Der König von Berlin (eBook)
384 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-11211-7 (ISBN)
Horst Evers, geboren 1967 in der Nähe von Diepholz in Niedersachsen, studierte Germanistik und Publizistik in Berlin und jobbte als Taxifahrer und Eilzusteller bei der Post. Er erhielt unter anderem den Deutschen Kabarettpreis und den Deutschen Kleinkunstpreis. Jeden Sonntag ist er auf radioeins zu hören, im WDR regelmäßig mit seiner Sendung «Horst Evers und Freunde». Seine Geschichtenbände und Romane - wie «Der König von Berlin», «Wäre ich du, wu?rde ich mich lieben» oder «Wer alles weiß, hat keine Ahnung» - sind Bestseller. Horst Evers lebt mit seiner Familie in Berlin.
Horst Evers, geboren 1967 in der Nähe von Diepholz in Niedersachsen, studierte Germanistik und Publizistik in Berlin und jobbte als Taxifahrer und Eilzusteller bei der Post. Er erhielt unter anderem den Deutschen Kabarettpreis und den Deutschen Kleinkunstpreis. Jeden Sonntag ist er auf radioeins zu hören, im WDR regelmäßig mit seiner Sendung «Horst Evers und Freunde». Seine Geschichtenbände und Romane – wie «Der König von Berlin», «Wäre ich du, würde ich mich lieben» oder «Wer alles weiß, hat keine Ahnung» – sind Bestseller. Horst Evers lebt mit seiner Familie in Berlin.
Erster Tag
Die Leiche lag mitten im Sandkasten.
Kein Wunder, dass die Frau am Telefon so laut gewesen war. Lucy, ihre fünfjährige Tochter, war wohl nach dem Frühstück zum Spielen in den Hof, hatte die Schutzplane vom Sandkasten gezogen und den leblosen Körper entdeckt. Andere Kinder hätten die Leiche womöglich zuerst erforscht, sich die Augen angeschaut, gefühlt, wie kalt und schwer sie ist, ob hart oder weich. Aber so war Lucy nicht. Lucy war eher eines dieser «Ich-laufe-am-besten-mal-rot-an-und-schreie-dann-so-laut-ich-kann»-Kinder. Und Lucy konnte sehr laut schreien. Auch schrill und hoch. Gerade noch so in den Grenzen des menschlichen Wahrnehmungsvermögens. Lucy wusste, wie gut sie schreien konnte. Es strengte sie nicht an, es machte ihr Freude, gab ihr das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Das ist natürlich ein kostbares Gut bei einem Kind. Einmal, im Flugzeug, war es ihr sogar gelungen, so lange und eindrucksvoll zu schreien, bis sie zur Belohnung den Piloten im Cockpit besuchen durfte. Daher war die Frau so laut gewesen, wenngleich sie routiniert im Übertönen ihres Kindes schien, wie manche Bauarbeiter, die auch die Fähigkeit entwickelt haben, in unmittelbarer Nähe des Presslufthammers zu telefonieren.
Toni Karhan tippte mit dem Fuß gegen die Leiche. Der mittelgroße, schwarzhaarige, schlanke, aber kräftige Mann im unauffällig-eleganten Anzug wusste, was er tat. Er war einer der Besten, vielleicht sogar der Allerbeste in seinem Fach. Er hatte noch beim Alten gelernt. Beim großen Alten. Der hatte ihm alle Tricks beigebracht. Alle Tricks, doch nicht alles, was er wusste.
Toni konnte mit seiner Fußspitze mehr über eine Leiche erfahren als andere mit einem ganzen Labor. Er trat noch mal leicht gegen den leblosen Körper. «Ist seit höchstens vierundzwanzig Stunden tot. Vergiftet.»
Frau Kreutzer, Lucys Mutter, lachte verächtlich: «Na, ganz toll. Vergiftet. Das hätte ich mir vielleicht auch noch gerade so zusammenreimen können. Glückwunsch!»
Georg Wolters nahm Toni zur Seite. «Vierundzwanzig Stunden? Bist du dir da wirklich sicher? Ich meine, die sieht doch schon ziemlich aufgedunsen und fertig aus.»
«Ganz sicher.»
«Also, ich hätte gedacht, die liegt länger. Und das kriegst du raus, indem du nur einmal kurz mit dem Fuß dagegentippst? Wahnsinn.»
Toni schaute ihn ausdruckslos an. «Gewicht, Geräusch, Konsistenz. Das alles sagt viel über Todesursache und Todeszeitpunkt. Aber ganz sicher, dass sie hier nicht länger liegt als einen Tag, ich bin, weil ich habe gefragt Kind, wann es zuletzt hat gespielt in Sandkasten.» Die Einweghandschuhe schnalzten, als Toni sie gegen ihren ausdrücklichen Widerstand über seine Hände zubbelte. Dann holte er einen Schraubenzieher aus der Tasche, beugte sich hinunter und untersuchte das Gebiss.
Georg war unzufrieden. «Aber warum ist das Biest denn schon so verrottet nach höchstens vierundzwanzig Stunden?»
Toni strich vorsichtig über das Fell. «War schlimmes Gift. Nicht gut.»
Toni war in sein eigentliches, binäres Sprachsystem zurückgekehrt. Im Prinzip konnte er damit alles bewältigen, was an notwendiger Meinungsäußerung anfiel. Was für einen Computer die 1 und die 0 war, war für Toni «gut» und «nicht gut». Wobei er einen großen, einen gewaltigen Vorteil gegenüber Computern besaß. Er hatte noch eine dritte Option: die vielgenutzte Möglichkeit des «ist egal». Sie schenkte ihm ungeheure Freiheit. Wahrscheinlich ist es genau diese Freiheit, sich nicht permanent zwischen 1 und 0 entscheiden zu müssen, sondern Dinge egal finden zu können, die den Unterschied zwischen Mensch und Maschine, vielleicht sogar das Wunder des Lebens selbst ausmacht.
Ansonsten war Tonis spärliches Ausreizen seiner sprachlichen Möglichkeiten einem pragmatischen Beschluss geschuldet. Eigentlich war sein Deutsch exzellent. In seiner Familie und seiner Heimatstadt Breslau war häufig Deutsch gesprochen worden. Als er vor zehn Jahren zum Studium nach Berlin kam, perfektionierte er es, indem er zahllose Bücher las. Während das Lesen ihm bis heute große Freude bereitet, konnte er sich für das Sprechen nie so richtig begeistern. Im Gegenteil, sein aus Romanen und Dramen erworbener Wortschatz und Satzbau haben die Menschen in Berlin immer mehr irritiert, als dass sie ihm Vorteile verschafft hätten. Als er dann sein Talent als Kammerjäger entdeckte, wurde ihm schnell klar, wie außerordentlich dienlich es seinem Status und seinen Karrierechancen war, als geheimnisvolles osteuropäisches Ungezieferbekämpfungsgenie mit apartem Akzent und karger Syntax aufzutreten. Ein unsicherer Ex-Student, der sich mit perfektem Deutsch und gewählter Ausdrucksweise anzubiedern versuchte, hätte davon nur träumen können. Er sprach nur das Allernötigste, unbeholfen und gebrochen, zugleich aber würdevoll und mysteriös. Georg bewunderte seinen polnischen Kammerjägerlehrmeister dafür, wie er nach Belieben zwischen den Sprachcodes hin- und herzuschalten vermochte. Wenn sie zu zweit im Wagen oder im Büro saßen, redete Toni normal und fließend. Nur im Kundengespräch nutzte er seine osteuropäische Kunstsprache mitsamt dem binären Gut-Nicht-gut-System, ergänzt durch das raffinierte «Ist egal».
Lucys Mutter hatte sich mittlerweile wieder gefangen. Weniger wütend war sie deshalb aber noch lange nicht. Nachdem sie ihre Tochter hoch in die Wohnung geschickt hatte, fuhr sie Toni an: «Die Ratte ist vergiftet worden? Was wollen Sie eigentlich damit sagen? Heißt das, irgendjemand hat in unserem Innenhof einfach mal Gift ausgelegt?»
Georg versuchte, sie zu beruhigen. «Das muss nicht hier im Hof gewesen sein. Das kann auch von einem Hof zwei, drei, vier, fünf Häuser weiter kommen. Wahrscheinlich haben die Ratten ein unterirdisches Tunnelsystem angelegt, das mehrere Höfe miteinander verbindet.»
«Unterirdisches Tunnelsystem? Na großartig! Und was macht das für einen Unterschied? Hier spielen überall Kinder. In allen Höfen! Da kann man doch nicht einfach ein paar Kilo Gift verteilen! Hallo? Geht’s noch?»
Die Frau hatte sich jetzt ordentlich in Rage geredet. Georg hätte ihr gern gesagt, wie unerhört attraktiv er sie in ihrer Wut fand. Die aufgerissenen Augen, die Zornesröte, dazu die roten gelockten Haare, der zierliche, aber vor Energie nur so strotzende Körper, das gefiel ihm schon sehr. Dennoch entschied er sich für eine professionelle Antwort. «Die Leute sind verunsichert. Die vielen Ratten in diesem Jahr, an allen Ecken kommen sie an die Oberfläche. Da bleibt es nicht aus, dass der ein oder andere in Panik gerät und unüberlegte, dumme Sachen macht.»
«Ja, aber das kann es ja wohl nicht sein: in der ganzen Stadt Gift auszukippen!»
Nun mischte sich auch Toni ein. «Natürlich nicht. Wenn hier jeder Amateur verstreut Gift, wie und wo er will, ist nicht gut.»
Lucys Mutter riss theatralisch die Hände in die Luft und ließ sie dann auf ihre Oberschenkel klatschen. Zu Georgs Freude schienen nun auch ihre Ohren vor Wut zu glühen.
«Natürlich», sie blies Toni die Worte ins Gesicht, «natürlich ist das nicht gut für Sie, wenn hier Amateure Gift streuen! Schließlich wollen Sie das ja tun! Sie, die Profis! Und sich das teuer bezahlen lassen!»
Toni schaute sie ernst an. «Wir tun, was wir tun müssen. Seriös. Professionell. Verantwortungsbewusst. Steht so auch auf Homepage: www.die-anderen-haustiere.de. Bezahlen muss sowieso Hausverwaltung. Dürfen die gar nicht ablehnen. Aber wenn Sie nicht wollen Gift, wir können die Ratten auch bekämpfen biologisch, ganz natürlich, ist gut.»
«Was?» Man konnte die Verblüffung seiner Kontrahentin nicht überhören. Damit hatte Toni sie offensichtlich aus dem Tritt gebracht. «Ganz natürlich? Ich meine, biologisch? Das können Sie wirklich? Ohne Gift?»
«Ja, ist zwar etwas teurer, aber ist möglich. Ganz biologisch, ohne Gift. Ist egal.»
«Ach so», die Stimme von Lucys Mutter beruhigte sich, die Gesichtsmuskeln steuerten fast schon auf ein Lächeln zu, «entschuldigen Sie, das wusste ich nicht. Und das funktioniert bestimmt? Also, die Ratten werden sicher verschwinden?»
«Garantiert. Ist gut, bisschen teurer, aber gut.»
«Ach, ich denke, das wird die Verwaltung schon zahlen, bei den ganzen Kindern hier. Das müssen die doch auch einsehen. Wie genau funktioniert diese biologische Bekämpfung denn?»
Tonis Miene wurde noch ernster. «Mit Schlangen.»
«Was?»
«Schlangen. Wir setzen hier fünfzehn bis zwanzig Schlangen aus, die fressen Ratten. Dann ist gut.»
«Ach. Und was wird dann mit den Schlangen?»
«Krokodile. Beste biologische Bekämpfung von Schlangen sind Krokodile, aber dafür müssten wir dann hier in den Hinterhöfen anlegen Sumpf. Würde vermutlich teuer. Muss man sehen, was sagt Hausverwaltung. Ist egal.»
Mit Freude registrierte Georg, wie die Zornesröte ins Gesicht von Lucys Mutter zurückkehrte. Eigentlich hatte er diese Aushilfsstelle als Kammerjäger ja angenommen, weil ihm vor Jahren mal irgendjemand erzählt hatte, was für gute Karten Kammerjäger bei Frauen hätten. Die Frauen seien aufgewühlt wegen der Gefahr durch Ratten, Insekten oder sonstiges Ungeziefer, und der Kammerjäger erschiene ihnen wie eine Art Held oder Retter. Die Mischung aus emotionaler Ausnahmesituation, Dankbarkeit und Bewunderung gäbe den Frauen nicht selten etwas Flatterhaftes, sodass für einen erfahrenen Kammerjäger, Interesse vorausgesetzt, alles Weitere also mehr oder weniger Routine sei … Lauter so Zeug war in seinem Kopf gewesen, aber die bisherigen sechs Monate in diesem Beruf hatten Georg dann doch gelehrt, dass die erotische Anziehungskraft von...
Erscheint lt. Verlag | 21.9.2012 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Berlin • Berlin Krimi • Cloppenburg • Cozy Crime • Hauptstadt • Humor • humorvoller Krimi • Kabarett • Kommissar • Kriminalromane • lustiger Krimi • Männerfeindschaft • Vetternwirtschaft • Witz • Witziger Krimi |
ISBN-10 | 3-644-11211-8 / 3644112118 |
ISBN-13 | 978-3-644-11211-7 / 9783644112117 |
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