Unzeitgemäße Gedanken (eBook)

Tagebücher 2

Ernö Zeltner (Herausgeber)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
440 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-96138-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Unzeitgemäße Gedanken -  Sándor Márai
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Für Sándor Márai ist 1945 ein Schicksalsjahr, es ist der Untergang der alten Welt, das Ende des bürgerlichen Zeitalters, dem er mit Leib und Seele angehörte. Genau beobachtet er, was um ihn herum geschieht, liest Zeitung und lauscht den Informationen der BBC, die auch in Ungarn zu empfangen ist. Als scharfer Kommentator und zorniger Prophet beschreibt er die Zustände in seinem Land und nimmt die Zukunft Europas in den Blick. Klug, hellsichtig, anrührend, zutiefst human und persönlich sind die unzeitgemäßen Gedanken des bürgerlichen Demokraten Márai, der neben seinen Notizen zu William Shakespeare und Charles Baudelaire, Georg Büchner und Sigmund Freud seine Ansichten zu Neubeginn und Emigration verfasst. Das leidenschaftliche, ebenso persönliche wie zeithistorische Dokument eines großen Schriftstellers und Denkers.

Sándor Márai, 1900 bis 1989, gehörte zu den gefeierten Autoren Europas, bis er 1948 mit seiner Emigration nach Italien und in die USA in Vergessenheit geriet. Mit der Wiederentdeckung des Romans »Die Glut« wurde er 1998 weltweit gelesen und als einer der bedeutendsten Schriftstellers des 20. Jahrhunderts erkannt. Der Niedergang des europäischen Bürgertums zählt zu seinen wichtigsten Motiven.

Sándor Márai, 1900 bis 1989, gehörte zu den gefeierten Autoren Europas, bis er 1948 mit seiner Emigration nach Italien und in die USA in Vergessenheit geriet. Mit der Wiederentdeckung des Romans "Die Glut" wurde er 1998 weltweit gelesen und als einer der bedeutendsten Schriftstellers des 20. Jahrhunderts erkannt. Der Niedergang des europäischen Bürgertums zählt zu seinen wichtigsten Motiven.

Siebzehn Jahre lang habe ich im Bezirk Christinenstadt und in der Wohnung in der Mikógasse gelebt; das war die vollkommenste Zeit meines Lebens, die Zeit der Arbeit.

Ungarn sagte man in der Welt nach, es sei das »Land der Herren«. Das stimmt nicht: Ungarn ist schon lange nicht mehr das Land der Herren, sondern die Heimat der gernegroßen Proleten. Die wahren Herren hat dieses Land ebenso verloren wie seine Kultur. Übrig geblieben sind die plötzlich reich gewordenen Lümmel, eine prahlerische und habgierige Gentry, die ohne Verantwortungsgefühl und moralischen Anspruch für ihren Stand unverdiente Vorrechte gefordert haben.

Jetzt beklagt sie sich, weil sie verliert: Der Krieg und die Bomben, die allgemeine Zerstörung, haben dieses gernegroße Parasitenvölkchen aus seiner Bequemlichkeit und seinem Besitz getrieben. Wie sehr ich diese heulenden falschen Herrschaften verachte! Fürst Esterházy verliert wahrscheinlich in diesen Tagen zweihunderttausend Joch und die dazugehörige darauf aufgebaute Lebensweise, und wahrscheinlich lamentiert er nicht, sondern stellt ganz einfach fest: Er habe verloren. Doch die Proleten winseln und weinen, mit echten Tränen in den Augen, der Vitrine nach, der Mitgliedschaft im Aufsichtsrat und dem Oberregierungsratstitel; weil sie keine Herren sind.

Ein großes Ereignis: Jemand hat einen Taschenkalender von 1945 organisiert. Neugierig blättern wir darin.

Auf der ersten Seite die gewohnten Rubriken: Wohnungsanschrift, Nummer der Uhr, Gewicht, Policennummer der Unfallversicherung, Nummer des Reisepasses, Wertpapiernummern, Nummer des Lotterieloses, Monatskarte … Ich betrachte die Rubriken mit einiger Heiterkeit. Eine Wohnung habe ich nicht mehr, sie wurde vom Krieg zertrampelt, mein Körpergewicht verringert sich entschieden, meine Uhr wurde konfisziert, eine Unfallversicherung abzuschließen wäre heutzutage wahrlich ein ungewöhnliches Unterfangen, Aktien und Reisepass … als wollte der Kalenderredakteur die Menschen verhöhnen!

Am Leben zu bleiben ist jetzt sehr schwierig; doch man braucht zum Leben wesentlich weniger als irgendwann.

Der Kalender fordert mich dazu auf, auch die »wichtigsten Telefonnummern« einzutragen … Diese Rubrik amüsiert mich besonders. Irgendwann hatte auch ich in meinem Notizbuch ein paar Telefonnummern notiert. Doch jetzt, da in Budapest kein einziges Telefon mehr funktioniert und die Russen hier in der Umgebung die Telefonapparate abmontieren und mitnehmen, habe ich auch dieser überflüssigen Rubrik abgeschworen.

Ein schwerer Tag. Jetzt weiß ich, wie die Lage in Budapest, im ganzen Land ist, und es ist auch nicht schwierig, sich aus den Bruchstücken der Gegenwart ein Mosaik der Zukunft zusammenzufügen … Man lebte, plagte sich, wartete auf etwas. Dieses »Etwas« ist jetzt hier und ist, wie es ist. Es überrascht nicht, dass es ist, wie es ist, doch auch die schlechten Aussichten waren besser als die sichere Aussichtlosigkeit.

Gott vielleicht. Wie er alles regelt, auf wunderbare Weise. Wenn ich es denn aushalte, innerlich, mit Nerven und Geduld, bis ich seinen Willen erkenne.

Mein Hausmeister, ein intelligenter und aufrichtiger, mutiger Drucker, der schwer verletzt wurde, erzählt Bekannten von mir, dass sich während der Belagerung – bevor die Bomben die Wohnung vernichteten und das Haus zerstörten – viele an meiner Wohnung vergriffen haben: die Pfeilkreuzler, die Deutschen, der Mob. »Das meiste haben die ungarischen Polizisten weggeholt«, sagte der Hausmeister.

Ein großer Schriftsteller schafft auch aus den Abfällen schlechten, billigen Materials, aus abgedroschenen literarischen Gemeinplätzen ein Meisterwerk. Stendhal entwickelt aus einer Situation, die trivialer und groschenromanhafter nicht sein könnte, die schönsten Szenen der Chartreuse de Parme: Der Sträfling Fabrice verliebt sich in die Tochter des Kerkermeisters, und aus dieser Liebe ergibt sich die Befreiung für den Sträfling und das Liebespaar … Der Leser schreibt diese Zeilen nieder und wird rot vor Scham. Stendhal schreibt die Szene wortwörtlich so hin, und der Leser ist entzückt, weil er ein Meisterwerk liest.

In einer Zeitschrift lese ich, ich sei von den Deutschen verschleppt worden; das stimmt nicht. Aber es lag nicht nur an den Deutschen, dass es nicht stimmt.

Die Sohlen meiner beiden Schuhe haben ein Loch; und ich besitze keine anderen Schuhe. Das ist fast wie die Jugend; und dennoch ist es nicht dasselbe.

Am Nachmittag kommt eine bekannte, mit uns verwandte Familie, sie sehen alle aus wie Gespenster; unsere Nachbarn aus Buda. Neun Wochen lang haben sie Tag und Nacht mit siebzig anderen im Keller in der Attilastraße verbracht. Sie bringen die erste schmerzliche persönliche Nachricht: Der Hausmeister unseres Hauses in der Mikógasse ist an den Verletzungen, die er während der Belagerung erlitt, gestorben. Die Frau sitzt allein im Keller der Hausruine und lässt uns sagen, sie würde auf die wenigen Habseligkeiten, die uns geblieben sind, aufpassen. Der Mann wurde von keinem Krankenhaus aufgenommen; er starb im Keller; seine letzten Worte an seine Frau waren: »Pass auf das Haus auf.«

In diesen Wochen weine ich zum ersten Mal; weine um diesen Menschen, der das Musterbeispiel an Redlichkeit, Männlichkeit und Treue war; im abscheulichen letzten Jahr behütete er all unsere Habe und uns selbst mit ganzer Kraft und all seinem Wissen; bis zum letzten Augenblick stand er seinen Mann gegen die Pfeilkreuzler, die mich während der Belagerung suchten, um mich zu verschleppen und umzubringen, in ihrer hilflosen Wut plünderten sie dann meine Wohnung und legten Feuer. Auch seine Verletzungen hat er erlitten, als er im Bombenhagel die Sachen fremder Leute rettete. Auf seinem bescheidenen Posten stand er seinen Mann, ein Held, der sich schlug und bis zum letzten Augenblick hütete, was zu hüten seine Pflicht war, wie er glaubte … Es gibt auch ein Hausmeisterheldentum; und wer die letzten Monate erlebt hat, weiß, was so ein Mensch zu tun imstande ist und wie rechtschaffen das ist und was für ein wahres Heldentum!

Ich fahre nach Buda, ich will mit seiner Frau sprechen, will sie beruhigen und etwas für sie tun. [Im Manuskript ursprünglich: teile alles, was uns geblieben ist, mit ihr.]

In einer Zeitschrift mit dem Titel Endlich in Druck wird verlautbart, dass die Verse des Dichters Z. Sz. – die das Publikum in den Jahren der Pfeilkreuzler- und Nazischreckensherrschaft nur bei illegalen Zusammenkünften hören konnte – endlich das Licht der Welt erblicken. Im Voraus wurden einige lyrische Gustostücke abgedruckt. Das erste Gedicht, das ich lese, fängt so an:

Adolf, Adolf hat die Krätze,

das Monster dieser Volksverhetze …

und genauso schwungvoll geht das Gedicht weiter. Beim Lesen dieser Ergüsse kann ich wiederum nur in mein Tagebuch schreiben, was ich letztens beim Lesen des »schönsten antisemitischen Gedichts«, das in dem inzwischen eingestellten antisemitischen Fachblatt Kampf veröffentlicht wurde, vermerkt habe: Die ungarische Lyrik lebt.

Die Zukunft vorhersagen kann keiner von uns; aber so wie ein Kind seine Holzbauklötze aufschichtet, so leicht fällt es uns, aus den Versatzstücken der Wirklichkeit die Zukunft aufzubauen …

Die ungarischen Fabriken werden demontiert, die Städte sind stark demoliert, die Intelligenzija ist korrumpiert oder mutlos, die Kultur in der Politik liegt im Sterben, Budapest ist zerstört. Was soll aus all dem werden? Elend, Trostlosigkeit, ein Vegetieren, langsamer Verfall.

Die Russen lassen sich, sobald sich eine Möglichkeit ergibt, die Haare schneiden und fotografieren.

Meine Besucher erzählen, dass die Menschen während der Belagerung Budas aus dem Felsenkeller in der Burg – wo mehrere Tausend Menschen festsaßen – lieber ins Freie, mitten in die Bomben, flüchteten.

In Tótfalu, um Mehl zu besorgen. Im Morgengrauen setze ich in einem Seelenverkäufer über die Donau, die Hochwasser führt. Der Müller will mir kein Mehl mehr geben, um keinen Preis, auch nicht im Tausch; schließlich flüstert mir sein Gehilfe zu, »der Alte« gebe Mehl nur noch für Gold; ich solle ihm irgendeinen goldenen Gegenstand anbieten … Ich besitze eine kleine Damenarmbanduhr und verspreche, sie beim nächsten Besuch mitzubringen; für das Glitzern dieses Versprechens bekomme ich zehn Kilo Mehl zu einem gepfefferten Preis.

Mit dem Mehl gehe ich zum Bäcker, er soll uns Brot daraus backen. Eine missmutige Frau empfängt mich, mustert den Kissenbezug, in dem ich das Mehl transportiere, schließlich gibt sie mir – für Geld, also als Geschenk! – drei Kilo Brot. Solche menschlichen Überraschungen machen mir von Zeit zu Zeit noch Lust zu leben.

Die Dorfleute rechnen mit der Hysterie des hungernden Budapest und verkaufen nichts, auch nicht für Leinen, für Schuhe, für Kleidung; sie hoffen, dass die Budapester sogar den Mamaliga mit Napoleondor bezahlen werden; und vielleicht hoffen sie nicht vergeblich … Eine hiesige Frau tratscht mit der Nachbarin an der Straßenecke und äußert sich voller Zorn über diese »ausgehungerten Budapester Aasgeier …«.

Zurück durch tiefen Schlamm über den Damm, im Regen, im orkanartigen Sturm. Auf den aufgeweichten Wegen wanken die ausgehungerten »Budapester Aasgeier« dahin, in Bettbezügen schleppen sie ihre Sachen heran, sie wollen Unterkleider und Hausjoppen gegen Lebensmittel tauschen. Zu Mittag erreiche ich die Fähre in Pócsmegyer; mehrere Dutzend Menschen warten hier, um auf die Hauptstraße nach Szentendre überzusetzen; ein Russe hat im Dorf Kälber »besorgt«, elf an der Zahl, und verbietet dem Fährmann, Zivilisten zu transportieren; das Vieh...

Erscheint lt. Verlag 12.3.2013
Übersetzer Clemens Prinz
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Briefe / Tagebücher
Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1945 • Bekenntnisse • Buch • Bücher • Die Glut • Die Gräfin von Parma • Dokument • Jahr 1945 • Kanon • Literatur aus Ungarn • Nachkriegszeit • Sándor Márai • Tagebücher • Ungarische Literatur • Ungarn • Weltliteratur • Zeitgeschichte • Zeitzeuge
ISBN-10 3-492-96138-X / 349296138X
ISBN-13 978-3-492-96138-7 / 9783492961387
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