Stahlstiche (eBook)
464 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-03401-3 (ISBN)
Fritz J. Raddatz ist der widersprüchlichste deutsche Intellektuelle seiner Generation: eigensinnig, geistreich, gebildet, streitbar und umstritten. Geboren 1931 in Berlin, von 1960 bis 1969 stellvertretender Leiter des Rowohlt Verlages. Von 1977 bis 1985 Feuilletonchef der ZEIT. 1986 wurde ihm von Fran?ois Mitterrand der Orden «Officier des Arts et des Lettres» verliehen. Von 1969 bis 2011 war er Vorsitzender der Kurt-Tucholsky-Stiftung, Herausgeber von Tucholskys «Gesammelten Werken», Autor in viele Sprachen übersetzter Romane und eines umfangreichen essayistischen Werks. 2010 erschienen seine hochgelobten und viel diskutierten «Tagebücher 1982-2001». Im selben Jahr wurde Raddatz mit dem Hildegard-von-Bingen-Preis für Publizistik ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm «Jahre mit Ledig». Der Autor verstarb im Februar 2015.
Fritz J. Raddatz ist der widersprüchlichste deutsche Intellektuelle seiner Generation: eigensinnig, geistreich, gebildet, streitbar und umstritten. Geboren 1931 in Berlin, von 1960 bis 1969 stellvertretender Leiter des Rowohlt Verlages. Von 1977 bis 1985 Feuilletonchef der ZEIT. 1986 wurde ihm von Franςois Mitterrand der Orden «Officier des Arts et des Lettres» verliehen. Von 1969 bis 2011 war er Vorsitzender der Kurt-Tucholsky-Stiftung, Herausgeber von Tucholskys «Gesammelten Werken», Autor in viele Sprachen übersetzter Romane und eines umfangreichen essayistischen Werks. 2010 erschienen seine hochgelobten und viel diskutierten «Tagebücher 1982-2001». Im selben Jahr wurde Raddatz mit dem Hildegard-von-Bingen-Preis für Publizistik ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm «Jahre mit Ledig». Der Autor verstarb im Februar 2015. Ijoma Mangold, geboren 1971 in Heidelberg, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie in München und Bologna. Nach Stationen bei der "Berliner Zeitung" und der "Süddeutschen Zeitung" wechselte er 2009 zur Wochenzeitung "Die Zeit", deren Literaturchef er von 2013 bis 2018 war. Inzwischen ist er Kulturpolitischer Korrespondent der Zeitung. Zusammen mit Amelie Fried moderierte er die ZDF-Sendung "Die Vorleser". Außerdem gehört er zum Kritiker-Quartett der Sendung "lesenswert" des SWR-Fernsehens. 2017 erschien "Das deutsche Krokodil". Mangold lebt in Berlin.
Bruder Baader?
Redlich wünsche ich diesem öffentlichen Vorkommnis einen Untergang in Schanden … Der Bursche ist eine Katastrophe; das ist kein Grund, ihn als Charakter und Schicksal nicht interessant zu finden.
THOMAS MANN, «Bruder Hitler»
Hier soll nicht soziologischer Kaffeesatz gelesen, nicht zu Schalmeienklang rechtsherum getanzt werden, nicht «Archipel Buback» auf Fähnchen gestickt, die im linken Wind flattern; sondern von Menschen wird gesprochen. Bisher hat niemand versucht – niemand gewagt? –, an Gemeinsamkeiten zu erinnern mit einem von denen, die «über den Fluß gegangen» sind. Eine Nation hat den Kopf in den Sand gesteckt, hat sich nicht erinnern wollen – weder an die eigene Geschichte noch an die Personen.
Ein Doppelsalto, der schließlich mit gebrochenem Rückgrat und Paralyse endet; denn sich erinnern, das ist eine moralische Kategorie. Damit eine politische. Und sei es nur im Hinzeigen, wie selten die beiden Begriffe zusammengehen. Sich erinnern, das heißt nach Gemeinsamkeiten forschen. Durchaus im Sinne jenes heiklen Essays von Thomas Mann.
Seltsam doch: Erst wenn einer der schießenden Desperados in Haft war, erfuhr man von einer Mutter, einem Bruder, einer Geliebten, einem Freund. Nie vorher. Identifizierung muß nicht immer den Fingerabdruck meinen, sondern das Forschen nach Gemeinsamem; nur daraus kann die wahre Absage kommen, das trauervoll schneidende Nein, überzeugender als alle Deklamationen. Sympathein heißt nämlich nicht in erster Linie «innerlich billigen», heißt in seiner Grundbedeutung erst einmal «mitfühlen». Also das Gegenteil jener Peinlichkeit auf halbmast wehender Mercedes-Fahnen. Automobilfabriken sollten bilanzieren, nicht flaggen, halbmast schon gar nicht. Eine Firma kann nicht trauern. Aber ein Mensch. Emphase, Teilnahme, Urteil: Das ist nur möglich, wenn Erbarmungslosigkeit sich nicht in der Aburteilung eines einzelnen erschöpft, sondern zum Beurteilen einer Gesellschaft führt. Die Frage bleibt letztlich: Ist die Gesellschaft schuld?
Es ist die entscheidende Frage. Sie muß beantwortet werden. Der Terrorist, der den Bankier Ponto erschoß, ist so gut Produkt dieser Gesellschaft wie der Bankier Ponto. Auch Fehlentwicklungen sind Entwicklungen. So töricht es ist, jedes legasthenische Kind als «Versagen der Gesellschaft» vorzuführen, so ohne Moral und Verantwortung ist es, ihr ersichtliches Versagen hinwegzumogeln.
80000 drogenabhängige Jugendliche. 82000 Jugendliche ohne Arbeitsplatz. 300000 Jugendliche zwischen 14 und 29 Jahren alkoholgefährdet. Die höchste Rate an Kinderselbstmorden in Westeuropa (500 jährlich). Die höchste Rate an stellungslosen Akademikern in Europa (etwa 40000), 40 Prozent der Studenten in psychiatrischer Behandlung. Die niedrigste Rate von studierenden Arbeiterkindern in Europa (13 Prozent) – und das alles soll keine Folgen haben? Und das alles, dieser Rostfraß unter dem Lack der Produktgesellschaft, soll nicht Ursache sein? Jeder neunte Jugendliche in der Bundesrepublik lehnt das bestehende Gesellschaftssystem ab, und einer, der es wissen muß, der Ex-Terrorist Hans-Joachim Klein, dokumentiert: «Ich weiß von Siebzehn- und Achtzehnjährigen, die würden heute am liebsten ein Inserat in der FAZ aufgeben, um eine Knarre zu kriegen und in den Terror einzusteigen.»
Die sich da zu Tode fixen (84 allein im Jahr 1977 in Berlin); die sich da zu Tode trinken; die da schließlich andere totschießen – mit denen haben wir alle nichts zu tun? Unterwelt, Abschaum, Ratten? Auch wenn es unsere Söhne und Töchter sind, die die saturierten Vorstadthäuschen verlassen haben, ins Nirgendwohin?
Hier ist zweierlei zu sagen. Wer diese Gebärde der Wegwerfgesellschaft zur Verfügung hat, der handelt unmoralisch. Menschen sind keine Einwegflaschen. Dem liegt eine verborgene Erbarmungslosigkeit zugrunde.
Es liegt aber noch etwas anderes zugrunde, das vielleicht Schlimmere, kaum mehr verborgen: die gänzliche Unfähigkeit, analytisch zu denken, simpelste kausale Abfolgen zu erkennen. Das betrifft auch – oder gerade – die, bei denen ständige winzige Verletzungen des Menschlichen eines Tages das Unmenschliche hervorrufen. Wo die Titelzeile «Kennedy erschossen» garniert ist mit «Kein Schälen, kein Schneiden, keine Tränen! – Thomys Röst-Zwiebeln»; wo das Foto vom Mord an einem Vietcong garniert wird mit sekttrinkender Fürstenhochzeit und BMW-Reklame; wo das Wort «Dichtkunst» in ganzseitigen Anzeigen nur noch im Zusammenhang sanitärer Abdichtungen und das Wort «revolutionär» für Schrankwände verwendet wird; wo Mannequin-Passagiere der «Landshut» eine Woche nach Mogadischu ihre läppischen «Erinnerungen» pfennigweise verkaufen – da muß doch, leise, langsam, unmerkbar erst, eine Verbiegung von Wahrnehmungen, ein Zerklirren von Werten stattfinden. Wie mühelos ließe sich eine Anthologie der ekelhaftesten «Gedankenlosigkeiten» zusammenstellen, Bilder verhungerter Kinder neben Kaviarreklame und Aufnahmen der Vergifteten von Seveso neben Chemiewerbung. In Wahrheit gibt es, bei wachen Aufnahmeapparaturen, keinen Tag ohne Schock. Schock heißt Angst. Angst heißt Haß.
Unserer bürgerlichen Welt begegnet eine ganze Generation in dieser Schock-Angst-Haß-Mischung. «Diese Menschen leben nur noch körperlich anwesend», hieß es kürzlich in einem höchst eindrucksvollen Aufsatz. Sie leben in einem anderen Staat – wenn wir Glück haben: abgekapselt von der Wirklichkeit in einer selbsterrichteten Kunstwelt, eine Hohn- und Ekelmeile legend zwischen sich und das, was für sie alles dasselbe ist; Waschmittelwerbung oder Kanzlerinterview. Wer je erlebt hat, mit welch gleichgültiger Selbstverständlichkeit oder feixender Verachtung der Fernseher abgedreht wird in einer Runde dieser jungen Leute, der weiß, wie recht Nobert Klugmann mit dem erwähnten Artikel in der «Frankfurter Rundschau» hat:
Richtig ist: Von hier droht kein Bombenwurf; Entführungen werden nicht geplant, Molotow-Cocktails nicht gebastelt. Aber: Von hier wird dem Staat und seinen Repräsentanten in unheimlich schweigender Manier der Prozeß gemacht, wird ihm seine Berechtigung abgesprochen, weiterhin in unerträglich penetranter Weise das alles umfassende Gemeinwohl für sich zu reklamieren. Der Zug ist schon abgefahren: Es gibt heute einen Staat im Staat. Einen anarchistischen, völlig gewaltlosen, unverbundenen Zusammenhang in Großstädten, schwächer bis sehr schwach in der Provinz (aber das wird noch werden), der praktisch nicht mehr angreifbar (= unansprechbar) ist. Dieser Staat begeht keine Rechtsbrüche (ich hüte mich, die wenigen idyllischen zu nennen), er nimmt auch kaum Rauschgifte zu sich, und wenn, dann des Staates Lieblingsgift Alkohol. Dieser Staat im Staat wird nie eine Organisation haben, eine Führung schon gar nicht. Womit auch die vordergründige – zugegeben naheliegende – Assoziation vom Staat im Staat als einem funktionierenden, irgendeinem gewohnten Zweck nutzbar zu machenden Ratio-Gegenstand ad absurdum geführt wäre. Der Ausdruck Staat im Staat soll lediglich ein (Aus-)Maß an Abschottung ausdrücken.
Sie sehen sich als eine Generation «Gewähr bei Fuß». Eine Million von ihnen wurde als Bewerber für den öffentlichen Dienst überprüft; 285 Periodika, für die sie sich interessieren – vom «Argument» über das «Kursbuch» bis zur «Sozialistischen Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft» –, wurden auf Schnüffellisten des Verfassungsschutzes festgehalten; 239 ihrer Bünde und Organisationen ebenso – von «Amnesty International» bis zum «Werkkreis Literatur der Arbeitswelt». Nach der Schleyer-Entführung – keine deutsche Zeitung, lediglich die «New York Times» nannte ihn «a once hated SS-man» – wurde jeder von ihnen – jeder zwischen 20 und 30 –, der nach Frankreich fuhr, überwacht; selbst Mitglieder der Jungen Union. Gewiß das am besten geeignete Mittel, Trauer und Abscheu angesichts eines Ermordeten zu erzeugen. Die gräßliche Schnippischkeit des Berliner Witzes «Andreas und Gudrun heiraten – einen Schleyer haben sie schon» ist das dünnste Resultat. Die Einführung des Wortes «Berufsverbot» ins Umgangsenglisch und -französisch ein anderes. Selbst die nicht direkt linkslastige «Financial Times» schreibt: «Westdeutschland leidet an einem leichten Anfall von Autoritarismus.»
Die Liste der Vergehen, derer man diesen Staat anzuklagen hat, wäre lang – von der untersagten Carl-von-Ossietzky-Namensgebung für eine deutsche Universität (gleichsam ein zweites Todesurteil für den pazifistischen Schriftsteller) bis zum entlassenen linken Armeekoch, eine Farce, die selbst Conrad Ahlers fragen läßt: «Hat er zu oft rote Bete serviert?» Nur gefriert einem das Witzeln; wer von kritischen Geistern als von «Ratten und Schmeißfliegen» spricht – Ungeziefer, das man gemeinhin mit Gas ausrottet –, der ist nicht mehr zu bespötteln. Darunter liegt eine deutsche Sehnsucht nach Katastrophe und Untergang, die ihn mit derselben Intensität herbeibeschwört, wie sie Demokratie als das normale Miteinander von Gegensätzen nicht versteht, also zugrunde verteidigt.
Vakuum des historischen Bewußtseins ist immer auch Vakuum der Moral. Das ist beweisbar bis ins winzigste Detail von Redeweisen: Wer von...
Erscheint lt. Verlag | 20.9.2013 |
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Vorwort | Ijoma Mangold |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | Apartheid • Buchbesprechung • Essay • Glosse • Interview • Kunst • Literatur • Politik • Portrait • Weltkrieg • Wiedervereinigung |
ISBN-10 | 3-644-03401-X / 364403401X |
ISBN-13 | 978-3-644-03401-3 / 9783644034013 |
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