Die Wahrheit über Berlin (eBook)

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2013 | 1. Auflage
256 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-402325-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Wahrheit über Berlin -  Peter Baharov
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Ironisch und politisch unkorrekt: nichts als die Wahrheit über Berlin! Der Sound der Hauptstadt - das junge Berliner Multitalent Peter Baharov hat ihn eingefangen in Szenen und Stories. Er erzählt ehrlich und originell von Ur-Berlinern, Neu-Berlinern und wie man sich zusammen auseinanderlebt in einer Hauptstadt voller Parallelbezirke und Szenegesellschaften. Die Wahrheit über die Hauptstadt steht nicht bei Wikipedia, sondern in diesem Buch. Eine schräge Citytour voll noch schrägerer Geschichten, die nur das Berliner Leben schreiben kann!

Peter Baharov ist Wahl-Berliner. Nach Sofia, Singapur, Sydney und Schwabing ist er jetzt in Schöneberg gelandet und beobachtet die Eingeborenen und Zugezogenen und ihre mehr oder weniger erfolgreichen Anpassungsversuche in ihrem Kiez.

Peter Baharov ist Wahl-Berliner. Nach Sofia, Singapur, Sydney und Schwabing ist er jetzt in Schöneberg gelandet und beobachtet die Eingeborenen und Zugezogenen und ihre mehr oder weniger erfolgreichen Anpassungsversuche in ihrem Kiez.

das politisch Unkorrekte bildet das Grundrauschen […]. Der Titel weist dabei den Weg: ›Die Wahrheit über Berlin‹ ist in seinem Absolutheitsanspruch genauso frech wie der Rest.

Da geht es nicht immer glamourös zu und auch nicht immer politisch korrekt – aber meistens sehr lustig.

Die Berliner Wand


Für eine Geschichte lang behaupte ich, Berlin wäre wieder geteilt. Eine unsichtbare Wand rund um West-Berlin versperrt Nicht-West-Berlinern und anderen genetischen Aberrationen den Zugang. Sobald ein Hussein, ein Ronni oder eine Jelena in ihre Nähe kämen, würde sie hart wie Stahl und zäh wie … na ja, undurchdringlich eben. Käme hingegen der Dieter aus Charlottenburg, würde sie sich in Luft auflösen und ihn willkommen heißen.

Man muss sich das nur mal vorstellen! Alle schönen Jobs würden dann von West-Berlinern erledigt: Busfahrer, Bauarbeiter, Müllmänner, Müllfrauen, Müllkinder, Müll… und auch alle Nicht-Müll-Tätigkeiten. Natürlich müsste man Türken, Kroaten, Russen, Ossis und andere Exoten durch West-Berliner Äquivalente ersetzen, sonst würden Kreuzberg, Charlottenburg, der Wedding und Neukölln einer menschenleeren Wüste gleichen.

Beginnen wir also das Experiment. Wie sieht das Leben dann also konkret in diesen Stadtvierteln aus?

 

In Kreuzberg sehen alle aus wie Herr Lehmann und steuern nachts planlos durch Kneipen, in denen keiner redet. Sie sind ohne Ausbildung, haben ständig wechselnde Gelegenheitsjobs, bei denen sie sofort wieder rausfliegen, da sie immer zu spät kommen. Spitznamen wären für jeden Pflicht und würden wie folgt lauten:

Todes-Michi,

Steffi-in-den-Arsch-Koletzki,

Korn-Horst,

Zwee-Schnitzel-Jürgen,

Hartz-IV-Gabi,

und so weiter.

 

»Der Kneiper« ist in Kreuzberg die höchste Evolutionsstufe und eine absolute Respektsperson. Durch gezielte Vergabe der Gelegenheitsjobs steuert er das soziale Gefüge und sorgt so für die »Balance of Power« in seinem Kiez. Wie viel Molle (Bier) und vor allem wie viel Korn er dem Todes-Michi ausschenkt, hängt von vielen Faktoren ab:

  1. Todes-Michis Platz auf der Skat-Rangliste

  2. Wie oft wurde er in der letzten Woche entlassen?

  3. Hat er Steffi Koletzki schon mal …?

Ein optimales Ergebnis für Michi wäre:

  1. Nr. 1; b. siebenmal; c. »Logens, Alta!«.

In diesem Fall würde der Kneiper »Flätt-Räit!« brüllen, Michi einen Gelegenheitsjob anbieten und ihn bis zur Besinnungslosigkeit abfüllen. Am nächsten Tag müsste dieser dann mit Zwee-Schnitzel-Jürgen für umsonst die Toiletten putzen, da er natürlich verschläft. Geil!

Ein Kiez wie ein Uhrwerk.

Tagsüber würden alle, die gerade kein Engagement haben, ihrer eigentlichen Bestimmung nachgehen: Skulpturenbauen, Singen, Ausdruckstanz, Tarotkartenlegen … Und wenn sie gaaaaanz viel Glück haben und gaaaaanz fleißig waren, kann es passieren, dass ein Charlottenburger Schnösel vorbeikommt und ihnen eine Ausstellung oder ein Konzert am Savigny-Platz anbietet.

Da kommt dann keiner hin.

 

Schon in Charlottenburg angekommen, können wir uns ja mal umsehen. Da die Wand ja nur West-Berliner durchlässt, sorgt das auch in Charlottenburg für gravierende Veränderungen. Vielen ist nämlich nicht bewusst, dass es hier vor dem Mauerb… äh, Wandbau von Russen und Chinesen nur so wimmelte. Die einzigen Hinterlassenschaften dieser Volksgruppen sind riesige Mengen an Kaviar und Sojasoße. In Kombination schmeckt das irgendwie nicht, vor allem nicht zu Pommes und Curry, deshalb verbrennen die neuen Bewohner alles auf einem großen Haufen. Was früher der »Ernst-Reuter-Platz« war, heißt jetzt »Platz-der-Kaviar-Verbrennung«. Zum Jahrestag dieses Ereignisses würden die Berliner Glückskekse backen und sie alle zusammen zum Takt des Radetzky-Marschs zertreten. Mazel Tov!

 

Was in Kreuzberg der Kneiper, ist in Charlottenburg der Schnösel. Er fährt einen weißen SUV und parkt immer in zweiter Reihe. Wenn die Straßen leer sind, stellt er sich vor eine Einfahrt oder auf einen Behindertenparkplatz. Aus Prinzip. Er hat nämlich Kohle und scheißt auf alles. Die Welt soll dafür bezahlen, dass er als Jugendlicher beim Polospiel einen Hoden verloren hat und deswegen von Donata Oetker (Enkelin des berühmten Apothekers) ausgelacht wurde. Er steigt einfach aus, geht in eines der vielen Cafés und bestellt sich dort einen Chardonnay. Den ersten lässt er aus Prinzip immer zurückgehen. Und da hinter einem reichen Schnösel immer eine dummgeile Frau steht, sieht man diese Porno-Zombies-auf-Stelzen an jeder Straßenecke. Meistens damit beschäftigt, wieder auf die Beine zu kommen, nachdem sie über ihren Chiwawa gestolpert oder gegen einen SUV gerannt sind. Es gibt hier nur zwei Kasten: »Schnösel mit Schlampe« und »Service-Gesindel«. Letzteres arbeitet in Boutiquen, Feinkostgeschäften, Botox-Bars, Cafés und Restaurants. Nach getaner Arbeit müssen sie dann raus aus Charlottenburg. Zuerst werden sie auf dem Kurfürstendamm zusammengetrieben und dann zur Melodie von Harald Juhnkes »Was nützt das schlechte Leben?« feierlich aus dem Kiez gefegt. Der Schnösel sitzt währenddessen auf dem Balkon des berühmten, wiedereröffneten »Café Kranzler« und summt fröhlich den Refrain mit, während er an seiner Havanna nuckelt. Neben ihm Donata, die voller blauer Flecken an ihrem Rosé-Sekt nippt. Ach nein – es ist Champagner. Sie hat sich nur mit ihren roten Krallen am Auge verletzt und blutet jetzt ein wenig. La Dolce Vita!

 

Der Gewaltmarsch des Service-Gesindels endet im Wedding, wo es in seine ärmlichen Behausungen zurückkriecht. Da ja alle in Charlottenburg schaffen, ist im Wedding tagsüber tote Hose. Alte, Kranke und Kinder ziehen durch die leeren Straßen und machen Tauschgeschäfte. Kaputte Tasse gegen Topf mit Loch, ein Ohrring gegen etwas Hasch, Benjamin-Blümchen-Kassette gegen halbe Wiener, et cetera. Diejenigen, die aus irgendeinem Grund nicht auf der Gesindel-Schule waren, sind jetzt arbeitslos und hängen den ganzen Tag im Job-Center rum. Da es sowieso keine Jobs gibt, es sei denn jemand wird auf dem Nachhausemarsch aus Charlottenburg zertrampelt, gleicht das Arbeitsamt einem Freizeitheim. Es wird Tischtennis, Skat und Stehschach gespielt und dazu fleißig geraucht. Im Keller gibt’s ein Vereinsheim, das »Wild Wedding«, aus dem ständig das Beste der Siebziger, Achtziger und das Beste von heute dröhnt. Es gibt wenige Weddinger, die den Sprung aus dieser Ausweglosigkeit schaffen, denn die einzige Möglichkeit besteht darin, sich in Neukölln selbständig zu machen. In den anderen Stadtteilen ist nichts zu holen: Kreuzberg ist dicht (die Kneiper lassen keinen mehr rein), und Schöneberg fährt eine strikte »Gay-Only-Policy«. In dieser Vorstellung von einem utopischen Neo-West-Berlin hat es Klausi jedoch geschafft. Er ist stolzer Besitzer eines Imbisses in bester Neuköllner Lage, direkt am Rathausplatz. Das Geschäft läuft gut, was für ihn anfangs überhaupt nicht abzusehen war. Als er damals im »Wild Wedding« mit seinen Freunden Dart spielte und so besoffen war, dass er statt der Dartscheibe Tresen-Monis Hintern traf, bekam er Hausverbot und durfte das Job-Center nicht mehr betreten. Eine Form von sozialer Ächtung, die einem im Wedding das Genick brechen kann. Verzweifelt stolpert Klausi Koletzki an diesem Abend nach Hause und überlegt sich, was sich aus seinem kaputten Leben noch machen lässt. Er hat keine Lust, mit den Alten und Kranken durch den Kiez zu steuern, und so wird alles, was zum Tauschen geeignet ist, in einen Jutebeutel gepackt. Klausi macht sich auf den Weg nach Neukölln!

 

Er hat in der Kneipe schon von den vielen leerstehenden Läden gehört, die es in Neukölln gibt. Keiner weiß genau, warum sich niemand an diese Immobilien herangetraut hat. Es wird gemunkelt, sie wären mit unheimlichen Geräten bestückt, deren Nutzen jedem vollkommen schleierhaft sei. Von »sich drehenden Spießen« wurde erzählt. »Ein SENKRECHTER Grill.« So was Bescheuertes!

Doch Klausi hatte keine Angst.

In Neukölln angekommen tauschte er zwei halbe Wiener, zehn Kronkorken, einen Aufkleber von der Diddel-Maus und dreieinhalb Paar Socken gegen seinen jetzigen Laden ein. Selbst für den seltsamen Grill fand er Verwendung.

Er nahm ein Eisbein, spießte es auf den Drehspieß, dann drei Bratwürste, dann etwas Schweinemett, Spiegelei und oben drauf wieder Eisbein. Das Ganze wiederholte er so lange, bis der Spieß voll war. Nun ließ er ihn rotieren und wartete, bis die Oberfläche knusprig wurde. Mit einem langen Messer schnitt er die äußerste Kruste der Länge nach runter und hatte so in der Fettpfanne knusprige Fleischfetzen. Jetzt brauchte er nur eine Schrippe (Brötchen) aufzuschneiden und die Stücke hineinzustopfen. Fertig war die Laube! Er benannte die Kreation nach seiner Mutter »Stefanies Sändwitsch«. (Sie hatte die Familie verlassen, als Klausi Koletzki noch ein Baby war.) Und sein Businessplan geht jetzt voll auf.

Die Neuköllner Bevölkerung, hauptsächlich aus Arbeitern und Beamten bestehend, hat lange, gewerkschaftlich klar definierte Mittagspausen und stopft sich nun in diesen mit Klausis Fastfood den Wanst voll. Die Warteschlange vor seinem Imbiss reicht manchmal sogar bis zu »kik«, dem Textil-Diskont – das schlagende Herz Neuköllns. Dort findet das soziale Leben statt: Die Jungmuttis mit Rastazöpfen demonstrieren vor dem Bekleidungsgeschäft gegen die Ausbeutung der Dritten Welt, die Omis schleichen sich durch den Seiteneingang rein und kaufen Babyklamotten für ihre Enkelchen. Wieder zu Hause sticken sie auf die Etiketten einfach »Fehr Treed« und schenken die chemisch gefärbten Miniaturkleidungsstücke ihren vom ewigen Dagegensein total übermüdeten Ökotöchtern.

Ihre kleinen Thorbens und Britts wachsen unter...

Erscheint lt. Verlag 25.4.2013
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Berlin • Citytour • Erzählung • Hackepeter • Integration • Kiez • Kreuzberg • Reportage • Schöneberg • Späti • Wahlberliner
ISBN-10 3-10-402325-5 / 3104023255
ISBN-13 978-3-10-402325-0 / 9783104023250
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