth. Du kommst jeden Morgen in den Laden, gehst erst am Abend hier raus, kümmerst dich dann um deine Familie und bist am nächsten Tag wieder hier. Sogar, wenn der Laden geschlossen ist. Dein ganzes Leben kreist darum.«

Die Marokkanerin sah Ruth eindringlich an, und diese konnte nicht anders, als ihr recht zu geben. Es stimmte schon, sie musste mal raus. Aber das hieß in ihren Augen eigentlich nicht, um die Ecke ins Landgericht zu gehen, sondern mal Urlaub zu machen.

»Es ist eine Chance, sich mit anderen Leben auseinanderzusetzen. Sich mit etwas zu beschäftigen, das nicht mit dem ›Paysanne‹ zu tun hat.«

Ruth goss sich noch ein kleines Schlückchen Wein ein und starrte in ihr Glas, nur um Jamila nicht ansehen zu müssen. Ihre Freundin war klug. Und sie hatte recht. Und das stank Ruth gewaltig.

»Ich denk drüber nach«, hatte sie gesagt. Jamila hatte genickt und versucht, ihr Lächeln zu verbergen.

Natürlich hatte Ruth nicht darüber nachgedacht. Aber sie hatte auch keinen Widerspruch eingelegt. Sie hatte den Bescheid einfach unter den Stapeln auf ihrem Schreibtisch verschwinden lassen und geflissentlich ignoriert. Schließlich war der Dezember angebrochen, der Monat der Weihnachtsfeiern und der Vorbereitungen. Sie und Jamila machten für Stammkunden in Ausnahmefällen, und wenn es sich wirklich rechnete, ab und zu auch Catering, und vor Weihnachten häuften sich diese Ausnahmefälle. Zusätzlich war Ruth mit den Geschenken für ihre Familie, Streit mit Johannes wegen der immer noch nicht eingegangenen Unterhaltszahlungen und einer verschleppten Erkältung beschäftigt. Erst als sie am Neujahrstag an ihrem Schreibtisch saß und versuchte, Ordnung in ihr ganz und gar nicht kreatives Chaos zu bringen, fiel ihr der Brief wieder in die Hände. Sie hatte sich am neunten Januar in Raum 500 der großen Strafkammer am Kriminalgericht Berlin einzufinden. Um zehn Uhr begann der Prozess, und sie sollte eine Viertelstunde vorher im Beratungszimmer sein. Ruth seufzte, fügte sich in ihr Schicksal und regelte mit Jamila alles für den Tag ihrer Abwesenheit.

Nun stand sie hier und genoss den Morgen, obwohl dieser alles andere als lieblich war. Über die Jahreswende war Berlin im Schnee erstickt, und die Berliner Stadtreinigung hatte es, wie immer, wenn es mal überraschend Schnee im Winter gab, nicht geschafft, die Schneemassen zu besei­tigen, zu streuen und zu salzen. So lagen riesige Haufen auf den Straßen und Bürgersteigen und erinnerten an die ausschweifende Silvesternacht und die Katerstimmung ­danach. Raketenreste, schwarz verbrannte Chinaböller, mat­schige und farblose Luftschlangen, leere »Rotkäpp­chen«-Sekt-Flaschen, »Kleine Feiglinge«, Reste von Erbrochenem, und immer wieder verunzierte Hundekot in allen Schattierungen die ehemals weißen Haufen. Am vergangenen Wochenende hatte es dann einen Temperatursprung gegeben, und all der Schnee hatte sich in einen glasig braunen Matsch verwandelt, der jeden noch so gut imprägnierten Schuh sofort bis auf die Sohle durchweichte. Ruth hatte ihre hochhackigen Stiefel angezogen, die sich nun bereits vollgesogen hatten, sowie ihr graues Kostüm und eine weiße Bluse, weil sie um »angemessene Kleidung« gebeten worden war. Annika hatte die Sachen aus Ruths Kleiderschrank hervorgezerrt, und Ruth hatte überrascht festgestellt, dass ihr Rock und Oberteil noch passten wie vor fünf Jahren. Damals hatte sie das Kostüm extra für den Termin bei der Bank angeschafft, als sie wegen des Kredits für das »La Paysanne« vorstellig geworden war. Es hatte ihr heute Morgen Spaß gemacht, sich businessmäßig zu kleiden, und sie hatte das Outfit noch mit Make-up und einem neuen Lippenstift getoppt. »Geht doch, Mama«, hatte Annika kommentiert, und Ruth hatte überlegt, ob sie das als Beleidigung oder Kompliment auffassen sollte. Sie entschied sich für Letzteres.

Die Ampel schaltete für die Autofahrer auf Gelb, und Ruth wollte gerade einen Schritt auf die Straße setzen, als ein silberner SUV mit hohem Tempo die Kreuzung überquerte. Der Fahrer raste dabei durch eine Pfütze, und ein gehöriger Schwall dunkelbraune Matschbrühe landete auf Ruths Wollmantel. Empört sprang sie zurück auf den Bürgersteig. Der Mantel war vorne im unteren Drittel tropfnass, und sogar das Kostüm darunter hatte ein paar Spritzer ab­bekommen. Fluchend kramte Ruth ihre Taschentücher aus der Handtasche und versuchte, die Feuchtigkeit damit aufzusaugen, was ihr nur mäßig gelang. Zum Glück war der Mantel schwarz, so dass der Dreck der Straße darauf verschwand, aber dennoch war Ruth stocksauer. Sie hatte den Fahrer hinter dem Lenkrad nur flüchtig gesehen, ein eisgrauer Mittfünfziger in seinem Riesenschlitten, einem BMW, der wie ein Panzer wirkte. Genau die Sorte Mann, die sie gefressen hatte. Leider konnte sie sich das...

Erscheint lt. Verlag 4.1.2014
Reihe/Serie Ein Fall für Schöffin Ruth Holländer
Ein Fall für Schöffin Ruth Holländer
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Berlin • Bistro • Ehrenmord • Ermittlerin • Krimi • Mord • Mörder • Scheidung • Schöffe • Schöffin • Sohn
ISBN-10 3-8437-0646-8 / 3843706468
ISBN-13 978-3-8437-0646-9 / 9783843706469
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