Schreiben für die eigenen Augen (eBook)

Aus den Tagebüchern 1915-1941

(Autor)

Nicole Seifert (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
372 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-401896-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schreiben für die eigenen Augen -  Virginia Woolf
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Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT+KRITIK »Ein Dialog der Seele mit der Seele« (Virginia Woolf über ihre Tagebücher) Zur Erholung von ihrer schriftstellerischen Arbeit notierte Virginia Woolf fast täglich rasch und spontan, was ihr durch den Kopf ging. So entstand das einzigartige Tagebuchwerk, das ihr inneres und äußeres Dasein von 1915 bis zu ihrem Tod 1941 dokumentiert. Eine Auswahl aus diesen Aufzeichnungen macht unser Bild von ihrem Leben und ihrer Persönlichkeit um einige Klischees ärmer und um viele Nuancen reicher. Wir sehen, welchen Mut sie immer wieder ihren Ängsten und psychischen Krisen entgegensetzte - und wie genau sie ihre Umwelt beobachtete, mit Witz und Freude an Spott und Klatsch.

Virginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 als Tochter des Biographen und Literaten Sir Leslie Stephen in London geboren. Zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, gründete sie 1917 den Verlag The Hogarth Press. Ihre Romane stellen sie als Schriftstellerin neben James Joyce und Marcel Proust. Zugleich war sie eine der lebendigsten Essayistinnen ihrer Zeit und hinterließ ein umfangreiches Tagebuch- und Briefwerk. Virginia Woolf nahm sich am 28. März 1941 in dem Fluß Ouse bei Lewes (Sussex) das Leben.

Virginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 als Tochter des Biographen und Literaten Sir Leslie Stephen in London geboren. Zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, gründete sie 1917 den Verlag The Hogarth Press. Ihre Romane stellen sie als Schriftstellerin neben James Joyce und Marcel Proust. Zugleich war sie eine der lebendigsten Essayistinnen ihrer Zeit und hinterließ ein umfangreiches Tagebuch- und Briefwerk. Virginia Woolf nahm sich am 28. März 1941 in dem Fluß Ouse bei Lewes (Sussex) das Leben. Nicole Seifert ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und Verlagsbuchhändlerin. Heute arbeitet sie als freie Autorin und Übersetzerin in Berlin. 2019 wurde ihr Blog »Nacht und Tag« vom Börsenverein des deutschen Buchhandels als bester Buchblog ausgezeichnet. Ihr vielbesprochenes Sachbuch »FRAUEN LITERATUR. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt« (Kiepenheuer & Witsch) erschien 2021.

Mittwoch 5. März 1919


Gerade zurückgekehrt von 4 Tagen in Asheham & einem in Charleston;[52] ich sitze & warte darauf, daß Leonard nach Hause kommt, während mein Kopf immer noch die Schienenstränge entlangläuft, was ihn untauglich macht fürs Lesen. Aber du liebe Güte, was muß ich alles lesen! Sämtliche Werke von Mr James Joyce, Wyndham Lewis, Ezra Pound, um sie mit sämtlichen Werken von Dickens & Mrs Gaskell zu vergleichen; außerdem George Eliot & schließlich Hardy.[53] Und ich habe gerade Tante Anny abgeschlossen, aus einer wirklich großzügigen Perspektive.[54] Ja, seit ich das letzte Mal schrieb, ist sie gestorben, heute vor einer Woche genau, in Freshwater, & ist gestern in Hampstead beerdigt worden, wo wir vor 6 oder 7 Jahren mit dabei waren, als Richmond in einem gelben Nebel beerdigt wurde. Ich vermute, mein Gefühl für sie ist zur Hälfte Mondschein; oder richtiger, zur Hälfte eine Rückspiegelung anderer Gefühle. Vater mochte sie; sie tritt ab als die letzte, beinahe, aus jener alten Hyde Park Gate-Welt des 19. Jahrhunderts. Im Gegensatz zu den meisten alten Damen schien sie sehr wenig darauf aus zu sein, daß man sie besuche; es war ihr wohl fast etwas schmerzlich, meine ich manchmal, uns zu sehen, als wären wir weit fortgegangen & erinnerten sie an unglückliche Zeiten, mit denen sie sich nie beschäftigen mochte. Außerdem war sie, im Gegensatz zu den meisten alten Tanten, scharfsinnig genug um zu merken, wie deutlich wir uns in aktuellen Fragen unterschieden; & vielleicht war es das, was ihr das Gefühl gab – ein in ihrem Kreis sonst fast inexistentes Gefühl – von Alter, Überholtheit, Untergang. Was mich betrifft, hätte sie in dieser Hinsicht allerdings unbesorgt sein können, da ich sie aufrichtig bewunderte; dennoch sieht für die Generationen gewiß alles anders aus. Vor zwei oder vielleicht drei Jahren statteten L. & ich ihr einen Besuch ab; wir fanden sie sehr geschrumpft, mit einer Federboa um den Hals, und allein in einem Salon sitzend, der fast eine Kopie, in kleinerem Maßstab, des alten Salons war; die gleiche gedämpfte angenehme Atmosphäre des 18. Jahrhunderts & alte Porträts & altes Porzellan. Der Tee war schon für uns bereitet worden. Ihr Gebaren hatte ein wenig Distanz, & mehr als nur ein wenig Melancholie. Ich fragte sie nach Vater, & sie erzählte, wie diese jungen Männer immer auf eine »laute melancholische Art« lachten & daß ihre Generation eine sehr glückliche gewesen wäre, aber selbstsüchtig; & daß unsere ihr in Ordnung scheine aber ziemlich fürchterlich; aber wir hätten keine solchen Schriftsteller wie sie gehabt hätten: »Manche haben einen Anflug jener Qualität; Bernard Shaw; aber nur einen Anflug. Das Angenehme war, sie alle als gewöhnliche Menschen zu kennen, nicht als große Männer –« Und dann eine Geschichte von Carlyle & Vater; wobei Carlyle sagte, er würde lieber sein Gesicht in einer schmutzigen Pfütze waschen, denn als Journalist arbeiten. Sie fuhr mit der Hand, erinnere ich mich, in eine Tasche oder Schachtel, die hinter dem Kamin stand, & sagte, sie habe einen Roman, dreiviertel fertiggeschrieben, aber sie könne ihn nicht beenden – und ich glaube nicht, daß sie ihn beendet hat. Aber ich habe alles gesagt, was es zu sagen gibt, leicht in rosarote Farbe getaucht, in der morgigen Times. Ich habe an Hester geschrieben, aber ich zweifle sehr an der Aufrichtigkeit meiner eigenen Gefühle!

Asheham war, vermute ich, nur ein bedingter Erfolg – jedenfalls für L. wegen der Unannehmlichkeiten; für mich bestanden die Unannehmlichkeiten, sofern es sie gab, hauptsächlich in der Anwesenheit von Philip [Woolf]. Man konnte sich nicht einfach vor dem Holzfeuer zurücklehnen & Shakespeare lesen. Diese Form von gehobenem Egoismus wurde unterbunden, & ich glaube, daß Philip sich vielleicht selbst als ein gewisses Hindernis empfindet, & sich zweifellos jetzt immer so empfindet – als einen Außenseiter, einen Zuschauer; ohne Bindungen & sehr einsam. Duncan kam herüber, verstrickt in häusliche Schwierigkeiten, & gab ihm einen Brief an Mr Hecks, den Bauern, den er gestern vormittag abgeben sollte, im schlimmsten Regenguß des Jahres. Aber wir hatten zwei schöne Frühlingsnachmittage, wobei ich mich immer wieder fragte, »Was ist es jetzt? Wieweit sind wir? Ist es Frühling oder September?« & aufschrecke bei der Tatsache, daß wir auf einen weiteren Sommer zusteuern. Die kleinen graugrünen Troddeln schmückten das Gehölz, wie die Zeichnung auf einem japanischen Wandschirm. Als wir uns an einem dieser Tage aufmachten um Milch zu holen, trafen wir Gunn & erfuhren unser Schicksal. Wir sollen im September ausziehen. Er will Asheham haben, um mit seiner alten Mutter darin zu wohnen. Oh je oh je! – Jedesmal, wenn ich die Auffahrt hinaufkam, dachte ich, daß es nichts Schöneres gebe. Wäre da nicht etwas in mir, das verteufelt gerne von neuem anfängt, dann wäre ich verzweifelt. L. meinte, es brauchte nicht viel, um aus einem Haus einen Fetisch zu machen; was stimmt; in der Zwischenzeit hängen wir in der Luft. Aber die Notwendigkeit, sich nach einem anderen Haus umzusehen, ist eine Quelle großen Vergnügens. Sie führte uns alle zur Rodmell Road zu Mr Stacey, & dort erfuhren wir von einem Paar farbloser Weibsen in einer Kalesche, daß Mr Robinson aus Itford vermieten will; also fuhren wir weiter nach Itford, einem eng zusammengedrängten kleinen Dorf auf dem flachen Lande; & fanden ein Haus mit drei grünen Säulen vor, einem vollgestopften Wohnzimmer, & einer Mrs Robinson, die, wie L. behauptete & die Zahl der Kinder bewies, für Zuchtzwecke geschaffen war. Stillampen & funkelnde Teller an den Wänden demonstrierten die Vornehmheit ihres bäuerlichen Ehemannes. Offensichtlich haben sie sich sehr schmuck eingerichtet & werden mehr wollen als wir zahlen können; selbst wenn die Landschaft dort schöner wäre als sie ist. Im großen ganzen sind wir dabei, das Itforder Bauernhaus ins Auge zu fassen – ein Haus, das man sehr anziehend gestalten könnte, mit den Ausblicken, die es hat & der Sonne. Wir sind den Häusern der Gentlemen entwachsen.

Charleston ist keineswegs ein Gentleman-Haus. Ich radelte hin in einem Regenschauer & fand das Baby in seinem Bettchen schlafend vor, & Nessa & Duncan am Kaminfeuer sitzend, mit Fläschchen & Lätzchen & Schüsseln rundherum. Duncan ging, um das Bett für mich zu machen. Ihr Dienstpersonal besteht zur Zeit nur aus Jenny, der scharfzüngigen jüdisch aussehenden Köchin; & die, da sie zusammengebrochen war, den Nachmittag im Bett verbrachte. Dank äußerster Methodik & Selbstlosigkeit & Routine, vorwiegend auf Nessas & Duncans Seite, wird Dinner gekocht & finden zahllose Verabreichungen von Wärmflaschen & Bädern statt. Man hat das Gefühl, am Rande eines Umzugs zu leben. Auf einer der kleinen Inseln vergleichsweiser Ordnung stellte Duncan seine Leinwand auf & schrieb Bunny einen Roman in einen Stapel Hefte.[55] Nessa verläßt das Zimmer des Babies kaum, wenn sie aber für einen Augenblick außerhalb auftaucht, muß sie sofort weg & mit Dan reden, Jennys jungem Mann & der zukünftigen Stütze von Charleston, oder Windeln oder Flaschen waschen oder Mahlzeiten zubereiten. Mrs B. & die Kinder laufen hastig hin & her zwischen ihren Zimmern. Ich hatte eine endlos lange Unterhaltung mit Ann [Brereton] über den Gesundheitszustand der Perserkatze, die, laut Mrs B., innerlich schwer verletzt wurde, als man sie wusch, um sie von den Nissen zu befreien; so daß sie Chloroform verlangte, was Nessa ihr verweigerte, & die Katze erholte sich. Dann bestand bei Quentin gerade der Verdacht auf Masern – Die Atmosphäre scheint geladen mit Katastrophen, die niemanden aus dem Gleichgewicht bringen; die Atmosphäre ist freundlich, lebhaft, wie das meistens nach drei Monaten häuslicher Desaster der Fall ist. Ich wette, daß ich unter diesen Umständen nicht länger als 30 Minuten nacheinander mit Nessa reden konnte, hauptsächlich über das große Epos von Dr, Krankenschwester & Emily.[56] Aber wie das so geht wenn ein Desaster auf das andere folgt, trat heute morgen eine plötzliche Erleichterung der Misere ein: nachdem Dan & seine Mutter eingestellt worden waren, traf ein Brief von einer Krankenschwester ein, die entgegen aller Wahrscheinlichkeit anscheinend kommen möchte, falls sie eine Freundin mitbringen darf. Aber ich brach bei Flut auf & mußte nach Glynde durch Schlamm waten – einen solchen Schlamm, daß als ich bei Powell, dem Verwalter, eintrat, der geschniegelte kleine Angestellte mich vom Kopf bis zu den Stiefeln mit Entsetzen musterte – als könnte eine solche Gestalt unmöglich ein Haus mit 7 Schlafzimmern & Bad brauchen. Unglücklicherweise stehen die Aussichten schlecht eines zu finden. Ich habe nichts von meiner Nichte erzählt, die so formell genannt werden muß, da Susanna Paula wieder gestrichen ist & ihnen nichts anderes einfällt.[57] Sie ist eine versonnene, geduldige, gedankenvolle kleine Person, sehr meditativ in die Betrachtung des Feuers versunken, mit einem ergebenen Gesichtsausdruck & sehr großen blauen Augen. Ich glaube, sie ist nicht viel größer...

Erscheint lt. Verlag 9.10.2012
Reihe/Serie Fischer Klassik Plus
Übersetzer Maria Bosse-Sporleder, Claudia Wenner
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Anthologie • Beobachtung • Bloomsbury • Dalloway • Emanzipation • Empanzipation • England • Frauen • Frauenbewegung • Gesellschaft • Hogarth • Jahrhundert • Leuchtturm • Literatur • London • Märchenonkel • Moderne • Orlando • Sackville-West • Sammlung • Tagebuch • viktorianisch • Weltliteratur • Zimmer für sich allein • zwanzigstes
ISBN-10 3-10-401896-0 / 3104018960
ISBN-13 978-3-10-401896-6 / 9783104018966
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