Vom Schlafen und Verschwinden (eBook)

Roman
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2012 | 1. Auflage
288 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30613-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vom Schlafen und Verschwinden -  Katharina Hagena
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Die Poesie der Schlaflosigkeit - Katharina Hagenas neuer Roman In einer einzigen schlaflosen Nacht erzählt die Schlafforscherin Ellen Feld die Geschichte von dem, was sie verlor, und denen, die sie liebt. Und über das, was nicht geweckt werden darf. Während unter ihr die Hamburger U-Bahnen vibrieren, denkt sie an ihr Heimatdorf Grund zwischen Kieswerk und Spargelfeldern, an Andreas, den sie nur ein Mal geküsst hat, an ihre große Tochter Orla, die Gedichte raucht und Windharfen baut, an ihren Liebhaber Benno, der einem Deserteur auf der Spur ist und selbst abtrünnig wird. Und sie denkt an den kleinen Renaissance-Chor, den ihr Vater ins Leben rief, um seine schlafende Frau aus der Unterwelt zu singen. Marthe Grieß singt auch in diesem Chor, der immer nur das eine Lied probt: »Komm, schwerer Schlaf«. Sie streift durch die Rheinauen, beobachtet die Graureiher und ihre Mitsänger. Keiner weiß, wer sie ist, aber es gibt ein Geheimnis, das sie alle miteinander verbindet.

Katharina Hagena, geboren in Karlsruhe, lebt als freie Schriftstellerin mit ihrer Familie in Hamburg. Sie schrieb zwei Bücher über James Joyce, bevor sie 2008 ihren ersten Roman »Der Geschmack von Apfelkernen« veröffentlichte. Das Buch wurde in 26 Sprachen übersetzt und für das Kino verfilmt.

Katharina Hagena, geboren in Karlsruhe, lebt als freie Schriftstellerin mit ihrer Familie in Hamburg. Sie schrieb zwei Bücher über James Joyce, bevor sie 2008 ihren ersten Roman »Der Geschmack von Apfelkernen« veröffentlichte. Das Buch wurde in 26 Sprachen übersetzt und für das Kino verfilmt.

2.


Gleich kommt der graue Vogel über den Wald, über den See und nimmt mich mit. Ich halte Ausschau nach dem flachen Z am Himmel. Mein Hals ist noch länger geworden und dünn. Über den Sehnen und Adern wachsen Federn. Ich fühle, wie sie aus der Haut drängen. Es juckt und prickt wie ein eingeschlafener Fuß. Während ich sitze und warte, drücken sich meine Zehen immer weiter auseinander. Das tut weh, also ziehe ich die Schuhe aus, stehe auf und gehe ein paar Schritte ins Wasser. Meine Beine, immer schon lang und knochig, sind jetzt sehr dünn. Beim Gehen knicken sie nach hinten weg. Knicks, Knacks. Meine Knie sind wie die Knoten in dünnen Gräserstängeln, zarte Sollbruchstellen. Mein Kopf lässt sich leicht zurückbiegen, der Himmel ist nicht schwarz, es stehen keine Sterne, und kein Mond scheint. Komm, grauer Vogel, ich bin des Wartens müde, und mein Herz schlägt schon mit den Flügeln, bereit zum Flug. Komm jetzt. Oder komm nie mehr.

 

Erst nachdem ich schon geraume Zeit wach gelegen habe, merke ich, dass ich nicht mehr schlafe.

Ein Vogel. Ganz in der Nähe. Eine Amsel. Und noch eine, weiter weg. Mehr nicht. Keine Autos. Also ist es noch früh. So gut wie Nacht.

Eine U-Bahn zittert tief unter mir durch die Erde, nur spürbar als dumpfe Unruhe im Bauch. Wie Steine, die sich verschieben, im Inneren eines Berges.

Singen Amseln aus Lust oder Verzweiflung?

 

Mir kam es so vor, als hätte ich heute Andreas gesehen. Er saß am Steuer eines Taxis, Taxi-Hamburg stand auf der Fahrertür. Als er an mir vorbeifuhr, hob ich die Hand und öffnete den Mund. Die Sonne spiegelte sich im Dach des Wagens, und ich schloss kurz die Augen.

Doch eigentlich glaube ich nicht, dass er es gewesen ist.

Wenn man »ich« denken kann, schläft man nicht mehr.

Ich schaue auf den Wecker, zehn vor vier. Wie üblich. Ich ziehe die Nachttisch-Schublade auf, fege den Wecker mit dem Handrücken hinein und schiebe zu. Sein Ticken ist um diese Zeit ohrenbetäubend, und seine Zeiger rasen. Ich drehe mich auf den Rücken und fühle, wie mein Gehirn dem Cortisol freie Bahn gewährt. Ich stelle mir vor, wie eine ockerfarbene Schleusenwand aus Hirnmasse hochgezogen wird und die schwarze Galle hervorschießt, um sich rasch in meinem Blutsystem zu verteilen. Gleich werde ich nicht nur hellwach, sondern auch noch schwermütig sein.

Das Licht der Laternen und Lampen drückt sich durch die Ritzen der Blechjalousien. Es fließt durch die Löcher am Rand der Lamellen, überall dringt Licht ein, bohrt sich durch meine Lider, zertrümmert den Sehpurpur, reizt die Netzhaut.

Hell ist es nachts in der Stadt, hell. Meine Lider brennen. Die Nacht in dieser Stadt ist heller als mancher trübe Nachmittag. Der Trübsinnige, behauptet Aristoteles, brauche nicht so viel Schlaf wie der fröhliche Mensch. Doch möglicherweise sind die Leute ja nur deshalb so melancholisch, weil sie nicht genug schlafen.

Das Cortisol fließt kalt durch meine Blutgefäße.

Menschen mit gut sichtbaren Adern brauchen angeblich auch nur wenig Schlaf. Die Adern in Heidruns Händen schienen oben auf den Handrücken zu liegen. Als sie mager wurde, hätte man beim Hochziehen der Haut die Adern von der Hand trennen können.

– Sie schläft, sagte Joachim zu allen, die sich nach ihr erkundigten, sie schläft immer noch.

 

Erst hatte ich vor, meine Kulturgeschichte des Schlafs, die schon so gut wie fertig ist, mit Aristoteles zu beginnen, mit seiner Frage, ob Schlafen und Wachen Eigenschaften der Seele oder des Körpers seien. Seiner Meinung nach ist Schlaf vor allem das Nichtvorhandensein von Wachsein, so etwas wie eine vorübergehende Blindheit oder Taubheit. Doch eigentlich glaube ich eher Heraklit, der sagt, dass die Schlafenden Tätige seien und am Geschehen der Welt mitwirkten. Als ich mit Joachim darüber sprach, wies er mich darauf hin, dass »schlafen« zudem ein unabhängiges und starkes Tätigkeitswort sei, »blind und taub sein« hingegen seien nur läppische Beiwörter mit etwas verbialer Verstärkung.

 

Als ich alle meine Kräfte gesammelt hatte und in der Friedhofshalle meine Hand auf die Stirn meiner kalten Mutter legte, erfasste mich ein Schwindel. Die Stirn war fest und weich, nicht trocken. Hatte man sie eingecremt? Oder war das eine Art Talg? Talg ist ein seltsames Wort. Ich kann es nicht denken, ohne sofort an das Wort Unschlitt zu denken, an schlittern und Schleim. Woher kamen die riesigen Frösche im Baggersee? Frösche atmen durch die Haut. Heidruns Haut war von dunklem Weiß. Ich konnte nicht aufhören, mit den Augen ihr Gesicht abzutasten. Jedes Mal, wenn ich die Hand auf ihre kalte Stirn legte, erfasste mich derselbe Schwindel. Von ihrer spitzen Nase verliefen tiefe Kerben bis zu den Mundwinkeln. Die Haut war in den Wochen vor ihrem Tod das Lebendigste in Heidruns Gesicht gewesen. Sie pulsierte und verzog sich bei jedem Geräusch, Geruch, bei jeder Berührung. Immer zuckte etwas, verschob sich, arbeitete.

Nachdem sie zehn Wochen in einem schlafähnlichen Zustand verbracht hatte, wusste ich, dass der Tod, wie er sich mir in der Friedhofshalle bot, dem Schlaf nicht im Geringsten ähnelte. Der Schlaf war zwar wie der Tod ein Sohn der Nacht, aber die Nacht hatte mindestens zwei Dutzend Kinder, eines düsterer als das andere, also wessen Bruder war er nicht? Aristoteles hielt im Übrigen auch nicht viel von dieser Zwillingsbrudergeschichte. Für ihn hatte Schlaf etwas mit Stoffwechsel zu tun, also mit Leben.

 

Ich stehe auf, um aufs Klo zu gehen, schalte aber kein Licht an. Die Wegbeleuchtung des Nachbarhauses blendet mich. Immer blinkt etwas, Autoscheinwerfer, kaputte Straßenlaternen, Leuchtreklamen von gegenüber, das Blaulicht, die Bewegungsmelder an den Häusern, die schon angehen, wenn eine Katze vorbeirennt oder ein Marder unter ein Auto schlüpft. Ich muss unbedingt richtige Rollläden kaufen, die weißen Lamellen werden nachts selbst zu Lichtquellen.

Dumpf hallen meine Füße über den hölzernen Flur. Dem kalten Kunststoff an meinen Oberschenkeln und den eisglatten Kacheln unter meinen bloßen Füßen weichen die letzten Schwaden warmer Schlaftrunkenheit. Wach sein heißt nüchtern sein. Dazwischen gibt es jedoch noch die Luzidität der Übermüdung, jene Halbschattenwelt der Schlaflosen, der Überwachen und Untoten mit den schweren roten Lidern und grauen Gesichtern, immer auf dem Sprung in die Welt des Schlafs, aber nie dort ankommend. Immer im Transitbereich. Vielleicht schaffen sie es ja mit dem nächsten Nachtflug.

Diese Stadt ist eine einzige Wartehalle. Sie ist wie geschaffen für die Schlaflosen, überall wird hier gewartet, auf Bahnhöfen, vor dem Elbtunnel, öffentlichen Damentoiletten, Bushaltestellen, Flughäfen. Hier waten wir knietief durch die totgeschlagene Zeit.

Heidruns Augen sanken langsam in ihre Höhlen.

Der Schlaf bewohnt eine dunkle Höhle in der Unterwelt. Oben haben die Wachen ihre gemeinsame Welt, und nur im Schlaf wendet sich jeder seiner eigenen Welt zu. Aber ich weiß, wo sich die Zwischenwelt der Schlaflosen befindet: im Wartezimmer, in meinem Wartezimmer.

 

Morgen muss ich um sieben Uhr aufstehen, um acht bei der Arbeit sein, ich muss versuchen, gleich weiterzuschlafen, heute Nacht klappt es bestimmt. Ich klappe den Deckel herunter, alles Offene ist eine Quelle der Beunruhigung, auch offene Toiletten. Eine Luftblase im Abflussrohr könnte platzen, eine Kanalratte aus der Schüssel emportauchen. Was unterirdisch ist, kann nach oben schwimmen, offene Klodeckel, offene Türen, offene Fragen, nur nicht zu viel nachdenken, ich muss so tun, als schliefe ich noch. Ich entdecke jetzt erst Orlas grauen Wollschal, der über dem Handtuchhalter neben dem Waschbecken hängt, halte ihn mir ans Gesicht und atme tief ein. Das wird mir in den Schlaf helfen. Ich schließe leise die Tür und laufe auf Zehenspitzen zurück ins Schlafzimmer. Meine Schritte sind leicht, das ist kein gutes Zeichen. Ich bin schon viel zu wach, fast hüpfe ich, schlecht, schlecht. Ich versuche, mich schwer zu machen, den Widerstand meines Körpers gegen die unaufhaltsame Wachheit meines Kopfes zu stärken. Die Übernächtigten sind allzeit verfügbar und widerstandslos zu allem bereit, alert und bewusstlos zugleich. Vielleicht sollte ich diesen zornigen Satz in die Einleitung meines Buches schreiben, die ich nicht schreiben kann, nicht zuletzt wegen meiner chronischen Übermüdung, meiner Tagesschläfrigkeit, so heißt der Fachausdruck. Wenn ich morgens ins Krankenhaus gehe und mein Sprechzimmer im Schlaflabor betrete, alert und bewusstlos zugleich, fühle ich mich trunkener als nachts um vier auf dem Weg zurück ins Bett.

 

Ich drehe die Decke um, damit die kühle Seite auf meiner Haut liegt. In aufgewärmte Betten krieche ich nicht gern. Meinen Geliebten ließ ich in Grund, aber in einem Bett haben wir nicht ein einziges Mal geschlafen. In Grund habe ich nichts mehr zu suchen. Nur verloren, das schon.

Aber Orla, die habe ich. Sie schläft.

Um Mitternacht ist meine Tochter heimgekommen, und ich habe mich gezwungen, nicht gleich zu ihr zu rennen, mit ihr zu reden und dabei heimlich zu prüfen, ob sie nach Rauch riecht, nach Alkohol, nach Marihuana oder Sex. Ob ihre Pupillen erweitert oder verengt sind, das Kleid falsch geknöpft, ihre Sprache schleppend und was man eben alles noch so wissen möchte. Allerdings habe ich gerade auf der Toilette an ihrem grauen Schal geschnüffelt. Sie lässt immer irgendetwas im Flur und im Bad liegen, wenn sie spät nach Hause kommt, Kleiderzeichen, damit ich gleich sehen kann, dass sie heil zurück ist. Ich mache es genauso für sie....

Erscheint lt. Verlag 10.9.2012
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Das Geräusch des Lichts • Der Geschmack von Apfelkernen • Erinnerung • Familie • Geheimnis • Heimat • Katharina Hagena • Leben • Liebe • Mutter • Schicksal • Schlaf • Schlaflosigkeit • Schlafstörung • Tod • Verbindung • Vergangenheit
ISBN-10 3-462-30613-8 / 3462306138
ISBN-13 978-3-462-30613-2 / 9783462306132
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