Die Sonnenuhr (eBook)

Roman
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2012 | 1. Auflage
336 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-96036-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Sonnenuhr -  Maarten 't Hart
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Leonie Kuyper führt ein ganz und gar unspektakuläres Leben - bis ihre beste Freundin Roos, die Laborantin mit den superlangen Fingernägeln, plötzlich stirbt. Als Leonie ihrem Tod genauer nachgeht, stößt sie auf verwirrende Geheimnisse in Roos' Leben. Ein hinreißendes Krimistück, in dem 't Hart auch eine komödiantische Seite zeigt.

Maarten 't Hart, geboren 1944 in Maassluis, studierte Verhaltensbiologie, bevor er sich als freier Schriftsteller niederließ. 1997 erschien auf Deutsch sein Roman »Das Wüten der ganzen Welt«, der zu einem überragenden Erfolg wurde. Nicht zuletzt seine autobiografischen Werke machen ihn zu einem der renommiertesten europäischen Gegenwartsautoren, dessen Bücher sich allein im deutschsprachigen Raum über 2 Millionen Mal verkauft haben.

Maarten 't Hart, geboren 1944 in Maassluis, studierte Verhaltensbiologie, bevor er sich als Schriftsteller niederließ. 1997 erschien auf Deutsch sein Roman "Das Wüten der ganzen Welt", der zu einem überragenden Erfolg wurde. Nicht zuletzt seine autobiografischen Bücher machten ihn zu einem der renommiertesten europäischen Gegenwartsautoren, dessen Bücher sich allein im deutschsprachigen Raum über 2 Millionen Mal verkauft haben.

1

Roos war tot, und ich wußte nicht, was ich anziehen sollte. Wenn es doch Winter wäre, dachte ich, dann würde ich meinen schwarzen Mantel anziehen. Wer stirbt denn auch im Sommer? Zugegeben, es war ein holländischer Mogelsommer mit kalten, nassen Tagen. Schon seit Anfang Juni herrschte der westeuropäische Monsun. Dennoch, ein Wintermantel, das ging nicht. Aber was dann?

Wie eigenartig, deine beste Freundin ist gestorben, und du stehst da und reißt verbissen, beinahe wütend, ein Kleidungsstück nach dem andern aus dem Schrank und schleuderst es aufs Bett. Als dreiviertel meiner verwaschenen, armseligen Garderobe ausgebreitet vor mir auf dem großen Bett lag, ließ ich mich mutlos auf einen Stuhl fallen. »Warum, in Gottes Namen?« fuhr ich den Türpfosten an. Mir war klar, daß ich schnell wieder aufstehen mußte. Wenn ich sitzen bliebe, würde ich langsam, aber sicher versteinern. Mich hatte in dem Moment, als mein Blick im Aufbahrungsraum flüchtig über den gläsernen Sargdeckel geglitten war und ich ihr starres blaßblaues Gesicht gesehen hatte, urplötzlich eine aschgraue Mutlosigkeit überfallen. Solange man in Bewegung blieb, konnte man sie auf Abstand halten. Wenn man sich aber hinlegte oder hinsetzte, versank man in Minenschächten, von denen nicht einmal der Dichter von Psalm 130 eine Ahnung hatte. »Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir.« [1] Der hatte noch rufen können!

»Der Tod, der Tod, der Tod, das Sterben und die Toten« [2], murmelte ich eine Gedichtzeile von du Perron, und ich stand wieder auf. Entschlossen griff ich zur schwarzen Jacke meines Designerkostüms. Das war meine erste Wahl gewesen. Doch da ich es von Roos bekommen hatte, fand ich es nicht gerade passend. Zur Beerdigung in den Kleidern der Verstorbenen?

Zweifellos das schönste Kostüm, das ich besaß. Außerdem tiefschwarz, also hervorragend geeignet für eine solche Feier. Aber der Rocksaum reichte mir nur bis zum Knie, und die Jacke war tailliert. Einigermaßen provozierend. Ging das bei einer Beerdigung? Gut, das konnte ich ausgleichen, indem ich mein Haar hochsteckte. So konnte ich gleichzeitig verbergen, daß es strähnig war und nicht mehr saß. Ich sollte endlich zum Friseur gehen.

Als ich das Kostüm angezogen hatte und sah, daß ich etwas zu dick dafür geworden war, murmelte ich: »Wenn ich es anziehe, gehören auf jeden Fall schwarze Strümpfe dazu.« Besaß ich noch schwarze Strumpfhosen ohne Laufmaschen? In der unteren Schublade meines Kleiderschranks fand ich zwei Paar, fünfzehn Denier, jede mit einer Laufmasche an einem der Beine. Ohne Rücksicht auf Verluste schnitt ich bei beiden das beschädigte Bein ab. Auf diese Weise hatte ich zwei mutierte Strumpfhosen mit jeweils einem schönen Bein. Ob sie gleich aussahen und glänzten – ich war mir nicht sicher, aber was sollte ich tun? Zeit, noch einmal loszugehen, hatte ich nicht. Außerdem waren die Läden am Montagmorgen geschlossen. Zuerst aber zog ich mir Handschuhe an. »Strumpfhosen ohne Glacéhandschuhe anziehen, das gibt gleich wieder eine Laufmasche«, murmelte ich.

Dann kam das Problem mit der Handtasche. Ich besaß ein billiges schwarzes Lacktäschchen. Paßte das zu einem so teuren Kostüm? Es mußte einfach.

Auch wegen der Schuhe ging ich erst einmal ausführlich mit mir zu Rate, doch schließlich stand ich wahrhaftig in schwarzen Pumps im kalten Sommerregen an der Bushaltestelle. Und weil ich dort nun stehen und warten mußte, meldete sich unerbittlich die quälende Niedergeschlagenheit wieder, so daß ich, als ein Gelenkbus endlich mit rutschenden Rädern bremste, kaum fähig war einzusteigen. Am Bahnhof mußte ich umsteigen. Glücklicherweise stand der Bus zum Friedhof schon abfahrbereit da.

Als wir uns Rhijnhof näherten, riß der Himmel auf. Zarte Wölkchen schoben die graue Monsundecke nach Deutschland. Und in dem Augenblick, als ich bei Boeketterie Datura ausstieg, kam sogar die Sonne durch. Ich machte mich lächerlich mit meinem schwarzen Regenschirm.

In den Wandelgängen des Krematoriums mußte man warten. Die vorhergehende Feier zögerte sich hinaus. Ich stellte fest, daß mein Kostüm aufreizend wirkte. Oder reagieren Männer sowieso lüsterner auf einem Friedhof oder in einem Krematorium? Wie dem auch sei, Aufsehen erregte ich jedenfalls.

Als ich in meinen Pumps zu den großen Flügeltüren der Trauerhalle aufrückte, wurde ich prompt von einem Schlipsträger fortgeschrittenen Alters angesprochen.

»Haben Sie Roos gut gekannt?«

»Sie war meine beste Freundin«, sagte ich aggressiv.

»Nicht zu glauben«, sagte der Mann, »auf einmal tot … und noch so jung.«

»Nächste Woche«, sagte ich, »wäre sie dreiundvierzig geworden. Sie war eine Löwin. In diesen dummen Astrologiebüchern steht immer, daß Löwen eine so gute Haltung haben, daß sie kerzengerade gehen, beherzt handeln. Bei ihr stimmte das, als sei sie dazu geschaffen gewesen, diesen blödsinnigen Sterndeutern recht zu geben …«

Erschrocken verstummte ich. Woher dieser Redefluß? Bei einem Menschen, den ich noch nie gesehen hatte? Und dann noch in diesem aggressiven Ton?

»Genau«, sagte der alte Mann ebenso freundlich wie unbeirrt, »sie sah immer großartig aus. Und wunderbar kerzengerade, genau wie Sie sagen, kerzengerade.«

Es folgte noch mehr, aber ich hörte nicht zu, ich dachte: Ob Thomas wohl hier ist? Unter den Leuten, die vor mir in der Reihe standen, konnte ich ihn nicht entdecken. Als ich mich umwandte, sah ich einem seiner früheren Kollegen direkt ins Gesicht. Obwohl jünger als Thomas, war er vor Jahren aufgrund sensationeller Untersuchungen über blutdrucksenkende Mittel zum Nachfolger des Professors für Pharmakologie ernannt worden. Thomas war natürlich verbittert. Hatte damals zuerst seine Wut an mir ausgelassen und sich dann auswärts beworben. War jetzt im Ausland. Nicht daran zurückdenken, ermahnte ich mich, alles besser als eine verpfuschte, kinderlose Ehe.

»Hallo«, sagte der Hypertonie-Professor, »weißt du, ob Thomas kommt?«

»Das hab ich mich auch gerade gefragt«, sagte ich, »aber vielleicht weiß er nicht, daß Roos gestorben ist.«

»Hast du ihn denn nicht angerufen?«

»Nein«, sagte ich kurz.

Ich erschrak selbst über meinen Ton. Er wandte sich an seine Frau, die in einem dottergelben Kostüm herausgeputzt war wie ein Pfingstochse, und sagte gekränkt: »Um ein Uhr sollte es anfangen, und jetzt ist es schon zehn nach eins.«

»Für Roos ist das jetzt egal«, sagte Marjolein spöttisch, »und deine Rede steht auf dem Papier, was macht es also schon aus, ob es ein paar Minuten später anfängt.«

»Pünktlich auf die Minute, das ist meine Devise.«

»Genau wie der Tod«, sagte Marjolein.

»Warum stellst du dich bloß immer quer?«

»Wer stellt sich hier quer? Roos nicht, sie liegt nämlich, und zwar hübsch gerade in ihrem Sarg. Wer nörgelt hier wegen lächerlicher zehn Minuten …«

Er wollte etwas erwidern, aber die Flügeltüren schwangen auf. Wir durften also endlich hineingehen. Vorn stand ihr Sarg. Ich setzte mich in die zweite Reihe. Aus den Lautsprechern erklang der langsame Satz aus dem ersten Haydn-Quartett von Mozart. [3] Greift einem nicht zu sehr ans Herz, dachte ich, ganz passend, hab ich gut ausgesucht.

Als alle einen Platz gefunden hatten, schritt einer jener Männer ans Rednerpult, die man früher »Leichenbitter« nannte. Er sagte: »Professor Wehnagel hat das Wort«, und verließ das Rednerpult wieder. Eduard, seinerzeit der typische Chef mit Bauch, jetzt emeritiert und alt und verschrumpelt, wankte zum Rednerpult, nahm einen Schluck Wasser und sagte: »Wir sind hier zusammengekommen, um Abschied zu nehmen von unser aller Roos Berczy. Wie die meisten von Ihnen wahrscheinlich wissen, war Roos ungarischer Herkunft. Im November 1956 sind ihr Vater und ihre Mutter aus Ungarn geflohen. Im Jahr darauf wurde sie geboren. Sie war das einzige Kind. Alle ihre Verwandten sind im ungarischen Aufstand ermordet worden. Ihre Eltern starben kurz nacheinander in den achtziger Jahren. Viel zu jung noch ist sie nun selbst gestorben. In der Blüte ihrer Tage mußte sie, wie das alte Buch sagt, dahingehen durch die Tore des Totenreiches und den Rest ihrer Jahre entbehren.«

Er machte eine Pause, nahm wieder einen Schluck und sagte: »Ich weiß es noch, als sei es gestern gewesen, wie sie sich bei uns als Chemielaborantin bewarb. Sie hatte zwei Konkurrentinnen, aber sie fiel sofort aus dem Rahmen. Sie war ein unglaublich hübsches Mädchen, ich weiß noch, daß ich damals dachte: Geh bitte nicht nach dem Äußeren. Und ich dachte damals auch: Ein Mädchen mit so langen Fingernägeln kann niemals präzise arbeiten. Also entschloß ich mich entgegen meiner Intuition, eines der anderen beiden Mädchen auszuwählen. Nette Graue-Maus-Mädchen, diese anderen beiden Bewerberinnen. Nachdem ich mit allen dreien gesprochen hatte und bei Gott nicht wußte, wen ich nehmen sollte, ließ ich sie alle drei zu einem zweiten Gespräch wiederkommen. Das erste graue Mäuschen fragte ich: ›Können Sie ein dubbeltje hochkant hinstellen?‹ Das Mädchen nahm ein Dubbeltje aus ihrem Portemonnaie und versuchte verzweifelt, es hinzustellen. Wenn Sie das jemals versucht haben, wissen Sie, daß das nicht geht. Auch das zweite Mädchen versuchte, das Dubbeltje hochkant hinzustellen, aber Roos blickte mich an, blickte mich an … ich sehe es noch vor mir, wie auch sie ein Dubbeltje aus ihrem roten Portemonnaie fischte … ich weiß noch genau, daß ich damals enttäuscht dachte: Ob sie es auch versucht … aber sie nahm eine Streichholzschachtel aus ihrer Tasche,...

Erscheint lt. Verlag 10.12.2012
Übersetzer Marianne Holberg
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bestseller • Bestsellerautor • Buch • Bücher • Der Flieger • Der Psalmenstreit • Der Schneeflockenbaum • Die grüne Hölle • Die Jakobsleiter • Die Netzflickerin • Die schwarzen Vögel • Die Sonnenuhr • Ein Schwarm Regenbrachvögel • Geheimnis • humorvoll • In unnütz toller Wut • Kriminalgeschichte • Labor • Leonie Kuyper • lustig • Magdalena • Niederlande • Niederländische Literatur • Niederländischer Roman • Roman • ´t Hart • Tod • Unter dem Deich • Unterm Scheffel
ISBN-10 3-492-96036-7 / 3492960367
ISBN-13 978-3-492-96036-6 / 9783492960366
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