Timbuktu (eBook)

(Autor)

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2012 | 1. Auflage
192 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01831-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Timbuktu -  PAUL AUSTER
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Mr. Bones, die spitzohrige Promenadenmischung, sieht die Welt durch die scharfen Augen dessen, der sie stets von unten hat betrachten müssen. Und er ist nicht auf den Mund, Pardon, auf die Schnauze gefallen. Seine weisen Erkenntnisse über das Hundeleben, das wir alle führen, sind ebenso amüsant wie traurig - denn in ihrem augenzwinkernden Humor ist ihnen jede Sentimentalität fremd. «Austers berührendstes, gefühlvollstes Buch.» (New York Times) «Ein großer Erzähler erzählt hier eine kleine Geschichte, und er erzählt sie groß.» (Elke Heidenreich) «Großartige Prosa.» (New York Times) «Eine poetisch versierte Promenadenmischung.» (Stern)

Paul Auster wurde 1947 in Newark, New Jersey, geboren. Er studierte Anglistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia University und verbrachte nach dem Studium einige Jahre in Frankreich. International bekannt wurde er mit seinen Romanen Im Land der letzten Dinge und der New-York-Trilogie. Sein umfangreiches, vielfach preisgekröntes Werk umfasst neben zahlreichen Romanen auch Essays und Gedichte sowie Übersetzungen zeitgenössischer Lyrik. Am 30. April 2024 ist Paul Auster im Alter von 77 Jahren gestorben.

Paul Auster wurde 1947 in Newark, New Jersey, geboren. Er studierte Anglistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia University und verbrachte nach dem Studium einige Jahre in Frankreich. International bekannt wurde er mit seinen Romanen Im Land der letzten Dinge und der New-York-Trilogie. Sein umfangreiches, vielfach preisgekröntes Werk umfasst neben zahlreichen Romanen auch Essays und Gedichte sowie Übersetzungen zeitgenössischer Lyrik. Am 30. April 2024 ist Paul Auster im Alter von 77 Jahren gestorben.

2


Nichts geschah. Unendlich lang schien es so, als habe die ganze Nachbarschaft zu atmen aufgehört. Niemand kam, kein Auto fuhr vorbei, nicht ein einziger Mensch betrat oder verließ ein Haus. Es regnete heftig, genau wie Mr. Bones vorhergesagt hatte, doch dann ließ der Regen nach, verwandelte sich wieder in Nieselregen und hörte schließlich ganz auf. Während all dieser himmlischen Machenschaften rührte Willy nicht ein Glied. Er lehnte an der Wand des Ziegelbaus wie zuvor, mit geschlossenen Augen und leicht geöffnetem Mund, und wenn seinen Lungen nicht stoßweise dieses rostige, knarzende Geräusch entwichen wäre, hätte Mr. Bones glatt annehmen können, sein Herrchen sei schon in die jenseitige Welt entschwunden.

Dorthin gingen die Menschen, wenn sie starben. Wenn die Seele den Leib verlassen hatte, wurde der Körper im Boden vergraben, und die Seele entschwebte in die jenseitige Welt. Willy ritt nun schon seit Wochen auf diesem Thema herum, und der Hund hegte nicht den geringsten Zweifel daran, dass diese Welt wirklich existierte. Sie hieß Timbuktu, und nach allem, was Mr. Bones herausfinden konnte, lag sie irgendwo inmitten einer Wüste, weit weg von New York oder Baltimore, weit weg von Polen oder irgendeiner der Städte, die sie auf ihren Wanderschaften besucht hatten. Einmal hatte Willy diesen Ort «eine Oase der Seelen» genannt. Ein andermal meinte er: «Dort, wo die Weltkarte endet, fängt Timbuktu an.» Und um dorthin zu gelangen, musste man offensichtlich ein riesiges Land voller Sand und Hitze durchqueren, das Reich des ewigen Nichts. Mr. Bones schien das eine äußerst gefährliche und anstrengende Reise zu sein, aber Willy versicherte ihm, dass dem nicht so war und dass sie nicht länger dauerte als einen Wimpernschlag. Und sobald man da war, so sagte er, sobald man die Grenze zu dieser Freistatt überschritten hatte, brauchte man sich keine Sorgen mehr ums Essen, Schlafen oder die Verdauung zu machen. Man war eins mit dem Universum, ein winziges Stück Antimaterie im Hirn Gottes. Mr. Bones fiel es durchaus schwer, sich vorzustellen, wie das Leben an einem solchen Ort wohl sein mochte, aber Willy sprach so sehnsüchtig und mit so zärtlicher Stimme davon, dass der Hund schließlich seine Zweifel fallenließ. Tim-buk-tu. Inzwischen machte ihn schon der Klang des Wortes glücklich. Die kantige Kombination von Vokalen und Konsonanten rührte fast immer ans Innerste seiner Seele, und wenn seinem Herrchen diese drei Silben über die Lippen kamen, durchströmte eine Welle seligen Wohlgefühls seinen ganzen Körper – als sei das Wort an sich schon ein Versprechen, eine Garantie dafür, dass alles besser würde.

Es spielte keine Rolle, wie heiß es dort war. Es spielte auch keine Rolle, dass es dort nichts zu fressen, zu trinken oder zu schnüffeln gab. Wenn Willy dorthin ging, wollte er auch dort sein. Wenn für ihn der Augenblick gekommen war, von dieser Welt Abschied nehmen zu müssen, schien es nur recht und billig, dass er auch im Jenseits mit jener Person zusammen war, die er schon im Diesseits so geliebt hatte. Die Wildtiere hatten bestimmt ihr eigenes Timbuktu, riesige Wälder, in denen sie frei und unbedroht von zweibeinigen Jägern und Fallenstellern herumstreifen konnten, denn Löwen und Tiger waren anders als Hunde, und es ergab ja keinen Sinn, zahme und wilde Tiere im jenseitigen Leben zusammenzuwürfeln. Die Starken würden die Schwachen verschlingen, und in null Komma nichts wären alle Hunde dort tot und auf dem Weg in ein noch jenseitigeres Leben, ein Jenseits jenseits des Jenseits; was sollte das also? Wenn es auf der Welt so etwas wie Gerechtigkeit gab und wenn der Gott der Hunde irgendeinen Einfluss darauf hatte, was mit seinen Geschöpfen geschah, dann würde der beste Freund des Menschen an der Seite des Menschen bleiben, nachdem besagter Mensch und besagter bester Freund die Kurve gekratzt hatten. Außerdem würden die Hunde in Timbuktu die Sprache der Menschen sprechen und sich mit ihnen von Gleich zu Gleich verständigen können. Das verlangte die Logik – aber wer wusste schon, ob Gerechtigkeit und Logik in der jenseitigen Welt mehr zählten als in dieser? Willy hatte diesen Punkt irgendwie zu erwähnen vergessen, und weil Mr. Bones’ Name bei all den Gesprächen über Timbuktu nicht einmal gefallen war, nicht ein einziges Mal, befand sich der Hund nach wie vor im Unklaren darüber, wohin er denn nun nach seinem eigenen Ableben kommen würde. Was, wenn Timbuktu sich als einer dieser Orte mit tollen Teppichen und teuren Antiquitäten entpuppte? Was, wenn dort gar keine Haustiere erlaubt waren? Das schien nicht möglich, aber Mr. Bones war lange genug auf der Welt, um zu wissen, dass alles möglich war und dass andauernd die unmöglichsten Sachen passierten. Vielleicht war dies auch so eine, und an diesem vielleicht hingen tausend Ängste, Sorgen und ein unausdenkbares Entsetzen, das ihn packte, sobald er nur daran dachte.

Als er gerade wieder in tiefe Niedergeschlagenheit verfallen wollte, begann es unerwartet aufzuklaren. Der Regen hatte aufgehört, die dicht geballten Wolken rissen langsam auf, und der Himmel, der noch vor einer Stunde ganz grau und trüb gewesen war, färbte sich leuchtend bunt, ein scheckiges Durcheinander von roséfarbenen und gelben Streifen, die sich langsam von Westen her über die ganze Stadt zogen.

Mr. Bones hob den Kopf. Im nächsten Augenblick brach ein Lichtstrahl durch die Wolken, als seien die beiden Ereignisse insgeheim miteinander verknüpft. Er landete wenige Zentimeter vor der linken Pfote des Hundes auf dem Bürgersteig, und fast im selben Augenblick fiel ein zweiter Strahl direkt vor seine rechte Pfote. Auf dem Pflaster vor ihm bildete sich ein Gewirr von Licht und Schatten, das sehr schön anzuschauen war, ein kleines, unerwartetes Geschenk nach all der Trauer und dem Schmerz. Dann sah sich Mr. Bones zu Willy um. Gerade als er den Kopf wandte, ergoss sich ein ganzer Schwall Licht über das Gesicht des Poeten und fiel so hell auf die Lider des Schlafenden, dass er unwillkürlich die Augen aufschlug – und schon war Willy, noch vor einem Augenblick so gut wie tot, wieder zurück im Land der Lebenden, wischte sich die letzten Traumgespinste aus dem Oberstübchen und versuchte aufzuwachen.

Er hustete einmal, dann noch einmal und ein drittes Mal, bevor er einen längeren Anfall bekam. Mr. Bones stand hilflos dabei, als ihm der Schleim in dicken Pfropfen aus dem Mund flog. Einige landeten auf Willys Hemd, andere auf dem Bürgersteig. Wieder andere, die nasseren und glitschigeren, tropften ihm am Kinn herab. Dort blieben sie dann hängen, baumelten ihm wie Nudeln vom Bart, und während er unter der anhaltenden Gewalt des Hustens heftig zuckte, zusammenfuhr und sich krümmte, wackelten sie in einem verrückten, schrägen Tanz hin und her. Mr. Bones war entsetzt über die Schwere des Anfalls. Das musste das Ende sein, sagte er sich, mehr konnte ein Mensch doch wohl nicht ertragen. Aber Willy hatte noch immer Mumm in den Knochen, und als er sich erst mit dem Jackenärmel das Gesicht sauber gewischt und es geschafft hatte, wieder zu Atem zu kommen, überraschte er Mr. Bones mit einem breiten, beinahe seligen Lächeln. Mühsam bugsierte er sich in eine bequemere Lage, lehnte sich wieder an die Hauswand und streckte die Beine aus. Sobald sein Herrchen sich beruhigt hatte, legte Mr. Bones den Kopf auf dessen rechten Oberschenkel. Als Willy die Hand ausstreckte und ihn tätschelte, kehrte auch wieder etwas Ruhe ins verwundete Herz des Hundes ein. Sie hielt natürlich nur kurz und trog, verfehlte aber trotzdem ihre Wirkung nicht.

«Leih mir dein Ohr, Bürger Hund», sagte Willy. «Jetzt geht’s los. Langsam fällt alles von mir ab, eins nach dem anderen, und das Einzige, was übrig bleibt, sind Merkwürdigkeiten, Kleinigkeiten von vor langer Zeit, gar nicht das, womit ich gerechnet hätte. Aber Angst hab ich keine. Es tut mir zwar leid, und es ärgert mich, dass ich diesen frühen Abgang machen muss, aber ich scheiß mir wenigstens nicht wie befürchtet in die Hosen. Pack deine Sachen, Amigo. Hier trennen sich unsere Wege, und es gibt kein Zurück. Kannst du mir folgen, Mr. Bones? Verstehst du mich?»

Mr. Bones konnte ihm folgen, und er verstand ihn.

«Ich wünschte, ich könnte es dir in wenigen gewählten Worten verklickern», fuhr der Sterbende fort, «aber das krieg ich nicht hin. Schlagende Epigramme, prägnante Perlen der Weisheit, Polonius’ letzte Worte – so was bringe ich nicht. Wer den Penny nicht ehrt, ist des Dollars nicht wert; spare in der Zeit, dann hast du in der Not. In meinem Oberstübchen herrscht das reinste Chaos, Bonesy, also wirst du mein Gequatsche und meine Abschweifungen einfach ertragen müssen. Es scheint in der Natur der Dinge zu liegen, dass ich verwirrt bin. Und selbst jetzt, wo ich das Schattental des Todes betrete, hängen meine Gedanken im Sumpf von Anno Dunnemal. Das ist des Pudels Kern, Signore. Dieser Wirrwarr in meinem Hirn, der Staub, der Krempel, der überflüssige Krimskrams, der von den Regalen purzelt. Jawoll, Sir, es ist nun mal die traurige Wahrheit, dass ich ein Bär von geringem Verstand bin.

Und als Beweis präsentiere ich dir die Rückkehr von O’Dell’s Haarbändiger. Vor vierzig Jahren ist er aus meinem Leben verschwunden, und nun, an meinem letzten Lebenstag, taucht er plötzlich wieder auf. Ich sehne mich nach Tiefsinn, und was kriege ich? Dieses nutzlose Faktoid, diesen Mikroblitz auf dem Bildschirm meiner Erinnerung. Meine Mutter hat mir das Zeug immer in die Haare geschmiert, als ich noch ein Knirps war, ’n kleiner Springinsfeld. Es wurde beim Friseur verkauft und kam in einer...

Erscheint lt. Verlag 1.9.2012
Übersetzer Peter Torberg
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte amerikanische Romane • amüsant • Baltimore • bedingungslose Liebe • Erkenntnisse • existenzielle Themen • Gesellschaftskritik • Hoffnung • Hund • Maryland • Mensch-Tier-Bindung • Perspektive eines Tieres • Philosophische Literatur • philosophische Romane • Reiseberichte • sentimental • Soziale Isolierung • Traurig • Zeitgenössische Literatur
ISBN-10 3-644-01831-6 / 3644018316
ISBN-13 978-3-644-01831-0 / 9783644018310
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