Der Fremde (eBook)
160 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-02621-6 (ISBN)
Albert Camus wurde am 7. November 1913 als Sohn einer Spanierin und eines Elsässers in Mondovi, Algerien, geboren. Er studierte an der Universität Algier Philosophie, 1935 trat er der Kommunistischen Partei Algeriens bei und gründete im Jahr darauf das «Theater der Arbeit». 1937 brach er mit der KP. 1938 entstand sein erstes Drama, Caligula, das 1945 uraufgeführt wurde, 1947 sein Roman «Die Pest». Neben seinen Dramen begründeten der Roman Der Fremde und der Essay Der Mythos des Sisyphos sein literarisches Ansehen. 1957 erhielt Albert Camus den Nobelpreis für Literatur. Am 4. Januar 1960 starb er bei einem Autounfall. Das Gesamtwerk von Albert Camus liegt im Rowohlt Verlag vor.
Albert Camus wurde am 7. November 1913 als Sohn einer Spanierin und eines Elsässers in Mondovi, Algerien, geboren. Er studierte an der Universität Algier Philosophie, 1935 trat er der Kommunistischen Partei Algeriens bei und gründete im Jahr darauf das «Theater der Arbeit». 1937 brach er mit der KP. 1938 entstand sein erstes Drama, Caligula, das 1945 uraufgeführt wurde, 1947 sein Roman «Die Pest». Neben seinen Dramen begründeten der Roman Der Fremde und der Essay Der Mythos des Sisyphos sein literarisches Ansehen. 1957 erhielt Albert Camus den Nobelpreis für Literatur. Am 4. Januar 1960 starb er bei einem Autounfall. Das Gesamtwerk von Albert Camus liegt im Rowohlt Verlag vor. Uli Aumüller übersetzt u. a. Siri Hustvedt, Jeffrey Eugenides, Jean Paul Sartre, Albert Camus und Milan Kundera. Für ihre Übersetzungen erhielt sie den Paul-Celan-Preis und den Jane-Scatcherd-Preis.
Erster Teil
I
Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß nicht. Ich habe ein Telegramm vom Heim bekommen: «Mutter verstorben. Beisetzung morgen. Hochachtungsvoll.» Das will nichts heißen. Es war vielleicht gestern.
Das Altersheim ist in Marengo, achtzig Kilometer von Algier entfernt. Ich werde den Bus um zwei nehmen und nachmittags ankommen. Auf die Weise kann ich Totenwache halten und bin morgen Abend wieder zurück. Ich habe meinen Chef um zwei Tage Urlaub gebeten, und bei so einem Entschuldigungsgrund konnte er sie mir nicht abschlagen. Aber er sah nicht erfreut aus. Ich habe sogar gesagt: «Es ist nicht meine Schuld.» Er hat nicht geantwortet. Da habe ich gedacht, dass ich das nicht hätte sagen sollen. Ich brauchte mich ja nicht zu entschuldigen. Vielmehr hätte er mir sein Beileid aussprechen müssen. Aber das wird er wahrscheinlich übermorgen tun, wenn er mich in Trauer sieht. Vorläufig ist es ein bisschen so, als wäre Mama gar nicht tot. Nach der Beerdigung allerdings wird es eine abgeschlossene Sache sein, und alles wird einen offizielleren Anstrich bekommen haben.
Ich habe den Bus um zwei genommen. Es war sehr heiß. Ich habe im Restaurant von Céleste gegessen, wie gewöhnlich. Sie hatten alle viel Mitgefühl mit mir, und Céleste hat gesagt: «Man hat nur eine Mutter.» Als ich gegangen bin, haben sie mich zur Tür begleitet. Ich war etwas abgelenkt, weil ich noch zu Emmanuel hinaufmusste, um mir einen schwarzen Schlips und eine Trauerbinde von ihm zu borgen. Er hat vor ein paar Monaten seinen Onkel verloren.
Ich bin gelaufen, um den Bus nicht zu verpassen. Diese Hetze, dieses Laufen – wahrscheinlich war es all das, zusammen mit dem Gerüttel, dem Benzingeruch, der Spiegelung der Straße und des Himmels, weswegen ich eingenickt bin. Ich habe fast während der ganzen Fahrt geschlafen. Und als ich aufgewacht bin, war ich gegen einen Soldaten gerutscht, der mich angelächelt hat und gefragt hat, ob ich von weit her käme. Ich habe «ja» gesagt, um nicht weiterreden zu müssen.
Das Heim ist zwei Kilometer vom Dorf entfernt. Ich bin zu Fuß hingegangen. Ich wollte sofort zu Mama. Aber der Pförtner hat gesagt, ich müsste erst den Heimleiter sprechen. Da der beschäftigt war, habe ich ein wenig gewartet. Während dieser ganzen Zeit hat der Pförtner geredet, und dann habe ich den Heimleiter zu Gesicht bekommen: Er hat mich in seinem Büro empfangen. Es war ein kleiner Alter, mit einem Orden der Ehrenlegion. Er hat mich mit seinen hellen Augen angesehen. Dann hat er mir die Hand gedrückt und sie so lange festgehalten, dass ich nicht recht wusste, wie ich sie zurückziehen sollte. Er hat in einer Akte nachgelesen und hat gesagt: «Madame Meursault ist vor drei Jahren hierhergekommen. Sie waren ihr einziger Beistand.» Ich habe geglaubt, er wollte mir etwas vorwerfen, und habe angefangen, es ihm zu erklären. Aber er hat mich unterbrochen: «Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen, mein liebes Kind. Ich habe die Akte Ihrer Mutter gelesen. Sie konnten sie nicht versorgen. Sie brauchte Pflege. Ihre Einkünfte sind bescheiden. Und alles in allem war sie hier glücklicher.» Ich habe gesagt: «Ja, Monsieur le Directeur.» Er hat hinzugefügt: «Wissen Sie, sie hatte Freunde, Leute in ihrem Alter. Sie hatten gemeinsame Interessen, die aus einer anderen Zeit stammen. Sie sind jung, und mit Ihnen musste sie sich ja langweilen.»
Das stimmte. Als Mama noch zu Hause war, verbrachte sie ihre Zeit damit, mir schweigend mit dem Blick zu folgen. In den ersten Tagen im Heim weinte sie oft. Aber das war wegen der Umstellung. Nach ein paar Monaten hätte sie geweint, wenn man sie wieder aus dem Heim herausgeholt hätte. Wieder wegen der Umstellung. Das war ein wenig der Grund, weshalb ich im vergangenen Jahr fast nicht mehr hingefahren bin. Und auch, weil es mich um meinen Sonntag brachte – ganz abgesehen von der Mühe, zum Bus zu gehen, Fahrkarten zu lösen und zwei Stunden zu fahren.
Der Heimleiter hat noch weitergeredet. Aber ich hörte ihm kaum noch zu. Dann hat er gesagt: «Ich nehme an, Sie wollen Ihre Mutter sehen.» Ich bin aufgestanden, ohne etwas zu sagen, und er ist mir zur Tür vorausgegangen. Auf der Treppe hat er mir erklärt: «Wir haben sie in unsere kleine Leichenhalle gebracht. Um die anderen nicht aufzuregen. Jedes Mal, wenn ein Heimbewohner stirbt, sind die anderen zwei oder drei Tage nervös. Und das erschwert die Arbeit.» Wir sind über einen Hof gegangen, auf dem viele alte Leute waren, die in kleinen Gruppen miteinander plauderten. Sie verstummten, als wir vorbeigingen. Und hinter uns setzten die Unterhaltungen wieder ein. Wie das gedämpfte Schnattern von Sittichen. An der Tür eines kleinen Gebäudes hat der Leiter sich verabschiedet. «Ich gehe jetzt, Monsieur Meursault. Ich stehe Ihnen in meinem Büro zur Verfügung. Im Prinzip ist die Beerdigung für zehn Uhr morgens angesetzt. Wir haben gedacht, dass Sie so Totenwache bei der Verstorbenen halten können. Noch eins: Ihre Mutter hat, wie es scheint, ihren Mitbewohnern gegenüber oft den Wunsch geäußert, kirchlich beerdigt zu werden. Ich habe es übernommen, das Nötige zu veranlassen. Aber ich wollte Sie davon in Kenntnis setzen.» Ich habe ihm gedankt. Mama hatte, ohne dass sie Atheistin war, zu ihren Lebzeiten nie an die Kirche gedacht.
Ich bin hineingegangen. Es war ein sehr heller Raum, weiß gekalkt und mit einem Glasdach. Er war mit Stühlen und x-förmigen Gestellen ausstaffiert. Zwei davon, in der Mitte, trugen einen Sarg, auf dem der Deckel lag. Man sah nur glänzende, kaum angezogene Schrauben sich von den nussbraun gebeizten Brettern abheben. Neben dem Sarg saß eine arabische Krankenpflegerin im weißen Kittel und mit einem grellen Tuch um den Kopf.
In dem Moment ist der Pförtner hinter meinem Rücken hereingekommen. Er war wohl gelaufen. Er hat ein bisschen herumgestottert: «Man hat sie zugemacht, aber ich muss den Sarg nur aufschrauben, damit Sie sie sehen können.» Er näherte sich schon dem Sarg, als ich ihn zurückgehalten habe. Er hat gesagt: «Wollen Sie nicht?» Ich habe «nein» geantwortet. Er hat innegehalten, und ich war verlegen, weil ich merkte, dass ich das nicht hätte sagen sollen. Nach einer Weile hat er mich angesehen und hat gefragt: «Warum nicht?», aber ohne Vorwurf, so als wollte er sich informieren. Ich habe gesagt: «Ich weiß nicht.» Da hat er seinen weißen Schnurrbart gezwirbelt und hat, ohne mich anzusehen, erklärt: «Ich verstehe.» Er hatte schöne Augen, hellblau, und eine etwas rote Gesichtsfarbe. Er hat mir einen Stuhl gegeben und hat sich selbst etwas hinter mir hingesetzt. Die Pflegerin ist aufgestanden und zum Ausgang gegangen. Im gleichen Moment hat der Pförtner zu mir gesagt: «Das ist ein Schanker, was sie da hat.» Weil ich nicht verstand, habe ich die Krankenschwester angeschaut und habe gesehen, dass sie unter den Augen eine Binde trug, die um den ganzen Kopf ging. In Höhe der Nase war die Binde platt. Man sah nur das Weiß der Binde in ihrem Gesicht.
Als sie weg war, hat der Pförtner gesagt: «Ich lasse Sie jetzt allein.» Ich weiß nicht, was für eine Geste ich gemacht habe, aber er ist hinter mir stehen geblieben. Diese Anwesenheit hinter meinem Rücken störte mich. Der Raum war von einem schönen Spätnachmittagslicht erfüllt. Zwei Hornissen brummten gegen das Glasdach. Und ich fühlte, wie mich Müdigkeit überkam. Ich habe, ohne mich umzudrehen, zum Pförtner gesagt: «Sind Sie schon lange hier?» Prompt hat er geantwortet: «Fünf Jahre», als hätte er schon immer auf meine Frage gewartet.
Danach hat er viel geschwatzt. Er hätte schön gestaunt, wenn man ihm gesagt hätte, dass er als Pförtner im Heim von Marengo enden würde. Er wäre vierundsechzig Jahre alt und käme aus Paris. Da habe ich ihn unterbrochen: «Ach, Sie sind nicht von hier?» Dann ist mir eingefallen, dass er von Mama geredet hatte, bevor er mich zum Heimleiter brachte. Er hatte gesagt, sie müsste sehr schnell beerdigt werden, weil es im Flachland heiß wäre, besonders in dieser Gegend. In dem Zusammenhang hatte er mir mitgeteilt, dass er in Paris gelebt hätte und es ihm schwerfiele, es zu vergessen. In Paris bliebe man drei, manchmal vier Tage mit dem Toten zusammen. Hier hätte man nicht die Zeit dazu, man hätte sich noch nicht an den Gedanken gewöhnt, und schon müsste man hinter dem Leichenwagen herlaufen. Da hatte seine Frau zu ihm gesagt: «Sei still, solche Sachen darfst du dem Herrn nicht erzählen.» Der Alte war rot geworden und hatte sich entschuldigt. Ich hatte mich eingemischt und gesagt: «Ach wo. Ach wo.» Ich fand das, was er erzählte, richtig und interessant.
In der kleinen Leichenhalle hat er mir erzählt, dass er als Mittelloser in das Heim gekommen wäre. Da er sich kräftig fühlte, hätte er sich um diese Stelle als Pförtner beworben. Ich habe ihn darauf hingewiesen, dass er genau genommen ein Heimbewohner wäre. Er hat es verneint. Mir war schon seine Art aufgefallen, «sie», «die anderen» und, seltener, «die Alten» zu sagen, wenn er von den Heimbewohnern sprach, von denen manche nicht älter waren als er. Aber das war natürlich etwas anderes. Er war Pförtner und war ihnen bis zu einem gewissen Grad übergeordnet.
In dem Moment ist die Pflegerin eingetreten. Der Abend war jäh hereingebrochen. Sehr schnell war die Dunkelheit über dem Glasdach undurchdringlich geworden. Der Pförtner hat den Schalter gedreht, und ich war vom plötzlichen Aufspritzen des Lichts geblendet. Er hat mich eingeladen, zum Abendessen in den Speisesaal zu gehen. Aber ich hatte keinen Hunger. Er hat...
Erscheint lt. Verlag | 1.2.2013 |
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Übersetzer | Uli Aumüller |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Algerien • Die Pest • Existentialismus • Frankreich • Franzose • Französische Literatur • Haupttext • Hinrichtung • Jean Paul Sartre • Klassiker • Literaturnobelpreis • Literaturnobelpreisträger • Mord • Nobelpreis für Literatur • Nobelpreisträger Literatur • Philosophie • Philosophie des Absurden • Simone de Beauvoir • Todesstrafe • Weltliteratur • ZEIT-Bibliothek der Weltliteratur |
ISBN-10 | 3-644-02621-1 / 3644026211 |
ISBN-13 | 978-3-644-02621-6 / 9783644026216 |
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