Das kunstseidene Mädchen (eBook)
218 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-0792-3 (ISBN)
Irmgard Keun, 1905 in Berlin geboren, feierte mit ihren beiden ersten Romanen, Gilgi - eine von uns und Das kunstseidene Mädchen, sensationelle Erfolge. 1936 ging sie ins Exil und kehrte vier Jahre später mit falschen Papieren nach Deutschland zurück, wo sie unerkannt lebte. Im Literaturbetrieb der Nachkriegszeit konnte sie zunächst nicht an die Erfolge ihrer ersten Bücher anknüpfen, bis ihre Romane Ende der Siebzigerjahre von einem breiten Publikum wiederentdeckt wurden. Irmgard Keun starb 1982 und zählt heute zu den wichtigsten deutschsprachigen Autorinnen des 20. Jahrhunderts.
Irmgard Keun, 1905 in Berlin geboren, feierte mit ihren beiden ersten Romanen, "Gilgi – eine von uns" und "Das kunstseidene Mädchen" sensationelle Erfolge. 1935 ging sie ins Exil und kehrte fünf Jahre später mit falschen Papieren nach Deutschland zurück, wo sie unerkannt lebte. Im biederen Literaturbetrieb der Nachkriegszeit konnte sie zunächst nicht an die Erfolge ihrer ersten Bücher anknüpfen, bis ihre Romane Ende der Siebzigerjahre von einem breiten Publikum wiederentdeckt wurden. Irmgard Keun starb 1982 und zählt heute zu den wichtigsten deutschsprachigen Autorinnen des 20. Jahrhunderts.
Ich bin in Berlin. Seit ein paar Tagen. Mit einer Nachtfahrt und noch neunzig Mark übrig. Damit muß ich leben, bis sich mir Geldquellen bieten. Ich habe Maßloses erlebt. Berlin senkte sich auf mich wie eine Steppdecke mit feurigen Blumen. Der Westen ist vornehm mit hochprozentigem Licht – wie fabelhafte Steine ganz teuer und mit so gestempelter Einfassung. Wir haben hier ganz übermäßige Lichtreklame. Um mich war ein Gefunkel. Und ich mit dem Feh. Und schicke Männer wie Mädchenhändler, ohne daß sie gerade mit Mädchen handeln, was es ja nicht mehr gibt – aber sie sehen danach aus, weil sie es tun würden, wenn was bei rauskäme. Sehr viel glänzende schwarze Haare und Nachtaugen so tief im Kopf. Aufregend. Auf dem Kurfürstendamm sind viele Frauen. Die gehen nur. Sie haben gleiche Gesichter und viel Maulwurfpelze – also nicht ganz erste Klasse – aber doch schick – so mit hochmütigen Beinen und viel Hauch um sich. Es gibt eine Untergrundbahn, die ist wie ein beleuchteter Sarg auf Schienen – unter der Erde und muffig, und man wird gequetscht. Damit fahre ich. Es ist sehr interessant und geht schnell.
Und ich wohne bei Tilli Scherer in der Münzstraße, das ist beim Alexanderplatz, da sind nur Arbeitslose ohne Hemd und furchtbar viele. Aber wir haben zwei Zimmer, und Tilli hat Haare aus gefärbtem Gold und einen verreisten Mann, der arbeitet bei Essen Straßenbahnschienen. Und sie filmt. Aber sie kriegt keine Rollen, und es geht auf der Börse ungerecht zu. Tilli ist weich und rund wie ein Plümo und hat Augen wie blankgeputzte blaue Glasmurmeln. Manchmal weint sie, weil sie gern getröstet wird. Ich auch. Ohne sie hätte ich kein Dach. Ich bin ihr dankbar, und wir haben dieselbe Art und machen uns keine böse Luft. Wenn ich ihr Gesicht sehe, wenn es schläft, habe ich gute Gedanken um sie. Und darauf kommt es an, wie man zu einem steht, wenn er schläft und keinen Einfluß auf einen nimmt. Es gibt auch Omnibusse – sehr hoch – wie Aussichtstürme, die rennen. Damit fahre ich auch manchmal. Zu Hause waren auch viele Straßen, aber die waren wie verwandt zusammen. Hier sind noch viel mehr Straßen und so viele, daß sie sich gegenseitig nicht kennen. Es ist eine fabelhafte Stadt.
Ich gehe nachher in eine Jockeybar mit einem Mädchenhändlerartigen, an dem mir sonst nichts liegt. Aber ich komme dadurch in Milieu, das mir Aussichten bietet. Tilli sagt auch, ich sollte. Jetzt bin ich auf der Tauentzien bei Zuntz, was ein Kaffee ist ohne Musik, aber billig – und viel eilige Leute wie rasender Staub, bei denen man merkt, daß Betrieb ist in der Welt. Ich habe den Feh an und wirke. Und gegenüber ist eine Gedächtniskirche, da kann aber niemand rein wegen der Autos drum rum, aber sie hat eine Bedeutung, und Tilli sagt, sie hält den Verkehr auf.
Heute abend werde ich alles der Reihe nach in mein Buch schreiben, denn es hat sich soviel aufgelagert in mir. Also Therese half mir zur Flucht den Abend. Ich hatte sehr viel Zittern in mir und Angst und großartige Erwartung und Freude, weil nun alles neu wurde und voll von Spannung und Sensation. Und sie geht zu meiner Mutter und weiht sie heimlich ein und auch, daß ich meine Mutter und Therese fürstlich erhebe, wenn mir alles gelingt. Und meine Mutter kenn’ ich als verschwiegen, und sie ist ein Wunder, weil sie als über fünfzig sich selbst doch nicht als von früher her vergessen hat. Aber Kleider dürfen mir nicht geschickt werden, das ist zu gefährlich – und so habe ich nichts und nur ein Hemd, das wasche ich morgens und liege im Bett, bis daß es trocken ist. Und ich brauche Schuhe und sehr viel Sachen. Aber das kommt schon. Ich kann auch Therese nicht schreiben wegen der Polizei, die mich sucht ohne Zweifel – denn ich kenne die Ellmanns, wie zäh die ist und drauf aus, für andere Kriminal zu machen.
Es ist mir ganz egal, wenn sie Stunk hat durch mich, denn sie hat Rosalie gebraten und gegessen, die unsere Katze war – ein sanftes Tier mit seidenem Schnurren und einem Fell wie weiße Samtwolken mit Tintenklexen. Sie hat nachts auf meinen Füßen gelegen und geschlafen, daß sie warm waren – ich muß weinen – und hab mir ein Stück Torte bestellt – Holländisch Kirsch – jetzt kann ich’s nicht aufessen vor Trauer durch die Gedanken an Rosalie. Aber ich packe es mir ein. Und sie war auf einmal verschwunden, ohne wiederzukommen, was sie durch Gewohnheit an mich nie tat. Ich stand am Fenster und rief: »Rosalie« – in die Nacht und die Dachrinne. Mir war sehr traurig um das Tier, weil es warm für mich war und nicht nur so für meine Füße. Und was so klein ist und weich und ohne Hilfe, daß man es mit zwei Händen fassen kann, dafür hat man immer sehr viel Liebe. Und ich geh am Sonntag das Selleriehobel bei Ellmanns holen, was sie bei uns geliehen hat, das Armloch, was sich zum verrecken nichts kauft, was sie von anderen pumpen kann. Wollten sie gerade essen – dem struppigen Ellmann, der aussieht wie ein Missionar mit scheinheiligen Augen unrasiert auf einer Insel und frißt arme Neger auf Grund von Bekehrung – dem hingen die Zähne raus vor Gier und mit gelbem Glanz. Und auf dem Tisch war eine Schüssel und darauf was Gebratenes – so mit einer Linie – woran ich Rosalie erkannte. Und auch an der Scheu in der Ellmanns ihre Stechaugen. Da sage ich es ihr auf den Kopf zu, und sie lügt auf eine Art, daß ich merke: die Wahrheit weiß ich. Und hau ihr unter Tränen in meiner Trauer das Selleriehobel in die Fresse, daß ihre Nase blutete und ihr Auge blau wurde, was aber längst nicht genug war, denn der Ellmann hatte Arbeit, und sie hatten genug zu essen und nie Hunger und Rosalie nicht nötig. Meine Mutter hat es oft schlechter gehabt, aber nie hätten wir Rosalie gebraten, denn es war ein Haustier mit menschlichem Sinn – das soll man nicht essen. Und das ist ein Grund mit, daß ich den Feh behalte. Ich bin ganz kaputt von Erinnerung.
Und bin eine Nacht gefahren. Ein Mann hat mir drei Apfelsinen geschenkt und hatte einen Onkel mit einer Lederfabrik in Bielefeld. Er sah auch so aus. Und wo mir Berlin in Aussicht stand – was sollte ich mit einem, der dritter fährt und sich mit ledernen Onkels auf zweiter hin aufspielt, was immer albern wirkt. Und hatte klebende Haare – staubig blond voll Fett. Und Rauchfinger. Und nach einer Stunde wußte ich alle Mädchen, mit denen er was gehabt hat. Natürlich ganz wilde Sachen und tolle Weiber, denen das Herz und alles gebrochen ist, als er sie verließ – und von Kirchtürmen stürzten und währenddem Gift nahmen und sich den Hals zuwürgten, um nur ja tot zu sein wegen dem Ledernen. Man kennt das ja, was Männer erzählen, wenn sie einem beibringen wollen, daß sie nicht so mies sind wie sie sind. Ich sage da schon gar nichts mehr ein für allemal und tu, als glaube ich alles. Wenn man Glück bei Männern haben will, muß man sich für dumm halten lassen. –
Und ich kam an auf dem Bahnhof Friedrichstraße, wo sich ungeheures Leben tummelte. Und ich erfuhr, daß große politische Franzosen angekommen sind vor mir, und Berlin hatte seine Massen aufgeboten. Sie heißen Laval und Briand – und als Frau, die öfters wartend in Lokalen sitzt, kennt man ihr Bild aus Zeitschriften. Ich trieb in einem Strom auf der Friedrichstraße, die voll Leben war und bunt und was Kariertes hat. Es herrschte eine Aufregung! Also ich dachte gleich, daß sie eine Ausnahme ist, denn so furchtbare Aufregung halten auch die Nerven von einer so enormen Stadt wie Berlin nicht jeden Tag aus. Aber mir wurde benommen, und ich trieb weiter – es war spannende Luft. Und welche rasten und zogen mich mit – und wir standen vor einem vornehmen Hotel, das Adlon heißt – und war alles bedeckt mit Menschen und Schupos, die drängten. Und dann kamen die Politischen auf den Balkon wie schwarze milde Punkte. Und alles wurde ein Schrei, und Massen schwemmten mich über die Schupos mit auf den Bürgersteig und wollten von den großen Politischen den Frieden heruntergeworfen haben. Und ich habe mitgeschrien, denn die vielen Stimmen drangen in meinen Leib und durch meinen Mund wieder raus. Und ich weinte idiotisch aus Erschütterung. Das war mein Ankommen in Berlin. Und ich gehörte gleich zu den Berlinern so mitten rein – das machte mir eine Freude. Und die Politischen senkten staatsmännisch und voll Wohlwollen die Köpfe, und so wurde ich von ihnen mitbegrüßt.
Und wir haben alle vom Frieden geschrien – ich dachte, das ist gut und man muß es, denn sonst wird Krieg – und Arthur Grönland gab mir einmal eine Orientierung, daß der nächste Krieg mit stinkendem Gas wäre, davon man grün wird und aufquillt. Und das will ich nicht. Und schrie darum mit zu den Politischen rauf.
Dann entstand eine allmähliche Zerkrümelung, und in mir stiegen mächtige Gedanken auf und ein Drang, Bescheid zu erfahren über die Politik und was die Staatsmännischen wollten und alles. Denn Zeitungen sind mir so langweilig, und ich verstehe sie nicht richtig. Ich brauchte jemand, der mich auf klärt, und da wehte mir der Abschwall von der Begeisterung einen Mann zu, und über uns war noch wie eine Käseglocke was von allgemeiner Verbrüderung, und wir gingen in ein Kaffee. Er war blaß und hatte einen dunkelblauen Anzug und sah nach Neujahr aus – so, als ob er sein letztes Geld an Briefträger und Schornsteinfeger verteilt hätte. Das aber war nicht der Fall. Er war bei der Stadt und verheiratet. Ich trank Kaffee und aß drei Stück Nußtorte – eins davon mit Sahne, denn ich hatte gehörig Hunger – und in mir war der Wunsch nach politischer Aufklärung. Ich fragte den dunkelblauen Verheirateten, warum die Staatsmännischen gekommen sind? Darauf erzählte er mir: seine Frau...
Erscheint lt. Verlag | 11.10.2013 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 20er • 20er Jahre • Berlin • Klassiker • Roaring Twenties • Roman • Sekretärin • Star |
ISBN-10 | 3-8437-0792-8 / 3843707928 |
ISBN-13 | 978-3-8437-0792-3 / 9783843707923 |
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