Tagebücher 1984-1989 (eBook)

Ausgewählt von Hans Skirecki
eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
160 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-96011-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tagebücher 1984-1989 -  Sándor Márai
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Die Tagebücher Sándor Márais von 1984 bis zu seinem Freitod 1989 sind ein überaus bewegendes Zeugnis. Ohne zu beschönigen, beschreibt der Schriftsteller Krankheit und Tod seiner geliebten Frau, mit der er sechzig Jahre seines Lebens verbracht hatte. Er hält den Prozeß des eigenen Alterns fest, berichtet von der zunehmenden Einsamkeit, auch wenn er nach wie vor an den gesellschaftlichen und literarischen Ereignissen seiner Zeit Anteil nimmt.

Sándor Márai, 1900 bis 1989, gehörte zu den gefeierten Autoren Europas, bis er 1948 mit seiner Emigration nach Italien und in die USA in Vergessenheit geriet. Mit der Wiederentdeckung des Romans »Die Glut« wurde er 1998 weltweit gelesen und als einer der bedeutendsten Schriftstellers des 20. Jahrhunderts erkannt. Der Niedergang des europäischen Bürgertums zählt zu seinen wichtigsten Motiven.

Sándor Márai, 1900 bis 1989, gehörte zu den gefeierten Autoren Europas, bis er 1948 mit seiner Emigration nach Italien und in die USA in Vergessenheit geriet. Mit der Wiederentdeckung des Romans "Die Glut" wurde er 1998 weltweit gelesen und als einer der bedeutendsten Schriftstellers des 20. Jahrhunderts erkannt. Der Niedergang des europäischen Bürgertums zählt zu seinen wichtigsten Motiven.

1. Januar

Es ist fast schon eine Überraschung, daß ich, daß wir diesen Neujahrstag erleben. Von meinen schriftstellernden Zeitgenossen lebt sozusagen keiner mehr. Auch die Literatur, deren Zeitgenosse ich war, siecht dahin. Ich bin Vogelscheuche und Kramzeug fürs Museumsregal in einem, ein Insekt im Bernstein.

Was ich lese: parallel zur Seelentheorie des Aristoteles die Reflexionen des amerikanischen Philosophen Dewey (er starb kürzlich im Alter von 93 Jahren) über die griechischen Philosophen. Er hat 20 Jahre in China gelebt, Vorlesungen gehalten und für Pekinger Zeitungen philosophische Abhandlungen geschrieben. Während der Bilderstürmerei der Kulturrevolution waren seine Schriften verboten, jetzt sind sie auf englisch erschienen. Dewey sagt, »die Seele« sei »das Wort«.

Das Fernsehen zeigt die vier Kinder – sieben und vierzehn Jahre alt –, die am Tag nach Neujahr einen sechsjährigen Kameraden, taubstumm und debil, totgeschlagen haben. L. erwähnt die Klagen einer Freundin, die eine Hühnerfarm hatte, wo sich unter den zahllosen Küken ein in Farbe und Gefieder »anderes« befand, das, kaum geschlüpft, von den übrigen angegriffen und mit Schnäbeln und Krallen zerfetzt wurde.

11. Januar

Nie schlage ich meine früher erschienenen Bücher auf, aber jetzt suchte ich etwas im Tagebuchband 1943/44, und unverhofft stieß ich auf die folgenden Zeilen: »Ich habe 43 Jahre gelebt. Und wenn ich noch einmal so lange lebe? Und 86 werde? Werde ich dann mehr wissen? Glücklicher sein? Genaueres über Gott, die Menschen, die Natur und Übernatürliches vermuten? Ich glaube, nein: Erfahrungen verlangen Zeit, aber über ein bestimmtes Wissen hinaus vertieft die Zeit die Erfahrungen nicht. Ich werde einfach älter, nicht mehr und nicht weniger.« Diese Zeilen hallen seltsam aus dem Jahr 43, als das Buch gedruckt wurde, in das Jahr 85 herüber. Aus der Frage ist Wirklichkeit geworden, ein Jahr fehlt bis zum 86. Und ich weiß nicht mehr. Eher ist es so, daß ich zusammenkratze, was ich schon vor 43 Jahren gewußt, aber inzwischen verloren, vergessen habe.

Aus New York ruft mich ein Journalist an mit dem Vorschlag, herzukommen und mich zu besuchen, aber er respektiere meine Reserviertheit, er wisse, daß ich keine Interviews gebe, deshalb wünsche er »nur ein postumes Interview«, mit der Veröffentlichung warte er, bis ich hinüber bin. Ein höfliches und taktvolles Angebot. Überraschend ist der Optimismus des Journalisten, der davon ausgeht, daß es ein postumes Interview sein, er also mich, den Greis, überleben wird. Diese statistische Zuversicht ist berechtigt, aber in der Praxis ist es nicht sicher, daß der Interviewer, der 20 Jahre jünger ist, mich überlebt. Möglich, daß ich es bin, der postum über ihn schreibt. Nicht wahrscheinlich, aber möglich.

12. Januar

Wie vor zwei Wochen stürzt L., einer Ohnmacht nahe. Es gelingt mir, sie ins Bett zu bringen, nach einigen Stunden Schlaf fühlt sie sich besser. Die Symptome rühren von einem plötzlichen Abfall des Blutdrucks her. In den vergangenen Jahren ist das einige Male vorgekommen, jetzt zum zweiten Mal binnen zweier Wochen.

18. Januar

Das Blättern im Tagebuch 43/44 erinnert mich an den irrwitzigen Massenmord vor 40 Jahren, und mich wundert manchmal, wie zurückhaltend alles ist, was ich über diese Zeit schreibe. Die Welt Horthys, die neobarocke Selbstherrlichkeit und Pseudovornehmheit. Die großspurige Zurschaustellung der Vorrechte nach Rasse und Herkunft. Die blutrünstige Habgier. Das Verhalten des Mittelstands. Und was danach kam … Viele in Ungarn wissen heute noch nicht, daß der »Bürger« eine Berufung war, der Mittelstand nur ein Interessenbund.

Hin und wieder Aristoteles. Das Kapitel über die »Seele« ist außerordentlich langweilig. Ein Weiser redet weitschweifig über etwas, worüber er nichts Sicheres weiß. »Nicht der Leib hält die Seele, sondern die Seele hält den Leib zusammen. Wenn der Leib stirbt, zieht die Seele aus …« Aber wohin? So erstaunlich seine Beobachtungen sind, wenn er die dingliche Welt analysiert, so nebulös und luftig sind sie, wenn er um die Metaphysik herumschleicht.

Gesund sterben, wie gut das sein muß!

20. Januar

L. sagt, in Ungarn experimentiere man jetzt mit einer Finnlandisierung. Das mag sein, aber ich vermute, der Kommunismus wird auf diese Art nicht untergraben, sondern nur renoviert.

Eher Taumeln als Gehen. Manchmal eine Schwäche, aus der ich mich kaum aufrappeln kann. Der Mechanismus knarrt und ist stumpf. L. geht es ebenso, obendrein sieht und hört sie noch schlechter. Und alles könnte schlimmer sein.

Arktische Schreckensmeldungen aus Europa, dem Norden, dem Osten. Dieses gewisse Jammern, »das hat es seit 100 Jahren nicht gegeben«. Ich denke an Winter in Ungarn, in New York, in Neapel zurück, und mich schaudert. Es ist immer so gewesen, alles, semper idem.

28. Januar

Aristoteles über den Traum und die Traumdeutung. Er glaubt, hervorgerufen werde der Traum von Rhythmusveränderungen im Körper des Schlafenden, von der Verdauung, dem Blutkreislauf, der verlangsamten Atmung. In der Kindheit hörte ich: »Träume sind Schäume, kommen vom Bauche.« Die Traumdeutung lehnt er ab – Bergson, wenn er die Erinnerung an die Gegenwart abklopft, ist da vorsichtiger. Mich überrascht jetzt, im Alter, manchmal, daß ich nicht von Gesichtern, Gestalten und Situationen, sondern von Wörtern träume. Heute nacht erzählte eine entfernte Bekannte in meinem Traum von der Geburt ihres ersten Kindes – ich hörte ihre Stimme; wie sie sagte, jetzt kämen die Wehen, jetzt sei der Kopf schon draußen, alle Einzelheiten. Manchmal träume ich auch, daß ich etwas schreibe – ich höre die Sätze und schreibe sie auf, jemand diktiert mir. – Manchmal Dewey, über die griechische Epistologie. Und Mikszáth, Seltsame Ehe. Der gnädige Herr zündet sich eine Zigarre an, lehnt sich im Sessel zurück und beginnt gemächlich, vergnüglich, gemütlich zu erzählen, »es war also so damals in Gömör«, und man hört gerne zu, denn er ist zynisch und gescheit. Krúdy beschreibt dies alles – die funktionslos gewordene Gentry und ihre Umgebung – wie eine Traumvision. Doch Mikszáth raucht dabei, bläst den Rauch aus und genießt die Rede und ihre Wirkung.

Eine Zukunft haben wir nicht mehr, das Leben ist vollendet, ich warte nur noch auf den friedvollen Abgang. Die Anzeichen der körperlichen und geistigen Abnutzung sind alltäglich. Mitunter ist es, als hätte ich schon Erinnerungen an mich.

5. Februar

Was ich lese (immer nachts): Aristoteles über die Lebensdauer, über das lange und das kurze Leben. Er lobt die Dicken, weil sie »mehr Naß« im Körper haben. Deweys Vorträge in China vor 60 Jahren. Über Bertrand Russell, der das Gesetzmäßige nicht in der Realität, sondern in der Mathematik sah. Über die präsokratischen Philosophen, die »Atomisten«. Manchmal geht das Kaunitz-Buch zu sehr ins Detail, aber es gibt ein Bild von der politischen Etikette des 18. Jahrhunderts. Jede Nacht für L. ein Kapitel aus dem Mikszáth-Krimi Seltsame Ehe. Kein großer Denker, kein guter Stilist, aber amüsant. – Gelegentlich Balassi. Als führe ich im Schlitten durch knirschenden Schnee auf einen rauchenden Kamin zu, wo Ungarn leben.

7. Februar

Mit dem Titel Hawthornes Geheimnis hat ein Totengräber ein Buch geschrieben, in dem er feststellt, dieser große, klassische amerikanische Schriftsteller aus dem vergangenen Jahrhundert habe unter irgendeinem dunklen, inzestuösen Geheimnis gelitten. Beweise gibt es nicht, aber der Totengräber sortiert fleißig Vermutungen, der Schriftsteller habe sexuelle Beziehungen zu einer seiner Schwestern gehabt … Diese fleißigen Grabdiebe stöbern ungebeten in der Vergangenheit verstorbener Größen. Es fehlt nicht viel, und sie werden Zwillinge des Inzests anklagen, weil sie im Mutterleib ein Verhältnis hatten.

Krankheitsgefühl, Todesgeruch. Gleichgültigkeit.

9. Februar

Mein Bruder Gábor ist gestorben. Er war 75, von uns vier Geschwistern der Jüngste, und er ging als erster. Mit seinem Tod beginnt der Zerfall der engeren Familie. Ich muß seit 24 Stunden an ihn denken, irgendwie mit schlechtem Gewissen.

25. Februar

Heute wird Gábor beerdigt. Wenn es stimmt … Gestorben ist er vor einem Monat, die Beerdigung soll laut Mitteilung erst heute sein, ich weiß nicht, warum. Gibt es keine Totengräber im Winter, keine Gräber auf dem Friedhof? Alles ist gespenstisch. Gábor fehlt mir besonders. Es ist, als wäre eines der letzten Reiseziele erloschen – unwahrscheinlich, daß ich nach Hause reise, aber dort ist auch keiner mehr, mit dem ich reden könnte. Er war der letzte.

Was ich lese: Mikszáth, Seltsame Ehe. (Für L., laut.) Ein gnadenloses Zeitbild. Klug, frech, zynisch. Nachts Gedichte, junge Leute, von zu Hause. Ausgebrannte Worte, Hoffnungslosigkeit.

Tagsüber manchmal ein Staunen, daß ich noch bin. Und der Wille, bis zum letzten Augenblick etwas zu »leisten« – die täglichen Pflichten oder auch anderes, Überflüssiges. Solange ich es vermag, nicht aufhören.

26. Februar

»Sankt Matthias bricht das Eis, hat er keins, dann macht er eins« – er...

Erscheint lt. Verlag 14.2.2013
Nachwort Ernö Zeltner
Übersetzer Hans Skirecki
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Autobiografisch • Die Glut • Ehe • Erinnerungen • Europa • Europäer • Exil • Heimat • Krieg • politische Gedanken • Selbstmord • Tagebuch • Tod • Tod der Frau • Ungarn • wahre Begebenheiten • Weltliteratur • Zwanzigstes Jahrhundert
ISBN-10 3-492-96011-1 / 3492960111
ISBN-13 978-3-492-96011-3 / 9783492960113
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