Berlin Alexanderplatz (eBook)

Die Geschichte vom Franz Biberkopf
eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
560 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-402293-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Berlin Alexanderplatz -  Alfred Döblin
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Mit einem Nachwort von Moritz Baßler und Melanie Horn. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk. Ein Klassiker der literarischen Moderne ?Berlin Alexanderplatz? gehört neben dem ?Ulysses? von James Joyce und ?Manhattan Transfer? von John Dos Passos zu den bedeutendsten Großstadtromanen der Weltliteratur. Erstmals 1929 im S. Fischer Verlag erschienen, erzählt der Roman die bewegende Geschichte des Franz Biberkopf, der nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis in einen Strudel aus Verrat und Verbrechen gerät. Darüber hinaus aber erzählt der Roman auch vom Berlin der Zwanziger Jahre und findet zum ersten Mal in der deutschen Literatur eine eigene, ganz neue Sprache für das Tempo der Stadt.

Alfred Döblin, 1878 in Stettin geboren, arbeitete zunächst als Assistenzarzt und eröffnete 1911 in Berlin eine eigene Praxis. Döblins erster großer Roman erschien im Jahr 1915/16 bei S. Fischer. Sein größter Erfolg war der 1929 ebenfalls bei S. Fischer publizierte Roman ?Berlin Alexanderplatz?. 1933 emigrierte Döblin nach Frankreich und schließlich in die USA. Nach 1945 lebte er zunächst wieder in Deutschland, zog dann aber 1953 mit seiner Familie nach Paris. Alfred Döblin starb am 26. Juni 1957.

Alfred Döblin, 1878 in Stettin geboren, arbeitete zunächst als Assistenzarzt und eröffnete 1911 in Berlin eine eigene Praxis. Döblins erster großer Roman erschien im Jahr 1915/16 bei S. Fischer. Sein größter Erfolg war der 1929 ebenfalls bei S. Fischer publizierte Roman ›Berlin Alexanderplatz‹. 1933 emigrierte Döblin nach Frankreich und schließlich in die USA. Nach 1945 lebte er zunächst wieder in Deutschland, zog dann aber 1953 mit seiner Familie nach Paris. Alfred Döblin starb am 26. Juni 1957.

Der berühmteste deutsche Großstadtroman

Belehrung durch das Beispiel des Zannowich


Da saß der Strafentlassene im gelben Sommermantel wieder auf dem Sofa. Seufzend und kopfschüttelnd ging der Rote durch die Stube: »Nun seid nicht böse, daß der Alte so wild war. Seid Ihr ein Zugereister?« »Ja, ich bin, ich war –« Die roten Mauern, schöne Mauern, Zellen, er mußte sie sehnsüchtig betrachten, er klebte mit dem Rücken an der roten Mauer, ein kluger Mann hat sie gebaut, er ging nicht weg. Und der Mann rutschte wie eine Puppe von dem Sofa herunter auf den Teppich, den Tisch schob er im Sinken beiseite. »Was ist?« schrie der Rote. Der Entlassene krümmte sich über den Teppich, der Hut rollte neben seine Hände, den Kopf bohrte er herunter, stöhnte: »In den Boden rin, in die Erde rin, wo es finster ist.« Der Rote zerrte an ihm: »Um Gottes willen. Ihr seid bei fremden Leuten. Wenn der Alte kommt. Steht auf.« Der ließ sich aber nicht hochziehen, er hielt am Teppich fest, stöhnte weiter. »Seid nur still, um Gottes willen, wenn der Alte hört. Wir werden schon fertig werden miteinander.« »Mir kriegt keener weg hier.« Wie ein Maulwurf.

Und wie der Rote ihn nicht aufheben konnte, kraute der sich die Schläfenlocken, schloß die Tür und setzte sich resolut neben den Mann unten auf den Boden. Er zog die Knie hoch, blickte vor sich die Tischbeine an: »Nun scheen. Bleibt ruhig da. Setz ich mich auch hin. Ist zwar nicht bequem, aber warum nicht. Ihr werdet nicht sprechen, was mit Euch ist, werde ich Euch was erzählen.« Der Entlassene ächzte, den Kopf auf dem Teppich. (Warum er aber stöhnt und ächzt? Es heißt sich entschließen, es muß ein Weg gegangen werden, – und du weißt keinen, Franze. Den alten Mist möchtest du nicht und in der Zelle hast du auch nur gestöhnt und dich versteckt und nicht gedacht, nicht gedacht, Franze.) Der Rote sprach grimmig: »Man soll nicht so viel von sich machen. Man soll auf andere hören. Wer sagt Euch, daß so viel mit Euch ist. Gott läßt schon keinen von seiner Hand fallen, aber es sind noch andere Leute da. Habt Ihr nicht gelesen, was Noah in die Arche getan hat, in sein Schiff, als die große Sintflut kam? Von jedem ein Pärchen. Gott hat sie alle nicht vergessen. Nicht mal die Läuse auf dem Kopf hat er vergessen. Waren ihm alle lieb und wert.« Der winselte unten. (Winseln ist kostenlos, Winseln kann ne kranke Maus auch.)

Der Rote ließ ihn winseln, kraute sich die Backen: »Gibt vieles auf der Erde, man kann vieles erzählen, wenn man jung ist und wenn man alt ist. Ich werde Euch erzählen, nu, die Geschichte von Zannowich, Stefan Zannowich. Ihr werdet sie noch nicht gehört haben. Wenn Euch besser wird, setzt Euch e bißche auf. Das Blut steigt einem zu Kopf, es ist nicht gesund. Mein seliger Vater hat uns viel erzählt, er ist viel herumgereist wie die Leute von unserm Volk, er ist siebzig Jahr alt geworden, nach der Mutter selig ist er gestorben, hat viel gewußt, ein kluger Mann. Wir waren sieben hungrige Mäuler, und wenn es nichts zu essen gab, hat er uns Geschichten erzählt. Man wird nicht satt davon, aber man vergißt.« Das dumpfe Stöhnen unten ging weiter. (Stöhnen kann n krankes Kamel auch.) »Nun nun, wir wissen, es gibt auf der Welt nicht bloß Gold, Schönheit und Fraiden. Wer also war Zannowich, wer war sein Vater, wer waren seine Eltern? Bettler, wie die meisten von uns, Krämer, Händler, Geschäftemacher. Aus Albanien kam der alte Zannowich und ist nach Venedig gegangen. Er wußte schon, warum er nach Venedig ging. Die einen gehen von der Stadt aufs Land, die andern vom Land in die Stadt. Auf dem Land ist mehr Ruhe, die Leute drehen jedes Ding herum und herum, Ihr könnt reden stundenlang, und wenn Ihr Glück habt, habt Ihr ein paar Pfennige verdient. In der Stadt nun, es ist auch schwer, aber die Menschen stehen dichter beieinander, und sie haben keine Zeit. Ist es nicht der eine, ist es der andere. Man hat ka Ochsen, man hat rasche Pferde mit Kutschen. Man verliert und man gewinnt. Das hat der alte Zannowich gewußt. Hat erst verkauft, was er bei sich hatte, und dann hat er Karten genommen und hat gespielt mit de Leut. Er war kein ehrlicher Mann. Er hat ä Geschäft daraus gemacht, daß die Leute in der Stadt keine Zeit haben und unterhalten sein wollen. Er hat sie unterhalten. Es hat sie schweres Geld gekostet. Ein Betrüger, ein Falschspieler der alte Zannowich, aber einen Kopf hat er gehabt. Die Bauern hattens ihm schwer gemacht, hier lebte er leichter. Es ist ihm gut gegangen. Bis einer plötzlich meinte, es ist ihm unrecht geschehen. Nu, daran hatte der alte Zannowich grade nicht gedacht. Es gab Schläge, die Polizei, und zuletzt hat der alte Zannowich mit seinen Kindern lange Beine machen müssen. Das Gericht von Venedig war hinter ihm her, mit dem Gericht, dachte der alte Mann, wollte er sich lieber nicht unterhalten, sie verstehen mich nicht, sie haben ihn auch nicht fassen können. Er hatte Pferde und Geld bei sich und hat sich wieder in Albanien hingesetzt und hat sich ein Gut gekauft, ein ganzes Dorf, und seine Kinder hat er in hohe Schulen geschickt. Und wie er ganz alt war, ist er ruhig und geachtet gestorben. Das war das Leben des alten Zannowich. Die Bauern haben um ihn geweint, er aber hat sie nicht leiden mögen, weil er immer an die Zeit dachte, wo er vor ihnen stand mit seinem Tand, Ringe, Armbänder, Korallenketten, und sie haben sie hin und her gedreht und befühlt, und zuletzt sind sie weggegangen und haben ihn stehen gelassen.

Wißt Ihr, wenn der Vater ä Pflänzchen ist, so möcht er, der Sohn soll ä Baum sein. Wenn der Vater ä Stein ist, soll der Sohn ä Berg sein. Der alte Zannowich hat seinen Söhnen gesagt: Ich bin hier in Albanien nichts gewesen, solange ich hausierte, zwanzig Jahre lang, und warum nicht? Weil ich meinen Kopf nicht dahin trug, wo er hingehörte. Ich schick euch auf die große Schule, nach Padua, nehmt Pferde und Wagen, und wenn ihr ausstudiert habt, denkt an mich, der Kummer hatte zusammen mit eurer Mutter und mit euch und der nachts mit euch im Wald schlief wie ein Eber: ich war selbst schuld dran. Die Bauern hatten mich ausgetrocknet wie ein schlechtes Jahr, und ich wär verdorben, ich bin unter die Menschen gegangen, und da bin ich nicht umgekommen.«

Der Rote lachte für sich, wiegte den Kopf, schaukelte den Rumpf. Sie saßen am Boden auf dem Teppich: »Wenn jetzt einer hereinkommt, möchte er uns beide für meschugge halten, man hat ein Sofa und setzt sich davor auf die Erde. Nu, wie einer will, warum nicht, wenns einem nur gefällt. Der junge Zannowich Stefan war ein großer Redner schon als junger Mensch mit zwanzig Jahren. Er konnte sich drehen, sich beliebt machen, er konnte zärteln mit de Frauen und vornehm tun mit de Männer. In Padua lernen die Adligen von de Professoren, Stefan lernte von de Adligen. Sie waren ihm alle gut. Und wie er nach Hause kam nach Albanien, sein Vater lebte noch, freute der sich über ihn und hatte ihn auch gern und sagte: ›Seht euch den an, das ist ein Mann für die Welt, er wird nicht zwanzick Jahr wie ich mit den Bauern handeln, er ist seinem Vater um zwanzick Jahr voraus.‹ Und das Jüngelchen strich sich seine Seidenärmel, hob sich die schönen Locken von de Stirn und küßte seinen alten glücklichen Vater: ›Aber Ihr, Vater, habt mir die schlimmen zwanzick Jahre erspart.‹ ›Die besten von deinem Leben sollens sein‹, meinte der Alte und streichelte und hätschelte sein Jüngelchen.

Und da ist es dem jungen Zannowich gegangen wie ein Wunder, und war doch kein Wunder. Es sind ihm überall die Menschen zugeflogen. Er hat zu allen Herzen den Schlüssel gehabt. Er ist nach Montenegro gegangen, zu einem Ausflug als Kavalier mit Kutschen und Pferden und Dienern, sein Vater hat Freude dran gehabt, den Sohn groß zu sehn, – der Vater ein Pflänzchen, der Sohn ein Baum, – und in Montenegro haben sie ihn angesprochen als Graf und Fürst. Man hätte ihm nicht geglaubt, hätte er gesagt: mein Vater heißt Zannowich, wir sitzen in Pastrowich auf einem Dorf, worauf mein Vater stolz ist! Man hätte ihm nicht geglaubt, so ist er aufgetreten wie ein Adliger aus Padua und sah aus wie einer und kannte auch alle. Hat Stefan gesagt und gelacht: Sollt ihr euren Willen haben. Und hat sich bei den Leuten für einen reichen Polen ausgegeben, wofür sie ihn selber hielten, für einen Baron Warta, und da haben sie sich gefreut, und er hat sich gefreut.«

Der Strafentlassene hatte sich mit einem plötzlichen Ruck aufgesetzt. Er hockte auf den Knien und belauerte von oben den andern. Jetzt sagte er mit eisigem Blick: »Affe.« Der Rote gab geringschätzig zurück: »Dann werd ich ä Affe sein. Dann weiß der Affe doch mehr als mancher Mensch.« Der andere wurde schon wieder auf den Boden heruntergezwungen. (Bereuen sollst du; erkennen, was geschehen ist; erkennen, was nottut!)

»So kann man also weitersprechen. Es ist noch viel zu lernen von andere Menschen. Der junge Zannowich war auf diesem Weg, und so ging es weiter. Ich habe ihn nicht erlebt, und mein Vater hat ihn nicht erlebt, aber man kann ihn sich schon denken. Wenn ich euch frage, Ihr, der mich einen Affen nennt – man soll kein Tier auf Gottes Erdboden verachten, sie geben uns ihr Fleisch, und sie erweisen uns auch sonst viele Wohltaten, denkt an ä Pferd, an ä Hund, an Singvögel, Affen kenn ich nur vom Jahrmarkt, sie müssen Possen reißen an der Kette, ä schweres Los, kein Mensch hat solch schweres –, nun ich will Euch fragen, ich kann Euch nicht bei Namen nennen, weil Ihr mir Euren Namen nicht sagt: wodurch ist der Zannowich weitergekommen, der junge wie der alte. Ihr meint, sie haben ein Gehirn gehabt, sie sind klug gewesen. Sind noch andere klug gewesen und waren mit achtzick Jahren nicht so weit wie Stefan mit zwanzick. Aber die Hauptsache am Menschen sind...

Erscheint lt. Verlag 17.1.2013
Reihe/Serie Alfred Döblin, Werke in zehn Bänden
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20er • 20. Jahrhundert • Anspruchsvolle Literatur • Berlin • Biberkopf • Deutschland • Franz • Geschwindigkeit • Großstadt • Moderne • Roman • Zwanziger Jahre • zwanzigstes
ISBN-10 3-10-402293-3 / 3104022933
ISBN-13 978-3-10-402293-2 / 9783104022932
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