Obiad - Mehr als nur Mittagessen. Mein Jahr in Polen mit Überlebenden des Holocaust
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André Biakowski wurde am 20. Juni 1980 in Halberstadt geboren und wuchs in Wernigerode auf. Nach seiner anfänglich sozialistisch geprägten Schulzeit, studierte A. Biakowski ab 1999 an der Freien Kunstakademie Nürtingen acht Semester Malerei. Weiterführend folgten nach dem Studienabschluss 2003 eine dreijährige Ausbildung zum Werbekaufmann und der Einstieg ins Berufsleben als Abteilungsleiter für Marketing. Parallel engagierte sich A. Biakowski immer wieder in verschiedenen Institutionen im In- und Ausland und leitete ehrenamtlich umfangreiche Kommunikationsprojekte. 2009 erfolgte eine einjährige berufliche Auszeit in Lodz/Polen. In diesem Jahr betreute A. Biakowski Überlebende unterschiedlicher Ghettos sowie Konzentrationslager und schaute hinter die Kulisse deutsch-polnischer Geschichte. In seinem Erstlingswerk 'Obiad - Mehr als nur Mittagessen' zeichnet A. Biakowski in zehn Briefen nicht nur ein subjektives Portrait des Landes Polen, sondern stellt die Menschen in den Vordergrund seiner eindrücklichen Beschreibungen, die ihm ohne Vorbehalte in unterschiedlichen Lebenslagen begegneten. Heute lebt A. Biakowski in Reutlingen.
Einleitung:"Obiad!" - "Tak!" Ein Summen. Die Wohnungstür springt auf. Der Geruch von feuchtem Putz und Reinigungsmittel liegt in der Luft. Im ersten Stock schreit ein Kind. Ein Mann in fleckiger Jacke kommt mir entgegen. Sagt etwas. Ich versteh' nichts. "Obiad, Obiad, Obiad", brabble ich mich synchron zu meinen Schritten Stufe für Stufe die Treppe hinauf. Zweiter Stock, schaue auf das Klingelschild an der Tür. Kann den Namen vor lauter SZ- und CZ-Kombinationen nicht aussprechen. Zungenbrecher. Weiter - dritter Stock. In der Ecke eine leere Bierflasche. Etikett abgepult. Staub auf den ausgetretenen Holzstufen. Ihr Knarren suggeriert Nostalgie. Geschichte. Ein Damals."Obiad, Obiad", geht es mir über die Lippen. Das "I" vorm "A" wird rund und mit jeder Wiederholung mehr und mehr ein "J". Keine Ahnung, was das Wort bedeutet. Kriminologisch, ohne dafür wirkliches Talent zu besitzen, versuche ich mir "Obiad" zu erschließen. Klingeln ... "Obiad!", das "Tak!" aus der Sprechanlage, ein kurzes Summen, die Tür geht auf - logisch, es muss "öffnen" heißen. "Open ... Opien ... Obian ... Obiad", moduliere ich das Wort aus dem Englischen so lange, bis ich im Polnischen bei "Obiad" angekommen bin. Ganz klar "öffnen". Imperativ. Ich bin mir sicher!Mit einer impulsartigen Bewegung dreht die kleine faltige Hand einer Frau den Deckel des weißen Thermobehälters gegen den Uhrzeigersinn. Ihr Ehering verschiebt sich dabei und drückt sich an den benachbarten Mittelfinger. Die aufgebrachte Kraft zwingt sie, den rotgeschminkten Mund zu verziehen. Mit einem stöhnenden "Ah" betrachtet sie ihr dampfendes Essen. Heute: Kartoffeln, Rote Beete und ein Stück Fleisch. Danach schraubt sie den Thermobehälter wieder zu, stellt ihn in der Ecke ihrer Küche ab und gibt mir fürs Vorbeibringen eine Tafel Schokolade. Lächelt mich an und winkt mir beim Verlassen der Wohnung nach. Obiad muss irgendetwas mit Öffnen heißen!, geht es mir durch den Kopf.Wenn man eine Sprache so wie ich nicht versteht, so reduziert sich die gesamte Umgebung auf Zeichen. Oft kleine. Solche, die schnell übersehen werden. Ich habe oft versucht, alltägliche Kleinigkeiten zu hinterfragen, und stellte fest, welche Komplexität hinter vielem Kleinen steckte. Die Menschen, die ich in Lódz in meinem Jahr als Freiwilliger betreute und denen ich dieses Buch aus tiefer Dankbarkeit widme, sind Überlebende aus unterschiedlichen Ghettos sowie Konzentrationslagern. Viele von ihnen sind heute wacklig auf den Beinen. Gehstock und Brille die Insignien ihres Alters. Die Wohnungen, in denen sie jeden herzlich willkommen heißen, sind kleine Museen ihrer Geschichte. Eine alte Tasse im Schrank, innen vom Tee schwärzlich verfärbt, beginnt etwas von einem Damals zu erzählen. Von einer Zeit, die ich nur als eine Auflistung auswendig zu lernender Fakten aus meinem Geschichtsbuch kenne. Steht man aber in ihren 'Museen', so beginnen die Überlebenden zu erzählen. Ich verstehe nur Zischlaute und etwas mit ego. Doch ab und an fliegen einzelne Worte an mir vorbei, die mich auf den Inhalt schließen lassen: Höss ... Auschwitz ... Matka ... Dachau. Tränen füllen ihre Augen. Sie schlucken trocken, sind stark und sprechen weiter. "Obiad" heißt nicht "öffnen". Nein, Mittagessen! Jeden Tag. Zwischen 10 und 14 Uhr ein Klingeln, eine Männerstimme an der Sprechanlage, "Obiad!", ein junger deutscher Mann, der zehn Minuten Zeit hat, lächelt, das Essen im Thermobehälter abstellt und sich etwas Zeit nimmt. Einer, der die Sprache nicht versteht und doch versucht, sie im Kleinen zu sprechen. Für viele der Überlebenden liegt in diesem Moment eine Verbindlichkeit. Der junge Mann kommt jeden Tag zu mir. Zehn Minuten nicht alleine. Abwechslung für einen Moment. Ich bin alt. Er ist jung. Ich habe Geschichte, er Zukunft.Wenn ich heute, fast eineinhalb Jahre später, an meine Zeit in Lódz zurückdenke, so war ich von Anfang an mit der polnischen Sprache überfordert. Um mich herum verstanden sich alle, lachten, wurden traurig, ernst und ich wusst
Erscheint lt. Verlag | 21.11.2012 |
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Sprache | deutsch |
Maße | 135 x 195 mm |
Gewicht | 175 g |
Einbandart | Paperback |
Themenwelt | Literatur ► Briefe / Tagebücher |
Schlagworte | Auschwitz • Biografisch • Deportation • Deutsch-polnische Beziehungen • Drittes Reich • Erfahrungsbericht • Freiwilligendienst • Freiwilligeneinsatz • Ghetto • Holocaust • Holocaust; Berichte/Erinnerungen • Holocaust / Shoah; Berichte/Erinnerungen • Kommunismus • Konzentrationslager • Litzmannstadt • Lodz • Majdanek • Pogrom • Polen • Polen; Berichte/Erinnerungen • Völkerverständigung • Zeitzeuge |
ISBN-10 | 3-86282-198-6 / 3862821986 |
ISBN-13 | 978-3-86282-198-3 / 9783862821983 |
Zustand | Neuware |
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