Der Trafikant (eBook)

Spiegel-Bestseller
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2012 | 1. Auflage
256 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9201-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Trafikant -  Robert Seethaler
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Österreich 1937: Der 17-jährige Franz Huchel verlässt sein Heimatdorf, um in Wien als Lehrling in einer Trafik - einem kleinen Tabak- und Zeitungsgeschäft - sein Glück zu suchen. Dort begegnet er eines Tages dem Stammkunden Sigmund Freud und ist sofort fasziniert von ihm. Im Laufe der Zeit entwickelt sich eine ungewöhnliche Freundschaft zwischen den beiden unterschiedlichen Männern. Als sich Franz kurz darauf Hals über Kopf in die Varietétänzerin Anezka verliebt, sucht er bei dem alten Professor Rat. Dabei stellt sich jedoch schnell heraus, dass dem weltbekannten Psychoanalytiker das weibliche Geschlecht ein mindestens ebenso großes Rätsel ist wie Franz. Ohnmächtig fühlen sich beide auch angesichts der sich dramatisch zuspitzenden politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse. Und schon bald werden Franz, Freud und Anezka jäh vom Strudel der Ereignisse mitgerissen.

Robert Seethaler, 1966 in Wien geboren, wurde 2007 für seinen Roman »Die Biene und der Kurt« mit dem Debütpreis des Buddenbrookhauses ausgezeichnet. Er erhielt zahlreiche Stipendien, darunter das Alfred-Döblin Stipendium der Akademie der Künste. Der Film nach seinem Drehbuch »Die zweite Frau« wurde mehrfach ausgezeichnet und lief auf verschiedenen internationalen Filmfestivals. 2008 erschien sein zweiter Roman »Die weiteren Aussichten«. »Jetzt wirds ernst« wurde 2010 veröffentlicht, darauf folgte 2012 der Bestseller »Der Trafikant«. Robert Seethaler lebt und schreibt in Wien und Berlin.

Gerade als Franz im Begriff war, sich auf eine längere Wartezeit einzurichten und gegen alle Regeln der althergebrachten Wiener Anständigkeit die Beine hochzulegen, um sich der Länge nach auf der Bank auszustrecken, ging drüben das Tor auf, und der Professor trat ins Freie. Wie schon beim ersten Mal überquerte er mit etwas wackeligem, aber dennoch einigermaßen forschem Schritt die Straße und hielt direkt auf die Bank zu.

»Bist du eigentlich schon einmal auf die Idee gekommen, zu läuten?«, fragte er. »Das würde einiges erleichtern.«

»Auf die Idee bin ich schon gekommen«, antwortete Franz, der längst aufgesprungen und Freud entgegengeeilt war, »nur hab ich mich nicht getraut, Sie zu stören!«

»Manchmal muss man Menschen eben stören, wenn man sie erreichen will!«, sagte Freud und überreichte Franz ein sorgfältig in Seidenpapier eingewickeltes Päckchen. »Hier hast du deinen Schal zurück: Er ist gewaschen und gebügelt und duftet wie eine Rosenhecke. Die Damen haben ihr Bestes gegeben!«

»Meinen herzlichen Dank und ganz hochachtungsvolle Grüße in den ersten Stock hinauf, Herr Professor! Aber wollen Sie sich nicht setzen?«, sagte Franz mit einer einladenden Handbewegung. »Nein danke«, sagte Freud und warf einen verstohlenen Blick zum Wohnzimmerfenster im ersten Stock, in dem sich der klare Frühlingshimmel spiegelte, »wir machen heute einen Spaziergang!«

Sie stiegen die Berggasse hinauf, hielten sich an der Währingerstraße links, gingen im Bogen um die Votivkirche herum und weiter in Richtung Rathaus. Die Luft war mild, seit Wochen hatte es nicht mehr geschneit, und im Votivpark blühte viel zu früh der Flieder. Ein leichter Föhnwind war aufgekommen und trieb Unmengen von Flugzetteln, die zur sonntäglichen Wahl aufriefen, durch die Straßen. Ja zu Österreich stand darauf und Rot-Weiß-Rot – bis in den Tod! Franz hatte sich das Päckchen mit dem Schal unters Hemd gesteckt, wo es ihm leise knisternd den Bauch wärmte. Da hatten also die Damen ihr Bestes gegeben, dachte er und versuchte, seinen Stolz nicht wie eine Laterne vor sich her zu tragen. Immer wieder blickte er aus den Augenwinkeln zum Professor, der mit kleinen Schritten neben ihm ging. Sein Stock klackerte in gleichmäßigem Rhythmus aufs Pflaster, als müsste er sich den Weg erst ertasten. Dabei atmete er flach und unregelmäßig und entließ jedes Mal beim Ausatmen ein leise zischendes Geräusch. Am liebsten hätte Franz ein bisschen gekichert. Oder gleich laut aufgelacht. Eigentlich war er sich in der Nähe sogenannter »gescheiter Leute« immer ein bisschen linkisch und fehl am Platz vorgekommen. Mit dem Professor aber war das anders. Dieser alte Herr war nicht einfach nur gescheit. Am See galt man ja schon als belesen, wenn man die Überschriften des Gemeindeblättchens oder den Fahrplan im Timelkamer Bahnhof einigermaßen entziffern konnte. Und auch die vielen Doktoren und Studienräte aus Wien, München oder Salzburg, die sich im Sommer scharenweise ans Ufer legten, um sich ihre weißen Fischbäuche rosig aufbrennen zu lassen, erwiesen sich spätestens nach ein paar Litern Bier beim Goldenen Leopold als im Grunde genommen doch recht einfache, um nicht zu sagen geradezu geistlos vor sich hin fabulierende Gemüter. Der Professor hingegen war dermaßen klug, dass er sich die Bücher, die er lesen wollte, gleich auch selber schreiben konnte. Genau so ist das, dachte Franz und lächelte in sich hinein, während sie im Schatten des langgestreckten Universitätsgebäudes dahingingen. Aber da war noch etwas anderes. Ein einzelner Gedanke, der jäh auftauchte wie ein kleines Erschrecken und sich tief in seinem Inneren schnell zu einem anhaltenden Gefühl ausbreitete. Einem Gefühl, das da drinnen jetzt seinen Platz beanspruchte und sich – so viel war klar – nicht mehr so leicht verscheuchen lassen würde: Er hatte Mitleid mit dem Professor. Vieles an ihm rührte ihn irgendwie. Der schiefe Kiefer zum Beispiel. Oder der immerzu leicht gebeugte Rücken. Die schmalen, eckigen Schultern. Die alten Finger, die sich fleckig und dürr am Knauf seines Gehstocks festhielten. Dieses Altwerden ist doch eigentlich ein einziges Elend, dachte Franz wehmütig und gleichzeitig ein bisschen wütend. Was nützte die ganze Gescheitheit, wenn einen die Zeit ja doch irgendwann erwischte?

Vor dem Rathaus hatten sich Kinder und Jugendliche zu kleinen Grüppchen versammelt. Sie lungerten an den Ecken, blockierten Arm in Arm die Gehsteige oder liefen lachend und schreiend über den Platz und schwenkten ihre Mützen und Hakenkreuzfähnchen. Vereinzelt standen Polizisten herum und schauten dem Treiben mit auf dem Rücken verschränkten Armen zu. Ein Volksschulbub in kurzen Hosen krähte »Sieg Heil!« und ließ sich mit ausgestreckten Armen und Beinen rücklings ins Gras fallen. Über die Ringstraße brauste der Freitagnachmittagsverkehr. Motoren knatterten, Pferdehufe rappelten übers Pflaster, Fiakerkutscher schnalzten mit den Zungen und ließen ihre dünnen Peitschen durch die Luft zischen. Die Gehsteige waren bevölkert mit durcheinanderplappernden Menschen. Es war warm, die Sonne schien, ein angenehmes Lüftchen wehte. Es ging ins Wochenende, es ging voran, es ging um die Zukunft, es tat sich was in der Stadt, im Land, draußen in der Welt. Ein Diesellastwagen mit einer Gruppe von Arbeitern auf der Ladefläche rumpelte langsam vorüber. Die Männer schwenkten ihre Hüte und schrien im Chor Parolen gegen Hitler und für die österreichische Arbeiterschaft. Einer der Männer sprang vom fahrenden Wagen seiner Schiebermütze hinterher, die er hoch in die Luft geworfen hatte und die vom Wind davongetragen worden war. Er kam ungeschickt auf, stürzte und blieb regungslos auf der Seite liegen. Sofort bildete sich eine kleine Menschenmenge um ihn. Der Wagen fuhr weiter.

Franz und der Professor ließen das Burgtheater links liegen und gingen in den Volksgarten. Auch hier blühte überall der Flieder. Die hohen Hecken und die Bäume dämpften den Straßenlärm, und von der dicht mit Gras überwucherten Erde stieg eine kühle Feuchtigkeit auf. Franz war noch nie hier gewesen. Gerne wäre er ein bisschen herumgegangen und hätte sich umgesehen, und noch viel lieber wäre er insgeheim mit dem Professor unter einen der Büsche gekrochen, um in der grünen Blätterdämmerung ungestört alles Mögliche zu besprechen. Doch Freud steuerte zielsicher auf das gegenüberliegende Ende des Parks zu, wo sie in einer Heckennische unter einer alten Kastanie eine leere Bank fanden und sich setzten. Vorsichtig griff Franz in seine Brusttasche und zog eine wunderschöne Hoyo de Monterrey heraus. Freud nahm die Zigarre entgegen, hielt sie sich vors Gesicht und betrachtete eine Weile ihre Silhouette, ehe er sie in den Mund steckte und anzündete. Während des Spaziergangs hatten sie kein Wort gesprochen, und auch jetzt saßen sie schweigend nebeneinander. Der Professor paffte kleine Rauchwolken in die Luft und knarrte mit dem Kiefer. Irgendwo weit weg brüllte jemand »Heil Hitler!«. Ein Juchzer war zu hören. Ein helles Gelächter. Dann wieder die gedämpften Geräusche des Straßenverkehrs.

Mit einem unterdrückten Ächzen lehnte sich der Professor zurück, blinzelte eine Weile in das vom Sonnenlicht durchblitzte Blättergewirr hinauf und sagte schließlich: »Du lässt dich unsere Zusammenkünfte ja einiges kosten!«

»Wie bitte, Herr Professor?«

»Eine Zigarre dieser Qualität ist nicht gerade preiswert.«

»Dafür ist sie an den fruchtbaren Ufern des Flusses San Juan y Martínez von tapferen Männern geerntet und von schönen Frauen in zarter Handarbeit gerollt worden«, sagte Franz und nickte ernst.

»Wobei sich mir in diesem Zusammenhang nicht ganz erschließen will, warum ausgerechnet die Tapferkeit so eine herausragende Eigenschaft kubanischer Tabakbauern sein soll«, widersetzte Freud. »Doch das nur nebenbei. Wenn wir aber andererseits schon von schönen Frauen sprechen: Ich hoffe, dass deine Bemühungen, das weibliche Geschlecht betreffend, zum Erfolg geführt haben. Wie auch immer dieser Erfolg ausgefallen sein mag.«

»Genau deswegen wollte ich mit Ihnen sprechen«, sagte Franz bitter. »Meine Bemühungen haben nämlich zu überhaupt nichts geführt. Obwohl ich mir da wiederum gar nicht so sicher bin. Ich weiß es einfach nicht. Im Grunde genommen weiß ich überhaupt nichts!«

»Immerhin ist diese Erkenntnis der erste Schritt im steilen Stiegenhaus zur Weisheit«, erwiderte Freud. »Aber lass uns erst einmal versuchen, ein bisschen Licht in die Verdunkelungen zu bringen: Hast du sie gesucht?«

»Ja, Herr Professor.«

»Hast du sie gefunden?«

»Ja, Herr Professor!«

»Hast du sie gefragt, wie sie heißt?«

»Ja, Herr Professor!«

»Soll ich dir vielleicht jedes Wort einzeln aus der Großhirnrinde pressen?«

»Nein, Herr Professor. Sie heißt Anezka!«

»Böhmin?«

»Ja. Aus einem an den Hügel Viničný wie an einen dunklen Liebhaber geschmiegten, wunderschönen Dorf namens Dobrovice im Landkreis Mladá Boleslav.«

»Ein Hügel wie ein dunkler Liebhaber?«

Franz nickte traurig. Freud kramte ein Streichholz aus seiner Schachtel, entzündete es und hielt es behutsam an die Glutfläche, die etwas unregelmäßig zu geraten drohte.

»Die böhmische Küche ist ja wirklich ganz wunderbar«, sagte er und betrachtete versonnen seine nun wieder gleichmäßig glühende Hoyo.

»Ja, wunderbar …«, murmelte Franz. Gegenüber, auf der anderen Seite des immer noch winterkahlen Rosenbeetes, gingen zwei verwitterte Damen vorüber und warfen spitze Blicke auf die Männer,...

Erscheint lt. Verlag 29.8.2012
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1937 • 20. Jahrhundert • 2. Weltkrieg • Drittes Reich • Faschismus • Freundschaft • Geschichte • Gesellschaft • Liebe • lit-ebook • Literatur • Nationalsozialismus • Österreich • Politik • Robert Seethaler • Roman • Sigmund Freud • Taschenbuch • Wien • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-0369-9201-4 / 3036992014
ISBN-13 978-3-0369-9201-3 / 9783036992013
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