Totensonntag (eBook)
400 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-42070-6 (ISBN)
Andreas Föhr, Jahrgang 1958, gelernter Jurist, arbeitete einige Jahre bei der Rundfunkaufsicht und als Anwalt. Seit 1991 verfasst er zusammen mit Thomas Letocha erfolgreich Drehbücher für das Fernsehen, u. a. für SOKO 5113, Ein Fall für zwei und Der Bulle von Tölz. Seine preisgekrönten Kriminalromane um das Ermittlerduo Wallner & Kreuthner stehen regelmäßig monatelang unter den Top 10 der Bestsellerlisten. Zuletzt war 'Herzschuss' Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste. Andreas Föhr lebt zusammen mit seiner Frau und einem Kater in einem alten Bauernhaus in der Nähe von Wasserburg. Wenn er nicht gerade schreibt, geht er am liebsten zum Wandern und Skifahren in die Berge, kocht Lasagne oder genießt das Leben in Italien und dem Burgund.
Andreas Föhr, Jahrgang 1958, gelernter Jurist, arbeitete einige Jahre bei der Rundfunkaufsicht und als Anwalt. Seit 1991 verfasst er zusammen mit Thomas Letocha erfolgreich Drehbücher für das Fernsehen, u. a. für SOKO 5113, Ein Fall für zwei und Der Bulle von Tölz. Seine preisgekrönten Kriminalromane um das Ermittlerduo Wallner & Kreuthner stehen regelmäßig monatelang unter den Top 10 der Bestsellerlisten. Zuletzt war "Herzschuss" Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste. Andreas Föhr lebt zusammen mit seiner Frau und einem Kater in einem alten Bauernhaus in der Nähe von Wasserburg. Wenn er nicht gerade schreibt, geht er am liebsten zum Wandern und Skifahren in die Berge, kocht Lasagne oder genießt das Leben in Italien und dem Burgund.
12
Wallner lauschte dem Rauschen des Föhns und dem aufgewühlten Wasser, das gegen das Seeufer schlug. Eine Weile hielt er die Augen geschlossen und ließ sich den Wind ins Gesicht wehen, die Mütze tief in die Stirn gezogen und die Hände in den Taschen der Daunenjacke. Als er die Augen wieder öffnete, funkelte ihn das Mondlicht an, das sich auf der gekräuselten Wasseroberfläche brach. Der Mond stand über dem Setzberg am Südende des Tegernsees und tauchte die Nacht in ein Märchenlicht. Die schneebedeckten Gipfel rings um den See hoben sich weißlich vor dem Nachthimmel ab, und es war, als erwarte das Gebirge nach diesem letzten Aufbäumen der Wärme die Ankunft eines langen Winters.
Wallner spürte einen Druck auf der Brust, der ihm trotz der frischen Brise kaum Luft zum Atmen ließ. Wieder und wieder stand der riesige Mann vor ihm auf und ließ sich in die Tiefe fallen. Er hätte es verhindern können. Aber er war so überrascht gewesen von Nissls Tat, dass er nicht reagiert hatte. Was schlimmer war – er hatte die Situation vollkommen falsch eingeschätzt. Obwohl Nissls Verzweiflung offensichtlich gewesen war, hatte er nicht eine Sekunde damit gerechnet, dass der Mann sich etwas antun würde. Er hatte alle möglichen Szenarien im Kopf durchgespielt. Doch die hatten alle mit dem Einstieg in das Fluchtauto begonnen. Und einen Moment lang hatte er sogar gedacht, er könnte Nissl zum Aufgeben bewegen. In diesem Augenblick hatte ihn Nissl mit verklärter Milde angesehen, die Wallner wie tiefe Einsicht vorkam. Es war die Sekunde gewesen, bevor sich Nissl das Leben nahm.
»Hör auf, dir die Schuld zu geben«, sagte Claudias verkratzte Stimme neben ihm, und sie nahm seine Hand. »Du bist an seinem Tod am allerwenigsten schuld.«
»Kann sein«, sagte Wallner. »Aber es fühlt sich nicht so an.«
Es hatte eineinhalb Stunden gedauert, bis man Nissls Leiche geborgen und untersucht hatte. Da er nicht eines natürlichen Todes gestorben war, musste sein Ableben kriminalpolizeilich untersucht werden. Außerdem waren die Geiselnahme und die dem Wirt des Hirschberghauses zugefügte Körperverletzung aufzunehmen und gegebenenfalls zu klären, ob noch jemand anderer sich in dem Zusammenhang strafbar gemacht hatte.
Wallner hatte Lukas eine Zusammenfassung der Ereignisse gegeben und war anschließend orientierungslos zwischen den Autos herumgelaufen, bis Claudia vom Hirschberghaus heruntergekommen war und sich seiner angenommen hatte. Wallner war dankbar gewesen, dass sie ihn wegbrachte. Auf dem Weg nach Miesbach hatten sie in Kaltenbrunn am Nordende des Tegernsees angehalten und waren zum Strandbad hinuntergegangen, das im November verlassen vor sich hin dämmerte.
Seit einer halben Stunde saßen sie auf dem Steg des Freibads und blickten auf den See.
»Komm her«, sagte Claudia und zog Wallner an sich. Ganz nah bei ihr, an ihrem Hals, konnte Wallner wieder ihr Parfüm riechen, das mittlerweile eine dezentere, wärmere Note hatte.
»Ich sollte mal ins Bett«, sagte Wallner schließlich.
Am nächsten Morgen wachte er um halb sechs auf. Es war noch dunkel. Draußen hatte der Wind nachgelassen. Es schneite. Wallner lag im Bett und konnte die vielen Gedanken nicht verscheuchen, die in seinem Kopf umherschossen. Immer noch war da dieser Druck auf Brust und Magen, wieder und wieder tauchten Bilder von Nissls Gesicht und von sprudelndem Blut vor Wallners innerem Auge auf.
Schließlich verließ er das Bett und duschte. Als er in die Küche kam, fühlte er sich etwas besser. Zu seiner Überraschung traf er dort auf seine Großeltern. Er hatte vergessen, dass sie um sechs frühstückten. Seit mindestens vierzig Jahren.
Wallner, der während der Polizeiausbildung in München gewohnt hatte, war vor drei Monaten, als er die Stelle in Miesbach angetreten hatte, wieder in das Haus seiner Großeltern eingezogen – das Haus seiner Kindheit. 1977 war Wallners Vater nach Venezuela gegangen und nicht zurückgekehrt. Ob ihm etwas zugestoßen war oder ob er nur nichts mehr mit seiner Vergangenheit zu tun haben wollte, wusste niemand. Jedenfalls hörte man nie wieder von ihm. Wallner war zu dieser Zeit acht Jahre alt. Da seine Mutter schon 1971 bei einem Badeunfall im Tegernsee gestorben war, hatten sich die Großeltern seiner angenommen. Sie waren seine eigentlichen Eltern. Sein Großvater Manfred war erst einundsechzig, klein gewachsen und immer noch drahtig. Die Arbeit in der Papierfabrik hatte seinen Körper in Schuss gehalten. In zwei Jahren plante er, in Rente zu gehen. Karin, Wallners Großmutter, war mit Mitte sechzig immer noch attraktiv, auch wenn ihr fast fünfzig Arbeitsjahre die eine oder andere Falte ins Gesicht gedrückt hatten.
»Ja Bub, was machst denn du so früh da herunten?«, fragte Karin, die an der Arbeitsplatte stand und mit der Zubereitung von Butterbroten für Manfred beschäftigt war. »Da setz dich her. Magst a Ei?«
»Nein danke, ich hab noch keinen Hunger. Einen Kaffee vielleicht.«
Wallner setzte sich zu Manfred an den Tisch und sah ihm beim Verzehr einer Scheibe Graubrot mit Wurstauflage zu. Frische Semmeln gab es um die Uhrzeit noch keine. Karin stellte eine Tasse heißen Kaffee vor Wallner. Der schüttete Milch hinein und beobachtete, wie sie sich mit der braunen Flüssigkeit vermischte. »Ich will ja nicht meckern. Aber kann das sein, dass der Kaffee in der Zeit, in der ich weg war, noch dünner geworden ist?«
»Tja«, sagte Karin und wandte sich wieder den Butterbroten zu.
Manfred machte mit einem Mal einen missgelaunten Eindruck und nahm sogar körperlich, wie Wallner fand, eine Verteidigungshaltung ein. »Der Kaffee is seit zwanzig Jahren der gleiche. Vielleicht machen s’ in München so an Herzkaschperl-Kaffee. Hier bei uns is er eben … bekömmlicher.«
»Jaja«, sagte Karin, stellte einen Teller vor Wallner und ging zur Brotschneidemaschine. Manfred biss mit hochgezogenen Schultern in sein Wurstbrot.
»Hab ich was Falsches gesagt?« Wallner rührte in seinem dünnen Kaffee. »Ich wollte niemanden kritisieren.«
Es folgte Schweigen. Manfred kaute, Karin schnitt Brot.
Und weil das Schweigen auf bedrückende Weise zunahm, sagte Wallner schließlich: »Ist irgendwas?«
»Wieso? Was soll sein?«, fragte Manfred mit vollen Backen.
»Irgendwas ist. Das merk ich doch.«
»Ach! Merkst des?«
»Sag’s ihm halt«, meldete sich Karin mit einer gewissen Schärfe in der Stimme von der Brotschneidemaschine.
»Was soll ich denn sagen?«
»Das weißt du ganz genau.«
»Ah geh, Schmarrn! Tut mir leid, aber des is mir echt zu blöd.«
Wallner verfolgte die Auseinandersetzung mit Interesse. Seine Großeltern hatten sich auch früher öfter Reibereien geliefert. Erosionserscheinungen nach einigen Jahrzehnten des Zusammenlebens. Um der Farce ein Ende zu machen, wandte sich Wallner an Karin. »Jetzt sag schon, was los ist.«
»Er holt den Kaffee aus dem Filter. Wahrscheinlich schon seit dreißig Jahren.«
»Er tut was?!«
»Jetzt mach dich halt net gar aso zum Deppen.« Manfred gestikulierte ausladend mit seinem angebissenen Wurstbrot.
»Was heißt: Er holt den Kaffee aus dem Filter?«
»Jeden Morgen setz ich’s Wasser auf, dann tu ich den Filter mit dem Kaffeepulver auf die Kanne, und dann geh ich ins Bad. Und er gießt den Kaffee auf, wenn’s Wasser kocht. Und ich sag immer: Der Kaffee schmeckt so dünn. Aber dein Opa sagt: Ein Löffel Kaffee pro Tasse. Mehr wär Verschwendung. Und heut hab ich ihn erwischt …«
Wallner sah seinen Großvater an. Der schüttelte den Kopf. »Mir is was ins Kaffeepulver gefallen. Deswegen hab ich da mit dem Löffel …«
»Geh, Schmarrn! Ich hab’s doch genau gesehen. Du hast zwei Löffel Kaffee wieder raus aus’m Filter und in die Kaffeedose zurück. Und ich wunder mich seit dreißig Jahren, dass bei uns der Kaffee so fad is.«
»Auf einmal tät er fad schmecken. Der Kaffee war immer recht. Grad gern hast ihn getrunken. Jeden Morgen drei Tassen. Jetzt erzähl doch net, dass er net schmeckt.«
»Da musst ja drei Tassen trinken, dass es überhaupts was wirkt, des dünne Supperl.«
»Wieso tust du den Kaffee aus dem Filter raus?« Wallner hatte schon mitbekommen, dass alte Leute manchmal etwas wunderliche Angewohnheiten annahmen. Aber das erstaunte ihn dann doch.
»Hat sie dich jetzt aufgehetzt, ja? Bist jetzt auch gegen mich?«
»Nein, ich versuche nur, es zu verstehen.«
»Ich mach des, weil … weil des gesünder is. Wennst ständig starken Kaffee trinkst, kriegst irgendwann an Herzinfarkt. Das weiß doch jeder.«
»Wennst gesund leben willst, dann hör’s Saufen auf«, maulte Karin, während sie hektisch und aggressiv die Butter aufs Brot strich. »Das ist der reine Geiz. Das ist das Gleiche wie mit dene abgebrannten Streichhölzern.«
»Man muss a Streichholz doch net wegschmeißen, wenn’s erst halb abgebrannt ist. Des kannst doch noch mal hernehmen.«
»Okay«, sagte Wallner. »Die Stimmung ist gerade ein bisschen explosiv, wie ich das sehe. Aber es gibt auch positive Aspekte. Ich meine, wenn das eure schlimmsten Sorgen sind! Andere wären froh, wenn sie die hätten.«
Karin klappte wütend das letzte Butterbrot zusammen. »Wennst amal vierzig Jahre verheiratet bist, wirst anders drüber denken. Ich pack’s.« Karin legte ihre Schürze ab und begab sich hinaus in den Flur, um sich fertig zu machen. Denn sie ging heute, wie an zwei weiteren Tagen die Woche, zu einem Herrn Lendtrock, bei dem sie sich als Haushälterin verdingte.
Nachdem Karin gegangen war, packte Manfred die Butterbrote wie jeden Tag in seine braune Lederaktentasche, die nie etwas...
Erscheint lt. Verlag | 17.10.2013 |
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Reihe/Serie | Ein Wallner & Kreuthner Krimi | Ein Wallner & Kreuthner Krimi |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Bodenschneid • Karwoche • Kommissar Wallner • Manfred • Mangfallgebirge • Miesbach • Nazi-Zeit • Polizeimeister Kreuthner • Polizeiobermeister Kreuthner • Prinzessinnenmörder • Schafkopf • Schliersee • Schwarze Piste • Sonnenwende • Sonnwend • Sonnwend-Mord • Tegernsee |
ISBN-10 | 3-426-42070-8 / 3426420708 |
ISBN-13 | 978-3-426-42070-6 / 9783426420706 |
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