Vages Erinnern - Präzises Vergessen (eBook)

Reden
eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
320 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-402552-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vages Erinnern - Präzises Vergessen -  Roger Willemsen
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Roger Willemsens Reden sind eindeutig und drastisch, wo er über Folter, Kindersoldaten oder Armut spricht, sie sind ironisch-selbstkritisch, wo er sich mit dem Kulturbetrieb oder dem Reisen in reiferen Jahren befasst, sie sind voller Hintergrund-Informationen, wo er seine Kritik an den Medien auf den Begriff bringt. Ernsthafte und grundsätzliche Untersuchungen wie die Weimarer Rede über unseren Gebrauch der Freiheit oder die Darmstädter Rede zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus stehen neben subtilen Erkundungen zum Thema Geschwindigkeit, zur Schönheit der Irrtümer oder zum literarischen Verstehen.

Roger Willemsen, geboren 1955 in Bonn, gestorben 2016 in Wentorf bei Hamburg, arbeitete zunächst als Dozent, Übersetzer und Korrespondent aus London, ab 1991 auch als Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Bayerischen Fernsehpreis und den Adolf-Grimme-Preis in Gold, den Rinke- und den Julius-Campe-Preis, den Prix Pantheon-Sonderpreis, den Deutschen Hörbuchpreis und die Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft. Willemsen war Honorarprofessor für Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin, Schirmherr des Afghanischen Frauenvereins und stand mit zahlreichen Soloprogrammen auf der Bühne. Zuletzt erschienen im S. Fischer Verlag seine Bestseller »Der Knacks«, »Die Enden der Welt«, »Momentum«, »Das Hohe Haus« und »Wer wir waren«. Über Roger Willemsens umfangreiches Werk informiert der Band »Der leidenschaftliche Zeitgenosse«, herausgegeben von Insa Wilke. Willemsens künstlerischer Nachlass befindet sich im Archiv der Akademie der Künste, Berlin.  Literaturpreise: Rinke-Preis 2009 Julius-Campe-Preis 2011 Prix Pantheon-Sonderpreis 2012

Roger Willemsen, geboren 1955 in Bonn, gestorben 2016 in Wentorf bei Hamburg, arbeitete zunächst als Dozent, Übersetzer und Korrespondent aus London, ab 1991 auch als Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Bayerischen Fernsehpreis und den Adolf-Grimme-Preis in Gold, den Rinke- und den Julius-Campe-Preis, den Prix Pantheon-Sonderpreis, den Deutschen Hörbuchpreis und die Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft. Willemsen war Honorarprofessor für Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin, Schirmherr des Afghanischen Frauenvereins und stand mit zahlreichen Soloprogrammen auf der Bühne. Zuletzt erschienen im S. Fischer Verlag seine Bestseller »Der Knacks«, »Die Enden der Welt«, »Momentum«, »Das Hohe Haus« und »Wer wir waren«. Über Roger Willemsens umfangreiches Werk informiert der Band »Der leidenschaftliche Zeitgenosse«, herausgegeben von Insa Wilke. Willemsens künstlerischer Nachlass befindet sich im Archiv der Akademie der Künste, Berlin.  Literaturpreise: Rinke-Preis 2009 Julius-Campe-Preis 2011 Prix Pantheon-Sonderpreis 2012

Die deutsche Frage


Da sind wir wieder. Wir wieder, wie immer schon: treten vor uns selbst, betrachten uns wie vor dem morgendlichen Spiegel und die Zeit steht still. Seit Jahrhunderten von Jahren machen wir das so und werden nicht müde. Es ist unser Mythos, etwas, wie das antike Rutenschneiden auf dem Felde, unsere Form, die Zeit anzuhalten und uns gleich zu bleiben, indem wir fragen: Was ist deutsch?

Es gibt nicht leicht eine Antwort auf diese Frage, so fassbar und belastbar wie diese: Die Frage selbst, diese Frage, sie ist wohl sehr deutsch. Denn was charakterisierte uns schärfer als unsere Neigung, dauernd nach uns, unserer Befindlichkeit, unserer Mentalität, unserem Recht auf Stolz und Vergessen, auf Identität vor allem, zu fragen und anschließend fast jede Antwort für bare Münze zu nehmen und wie Gewissheit zu behandeln, was nicht gewusst werden kann, anders gesagt: zu glauben.

Zwar fühlen wir ja nicht täglich und stündlich deutsch, und wissen, wenn uns das Vaterland mal warm, freundlich und liebenswert erscheint, kaum, was dabei eine Folge vasomotorischer Störungen, was eine Folge patriotischer Erhebung ist. Ja, wir haben es vielleicht ja nicht einmal mit etwas empirisch Erfahrbarem zu tun, sondern mit einem Abstraktum, einem Begriff, einem Motiv aus dem Reich der Vorstellungen, zu dem wir uns im Laufe der Jahre immer anders stellen. Aber das tun wir auch mit dem Mittelscheitel und dem Fransenlook nicht anders.

Die Diskussionen um das Deutsche schlottern also um den Körper der Nation wie Mode. Sie sind von saisonaler Bedeutung, doch beweisen wir Stilwillen und tragen unsere Begriffe mal nach Art von Vintage in Rembrandtdeutsch, mal als Military-Look in Landser-Sprache, mal als Street Wear und geradezu proletarisch. Im Augenblick tragen wir gerade Retro-Look und denken second hand, auf den Grundlinien alter Gedanken. Wirtschaftswunder, Wiederaufbau, Trümmerfrau und Mutterkreuz, Heimweh und Schadenfreude, Sehnsucht und Gemütlichkeit – all das hat einen vertrauten Klang, all das erschien uns mal deutsch. Doch ist es das geblieben?

Als Theodor W. Adorno sich der Frage stellen sollte »Was ist deutsch«, setzte er sich polemisch mit einem nationalen Stereotyp auseinander, das da lautete: »Deutsch sein, heißt, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun.« Ich glaube, dieses Stereotyp zum Beispiel ist gar nicht mehr im Umlauf, die neuesten Moden der nationalen Selbstbeschreibung haben es weggerafft, und die Gegenwart wirkt nicht, als wollte sie diesem Ausdruck zu einer Renaissance verhelfen.

Unser Patriotismus entsteht aus dem Skrupel, das macht ihn nicht kleiner. Etwas Kompensatorisches steckt darin, das erlaubt, Gemeinplätze wie kostbare Funde zu behandeln. Dabei lohnt es sich wohl weniger zu fragen, was ist deutsch, als vielmehr, wann will der Deutsche dies wissen und warum? Es bringt uns also nicht weit, die Frage ahistorisch anzugehen. Was ist deutsch jetzt?, lautet ihr Subtext. Wohin bewegt sich die nationale Gesinnung heute?

Statt für die Ewigkeit zu fragen »Was ist deutsch?«, sollte man präziser fragen: Wann ist der Deutsche auf welche Weise in seiner Selbstbeschreibung deutsch gewesen? Wann brauchte er diese Debatte und wozu? Man wird nämlich, indem man so über sich nachdenkt, weder deutscher noch undeutscher. Eher redet man folgenlos und sagt, was einem scheint. Im Augenblick.

Ist es also vielleicht auch deutsch, dass man hierzulande keine Fußball-WM ausrichten kann, ohne gleich noch eine Patriotismus-Debatte anzuhängen? Ist es vielleicht deutsch, die Vermehrung der deutschen Fahnen auf deutschen Straßen als nationale Wallung zu begreifen, statt zu sehen, wie wohltuend sich die Fahne zum Wimpel verkleinert und sich eher bagatellisiert, wo sie Winkelement wird? Die sagenhafte deutsche Fahnen-Vermehrung, so loben die beflaggten Leitartikler, geschehe so wunderbar »locker und unverkrampft«.

Da habe ich es beim Patriotismus doch lieber unlocker und verkrampft und halte es mit Goethe, der gegen den Leitwert der Lockerheit verstieß, als er sagte: »Der Deutsche wird schwer über allem und alles wird schwer über ihm.« Dieser Satz nämlich gehört zu den wenigen zum Thema, die zeitlose Richtigkeit bewahren. Auch in Anbetracht des Ernstes, den die Frage fordert, will man sie denn ernst nehmen, sei ergänzt: Es entspricht dem jüdischen Verständnis des Humanen, zu denken: Alle dürfen sich Mensch nennen, doch alle müssen es zugleich erst werden. Ebenso konnten sich vielleicht andere Nationen ein Land nennen, wir aber mussten es erst werden.

Sind wir die Richtigen, zu bezeugen, dass wir es sind? Und was macht uns so sicher, dass wir selbst es sind, die am meisten von uns verstehen? Bei Menschen gehen wir doch oft davon aus, sie verstünden sich selbst nicht am besten. Warum sollte nicht wahr sein, was Engländer, Holländer, Japaner über uns denken?

Die Deutschen haben die Leitwerte der Französischen Revolution »Liberté, Egalité, Fraternité« übersetzt mit »Einigkeit und Recht und Freiheit«. Das ist nicht nur eine andere Hierarchie, die außerdem die »Gleichheit« durch »das Recht« ersetzt, es wird hier auch die Freiheit hintangestellt, ganz wie Madame de Staël befand, als sie schrieb: »Die Liebe zur Freiheit ist bei den Deutschen nicht entwickelt.«

Doch charakterisiert uns dies heute, oder verraten wir uns mehr dadurch, dass wir nach einer neueren soziologischen Untersuchung täglich eine durchschnittliche Bewegungsgeschwindigkeit von 8 Kilometern an den Tag legen, während sich der Franzose nur mit 6 km/h bewegt?

Oder bezeichnet es uns, wie Alexander Kluge anmerkte, dass wir zwar in der Spannungsbildung weit hinter den Amerikanern zurückbleiben, doch ein Feld haben, auf dem wir vor allen anderen exzellieren: den Jahresrückblick. Vielleicht handelt es sich um eine Folge unserer dauernden Aufforderung zum Gedenken, dass kein anderes Land sich so dauernd und schwelgerisch erinnert.

Doch hat nicht auch jene alte Äthiopierin etwas Charakteristisches an Deutschland erkannt, die zum ersten Mal Addis Abeba verließ, um Teile ihrer Familie in Berlin zu besuchen. Als am ersten Morgen alle Familienmitglieder zur Arbeit ausschwärmten, ging die Frau im Wohnblock von Tür zu Tür, klingelte und rief: »Macht die Türen auf! Ihr könnt doch nicht alle bei geschlossenen Türen leben!« In den fassungslosen Augen der Nachbarn konnte auch sie etwas erkennen, das Deutschland war.

Vielleicht ist also die Frage »Was ist deutsch?« selbst deutscher als Fleiß, Ordnung, Disziplin und die Tatsache, dass wir eine Turniermannschaft sind, und ihre Antworten kollidieren auch schon gerne mal mit den Antworten auf die Fragen: was ist preußisch, bayerisch, sächsisch, kölsch? Und sind die Polen, was Fleiß und Disziplin angeht, nicht längst die besseren Deutschen? Mit den Antworten auf die Frage »Was ist deutsch?« verhält es sich also vielleicht ein bisschen wie mit den Horoskopen. Man macht die Definition eines Wassermanns und hinterher hat man alle seine Eigenschaften.

Vielleicht aber ist die endlose Repetition der Frage »Was ist deutsch?« auch Ausdruck eines Heimwehs. Denn ob ich in einem Land lebe oder in einem Wort, immer ist es ein Gespinst, ein Gefühl, eine Stimmung, die mich beheimatet, und so suche ich mir mit diesem Wort das Gefühl heimisch und das Land auf andere Weise gemütlich zu machen. Es liegt also in der immer neuen rhetorischen Anstrengung auch der Versuch, sich immer neu einen unwirtlichen Platz behaust zu machen, und ich fürchte, in der Natur würden Tiere, die in Stein und Eis leben, am ehesten fragen, ob sie ihren Lebensraum lieben und lieben dürfen.

Jedenfalls hat, wer heute fünfzig Jahre alt ist, dem öffentlichen Auf- und Abtauchen dieser Frage öfter zugesehen als dem des sommerlichen Ungeheuers von Loch Ness. Der Senegalese fragt sich nicht, was senegalesisch an ihm ist, der Einwohner von Burkina Faso fragt nicht, wie obervoltisch seine Befindlichkeit sei, und erklären Sie mal einem Malinesen, er sei nicht identisch mit sich!

Entweder steht die Formulierung dieser Frage also nur erklärten »Kulturnationen« zu oder sie ist ein Zeichen von Dekadenz oder sie hat instrumentelle Bedeutung. Die größte Ehrfurcht vor der Fahne habe ich jedenfalls in Singapur erlebt, wo sie so heilig gefunden wird, dass sie durch massenhaften Gebrauch nicht entweiht, sondern nur einmal im Jahr, am Nationalfeiertag, gehisst werden darf.

In Asien und selbst in den USA hat die Frage nach der nationalen Identität jedenfalls eine weitgehend andere Bedeutung als in unserem Land, und »antideutsch« klingt ja auch immer noch eher nach einem Freigeist, »antiamerikanisch« aber eher nach einem Verfassungsfeind. In den USA legt der Patriotismus einen Verhaltenskodex fest. Der Amerikaner muss wissen, was amerikanisch ist, damit er sich vor unamerikanischen Aktivitäten schützen kann, und weiß, was nicht patriotisch und damit böse ist.

Im Krieg entpuppt sich die militante Seite dieser Gesinnung. Sie wartet in Friedenszeiten gewissermaßen auf ihren Einberufungsbefehl und stellt die Gefühle bereit: Unpatriotisch wird es sein, Menschen- und Völkerrecht höherrangig zu betrachten als strategische Ziele, nach Opfern zu fragen oder selbst Mitleid mit ihnen zu haben. So haben hohe Vertreter der amerikanischen Administration nach der Bombardierung Afghanistans betont, es sei unpatriotisch, das Leiden der Zivilbevölkerung überhaupt zum Thema zu machen.

Patriotismus, so verstanden, wird zum Leitwert, dem sich alle anderen unterzuordnen haben. Kriege sind die Stunde der Opportunisten, und die werden mit stereotypem Bedauern versichern, dass, was immer verbrochen wurde, im Namen des Vaterlandes leiderleider sein...

Erscheint lt. Verlag 12.9.2012
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Afrika • Amerika • Antoine Rivarol • Beglotzte • Belletristik • Berlin • Borneo • China Keitetsi • Deutschland • Europatriotismus • Friedrich Schiller • Innenseiter • Katastrophe • Krise • Literaturwissenschaft • Lynchjustiz • Nationalsozialismus • Nichtverstehen • Obdach • Rechtsextremismus • Rede • Reise • Robert Gernhardt • Roman • Schaulust • Sharon Stone • Thomas Mann • Todesstrafe • Todsünde • USA • Verbrechen
ISBN-10 3-10-402552-5 / 3104025525
ISBN-13 978-3-10-402552-0 / 9783104025520
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