Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2
eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
352 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30685-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war -  Joachim Meyerhoff
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Zu Hause in der Psychiatrie - das kommt davon. Der zweite Band des Zyklus »Alle Toten fliegen hoch« von Joachim Meyerhoff, ein brüllend komischer und tieftrauriger Familienroman. Ist das normal? Zwischen Hunderten von körperlich und geistig Behinderten als jüngster Sohn des Direktors einer Kinder- und Jugendpsychiatrie aufzuwachsen? Der junge Held in Joachim Meyerhoffs zweitem Roman kennt es nicht anders - und mag es sogar sehr. Sein Vater leitet eine Anstalt mit über 1.200 Patienten, verschwindet zu Hause aber in seinem Lesesessel. Seine Mutter organisiert den Alltag, hadert aber mit ihrer Rolle. Seine Brüder widmen sich hingebungsvoll ihren Hobbys, haben für ihn aber nur Häme übrig. Und er selbst tut sich schwer mit den Buchstaben und wird immer wieder von diesem großen Zorn gepackt. Glücklich ist er, wenn er auf den Schultern eines glockenschwingenden, riesenhaften Insas­sen übers Anstalts­gelände reitet. Joachim Meyerhoff erzählt liebevoll und komisch von einer außergewöhnlichen Familie an einem außergewöhnlichen Ort, die aneinander hängt, aber auseinandergerissen wird. Und von einem Vater, der in der Theorie glänzt, in der Praxis aber stets versagt. Wer schafft es sonst, den Vorsatz zum 40. Geburtstag, sich mehr zu bewegen, gleich mit einer Bänderdehnung zu bezahlen und die teuren Laufschuhe nie wieder anzuziehen? Oder bei Flaute mit dem Segelboot in Seenot zu geraten und vorher noch den Sohn über Bord zu werfen? Am Ende ist es aber wieder der Tod, der den Glutkern dieses Romans bildet, der Verlust, der nicht wieder gutzumachen ist, die Sehnsucht, die bleibt - und die Erin­nerung, die zum Glück unfassbar pralle, lebendige und komische Geschich­ten produziert.

Joachim Meyerhoff, geboren 1967 in Homburg/Saar, aufgewachsen in Schleswig, hat als Schauspieler an verschiedenen Theatern gespielt, unter anderem am Burgtheater in Wien, am Schauspielhaus in Hamburg, an der Berliner Schaubühne und den Münchner Kammerspielen. Dreimal wurde er für seine Arbeit zum Schauspieler des Jahres gewählt. 2011 begann er mit der Veröffentlichung seines mehrteiligen Zyklus »Alle Toten fliegen hoch«. Seine Romane wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt 2024 mit dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor.

Joachim Meyerhoff, geboren 1967 in Homburg/Saar, aufgewachsen in Schleswig, hat als Schauspieler an verschiedenen Theatern gespielt, unter anderem am Burgtheater in Wien, am Schauspielhaus in Hamburg, an der Berliner Schaubühne und den Münchner Kammerspielen. Dreimal wurde er für seine Arbeit zum Schauspieler des Jahres gewählt. 2011 begann er mit der Veröffentlichung seines mehrteiligen Zyklus »Alle Toten fliegen hoch«. Seine Romane wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt 2024 mit dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor.

Inhaltsverzeichnis

Zuhause in der Psychiatrie


Das Landeskrankenhaus für Kinder- und Jugendpsychiatrie, in dem ich aufgewachsen bin, hieß damals und heißt auch noch heute »Hesterberg«. Es ist das größte seiner Art in Schleswig-Holstein. Mein Vater war Kinder- und Jugendpsychiater, und als er dort Direktor wurde, gab es über eintausendfünfhundert Patienten. Gegründet wurde die Anstalt bereits 1817 von einem Herrn namens Dr. Suadicani, der sich mit der Bitte um den Bau einer Irrenanstalt »zur Rettung dieser unglücklichsten Menschen, deren Not zum Himmel schreit«, an den König gewandt hatte. Alle paar Jahre wurde sie umbenannt. Zuerst hieß sie »Provinzial-Irrenanstalt«, dann »Provinzial-Idiotenanstalt«, dann »Provinzial-Heil-und Pflegeanstalt für Geistesschwache«. Dann spezialisierte sie sich auf junge Menschen und nannte sich »Heil- und Erziehungsanstalt für blöd- und schwachsinnige Kinder« und schließlich, nach hundertfünfzig Jahren, »Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Hesterberg«.

Es wohnten allerdings auch viele ältere und sogar sehr alte Patienten in der Klinik, die niemals in die Erwachsenen-Psychiatrie verlegt wurden, da ihnen das Verlassen ihrer meist schon seit dem Kleinkindalter vertrauten Umgebung nicht zuzumuten war.

Bis auf eine kurz vor der Einweihung stehende moderne Klinik stammten die Gebäude aus der Zeit der Jahrhundertwende. Riesige düstere Backsteinkästen, in denen bis zu zwanzig Patienten in einem Zimmer schliefen. Lange Leitern standen an den vierstöckigen Hochbetten. Die oberen Betten konnte man verriegeln, es waren eher kleine Käfige als Betten, damit die Patienten nicht herausfielen.

Das Gelände der Psychiatrie war groß und eine Welt für sich. Es gab eine Gärtnerei, eine Großküche, eine Tischlerei, eine Schneiderei, eine sogenannte Dampfwaschanstalt, sogar ein eigenes Kohleheizwerk mit rot gemauertem Schornstein und eine Schlosserei, in der fast ausschließlich Gitter geschweißt wurden: Fenstergitter, Gitterbetten, meterhohe Umzäunungsgitter für die Stationsgärten. An einigen dieser Orte arbeiteten Patienten in einer Mischung aus Arbeitstherapie und Ausbeutung.

 

Unser Haus war der Mittelpunkt dieser Anlage. Die Direktorenvilla war vom Gründer der Psychiatrie ganz bewusst im Zentrum platziert worden. Der prunkvolle Bau war gleichermaßen eine Machtdemonstration wie auch ein Bekenntnis, als Direktor nicht außerhalb dieser Welt zu stehen. So bin ich aufgewachsen. Inmitten von eintausendfünfhundert psychisch Kranken, geistig und körperlich Behinderten. Meine Brüder und ich gaben den Patienten die unterschiedlichsten Namen. Wir nannten sie knallhart Idioten, Irre oder Verrückte. Aber auch die Dödies, die Blödies, die Tossen, Spaddel, Spackos und Spasties. Oder die Psychos, Mongos, die Deppen, Debilen und Trottel – der Favorit meines ältesten Bruders war: die Hirnies. Sie so zu nennen war für uns vollkommen normal. Selbst meine Eltern benutzten hin und wieder, wenn wir unter uns waren, einen dieser Ausdrücke.

 

Die Hälfte meines Schulweges führte mich jeden Morgen durch die Psychiatrie, und ich traf dort auf die immer selben Patienten. Gleich auf der ersten Bank, wenn ich unseren Vorgarten durch ein Törchen verlassen hatte, saß ein Junge, der nichts lieber tat, als Zigaretten mit einem einzigen Zug niederzurauchen. Er wartete dort auf meinen Vater, der ihm oft eine seiner Roth-Händle gab. Der Junge hechelte, stieß alle Luft aus, steckte sich die Zigarette in den Mund, zündete sie an und zog und zog. Ein einziger Zug – und die ganze Zigarette brannte ab! Dann spuckte er den Stummel zu den anderen vor die Bank, atmete langsam aus – so viel Rauch! – und saß da, in Schwaden gehüllt, mit glücklich vernebelten Augen.

Dann, auf der nächsten Bank, ein anderer Junge: Thorsten, der immer fragte: »Haste Parfüms? Haste Parfüms? Haste Parfüms?« Er schürzte oft unvermittelt die Lippen, machte ein ganz spitzes Kussmündchen und pustete. Blies seine Fingerkuppen an oder Fussel vom Ärmel. Wenn im Frühjahr die wolligen Fäden der Balsampappeln auf den Psychiatriebänken lagen, blies er tagelang die Bankbretter und Lehnen sauber. Von mir hat er einmal eine ganze Flasche »Lagerfeld« bekommen, angepustet, aufgeschraubt und einfach ausgetrunken.

Ein paar Meter weiter, um die nächste Häuserecke herum, begegnete ich oft einem Mädchen. Wenn sie es schaffte, sich ihren Schutzhelm herunterzuzerren, schlug sie sich die Stirn auf, um mit ihrem blutenden Kopf Sonnen, Sterne und Monde auf die Straße zu malen. Das habe ich oft gesehen, diese eingetrockneten Blutsterne auf dem Asphalt.

Im Sommer lag in einem der vielen hoch umzäunten Gärten hin und wieder ein Junge auf der Wiese. Nah am Zaun. Er hatte keine Augen. Stirn, Nase und Wangenknochen waren zu einer geschlossenen Fläche verwachsen. Auf diese von Narben durchzogene Haut waren mit einem schwarzen Filzstift Augen aufgemalt. Zwei Kreise mit Pupillenpunkt. Wie mir mein Vater erzählte, war dies sein eigener Wunsch, um sich für den Garten schön zu machen.

Dann gab es noch einen in sich gekehrten Mann, der spazieren ging, immer freundlich war und eine kalte Pfeife rauchte. Er hieß Egon. Mein Vater warnte mich vor ihm, da er gerne Drahtkleiderbügel zusammenbog und sie anderen in den Hintern steckte. Für ein paar Tage hing an unserem Küchenfenster eine Röntgenaufnahme, auf der man im Grau durchleuchteter Organe einen Klumpen Draht ausgezeichnet erkennen konnte.

Und dann war da natürlich noch Rudi, genannt Tarzan. Er kletterte gerne auf Bäume oder lag bewegungslos im Gras, auf der Lauer. Er trug stets einen sehr echt aussehenden Revolver bei sich, stürzte hervor, blitzschnell und lautlos, und hielt einem den Lauf an die Schläfe. Jeder, der ihn kannte, wusste, wie harmlos er war, machte ihm eine Freude und erschrak sich zu Tode. Tarzan liebte es, wenn man sich vor ihm auf die Knie fallen ließ und bettelte: »Bitte, bitte töte mich nicht!« Sein Kopf mit dem roten Haarbüschel war nicht viel breiter als ein Handteller.

Ein penetrantes Mädchen, genannt Bine oder Trine. Sie war klein. Als ich zehn war, war ich schon größer als sie. Traf man sie, wurde man sie nicht mehr los, und sie begleitete einen bis zum Ausgang der Anstalt. Mit piepsiger Stimme stellte sie immer dieselben zwei Fragen: »Na, wer bist du?« und »Na, wen haben wir denn da?«. Wenn ich ihr meinen Namen sagte, lachte sie, drückte mir ihre prallen Brüste in die Rippen und widersprach: »Nee, nee, wer bist du?« Ich versuchte mich loszumachen, aber sie war stark. Klammerte sich an mich, roch streng und rieb sich an mir. Egal was man sagte, es war falsch: »Na, wer bist du?« Immer wieder. Mehrmals drängte sie mich gegen eine Mauer, ließ minutenlang nicht ab von mir. »Na, wen haben wir denn da?« Ich versuchte mich loszumachen. »Nee, nee, nee. Wer bist du?«

Am Ausgang, Tor 2, spielte ein Patient Kontrolleur. Er trug eine Fantasieuniform, auf den Schultern des Jacketts angeklebte Epauletten aus Schaumstoff, das ganze himmelblaue Uniformjackett gespickt voll mit Kronkorken-Orden. Um die Hosenbeine hatte er bunte Gürtel geschnallt, deren Enden seitlich abstanden. Unter Höchstanstrengung wölbte er seine Brust, knallte seine Hacken zusammen, winkte Autos durch und fragte mich jeden Morgen: »Wohin soll’s denn gehen?« Ich sagte: »In die Schule.« Er salutierte, rief laut: »Ah, wieder ficki-ficki machen?«, und gab den Weg frei.

Ich grüßte das Wachpersonal, dem ich gut bekannt war, die Schranke wurde geöffnet, und ich verließ das Gelände.

An den beiden Toren und auch vor den Haupteingängen der Gebäude spielten sich oft dramatische Szenen ab. Entweder weigerten sich die frisch Eingelieferten, das Gelände bzw. die Gebäude zu betreten, klammerten sich an ihre Angehörigen und traten nach den Pflegern, oder aber Patienten wehrten sich mit Händen und Füßen, das Gelände bzw. die Gebäude zu verlassen, klammerten sich an die Pfleger und traten nach den Angehörigen. Sowohl der Weg in die Psychiatrie hinein wie auch der aus ihr heraus war für viele der blanke Horror.

Natürlich gab es auch die Unscheinbaren, die deutlich in der Überzahl waren, in sich versunken herumsaßen, brabbelten oder rastlos auf dem Gelände herumtigerten. Es gab eine Station, etwas abseits gelegen, wo in einem Hinterhof mehrere Bänke standen. Dort saßen Patienten, die sich auf gespenstische Art ähnlich waren. Kahl rasierte Schädel mit dicklippigen Mündern, riesigen Nasen und melancholischen Augen mit vergrößerten Pupillen. Selbst die Ohrläppchen ihrer fleischigen Ohrmuscheln schienen geschwollen und schwer. Ihre Gesichter sahen farblos aus, wie mit einem zu weichen Bleistift gezeichnet. So kauerten sie auf den Bänken oder den Rückenlehnen, und wenn die Sonne unterging, kam es vor, dass das schräge Abendlicht blutrot durch ihre Segelohren drang. Mein ältester Bruder sagte zu mir: »Schau sie dir an, wie sie da hocken und glotzen. Bisschen unheimlich, oder? Die sehen alles, riechen alles, hören alles, die kriegen zehnmal mehr mit als wir und machen den ganzen Tag absolut nix!« Wir nannten den Ort »Hinterhof der traurigen Eulen«.

Viele Patienten bekam man gar nicht zu Gesicht, da sie die Stationen nicht verlassen konnten oder durften. Sobald es das Wetter zuließ, es einmal nicht regnete, wurden die Kranken nach draußen geschoben, lagen, wenn es noch kalt war, bewegungslos mit Mützen in rollbaren Betten oder saßen in Decken eingeschlagen in Rollstühlen. Wobei die Rollstühle völlig unterschiedlich aussahen. Manche waren für winzige, verwachsene Kinder gebaut und konnten hydraulisch auf und nieder, vor und zurück...

Erscheint lt. Verlag 14.2.2013
Reihe/Serie Alle Toten fliegen hoch
Alle Toten fliegen hoch
Alle Toten fliegen hoch
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Ach diese Lücke diese entsetzliche Lücke • Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke • Alle Toten fliegen hoch • Alle Toten fliegen hoch Amerika • Alle Toten fliegen hoch Teil 2 • Autobiografisch • Autor • Buch zum Film • Coming of Age • Die Zweisamkeit der Einzelgänger • dreiteiler • Entspannen • Familie • Familienleben • Familienroman • Hamster im hinteren Stromgebiet • Joachim Meyerhoff • Joachim Meyerhoff Reihe • Kindheit • Leiter • Psychiatrie • Psychiatrische Klinik • Schaupieler • schulzeit • Sonja Heiss • Teil 2 • Theater • Tod • Triologie • Vater • Vater-Sohn-Beziehung • Verlust
ISBN-10 3-462-30685-5 / 3462306855
ISBN-13 978-3-462-30685-9 / 9783462306859
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