Große Ferien (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2012 | 2. Auflage
180 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76630-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Große Ferien -  Nina Bußmann
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Bereits seit Monaten unterrichtet Schramm nicht mehr; etwas soll vorgefallen sein zwischen ihm und einem Schüler. Die Kollegen haben es schon immer gewusst, hinter seinem Rücken zerrissen sie sich über ihn, der immer korrekt war, die Mäuler. Und in der Tat, Schramm war porös geworden über die Zeit mit dem Jungen, der ihm in seiner Radikalität gegen sich selbst so ähnlich schien, und plötzlich hörte Schramm ein »wir« und war wie verzaubert, vollkommen ungeschützt in einem Moment, und dann -. Mit unheimlicher Präzision zieht Nina Bußmann uns hinein in ein Indizienspiel von diabolischem Ausmaß: Während wir noch Opfer von Tätern zu unterscheiden suchen, drängt es uns unaufhaltsam zu jenem Moment, in dem zwei Menschen alles auf eine Karte setzen.

<p>Nina Bußmann, geboren 1980 in Frankfurt am Main, studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Philosophie in Berlin und Warschau und lebt heute in Berlin. Für ihre Romane erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien, zuletzt den Robert Gernhardt Preis 2019.</p>

Für später war Besuch geplant, für den Nachmittag erwartete er den Bruder. Viktor. Tags zuvor war der Anruf gekommen; beinahe hätte Schramm ihn versäumt. Je nach Windrichtung war das Telefon, selbst wenn er es auf die höchste Lautstärke eingestellt hatte, nicht bis in jeden Winkel des Gartens zu hören. Oft genug war er auf Verdacht ins Wohnzimmer gelaufen, doch wenn er abheben und antworten wollte, rührte sich nichts mehr. Höchstens ein Kind, das sich einen Spaß machte, am Telefon zu schweigen, zu seufzen, zu lachen durch ein um den Hörer gebundenes Tuch. Gelegentlich ein Angestellter einer Firma, der eine Meinung erfragen, ein Kaufangebot unterbreiten wollte. Schramm hatte sich das Antworten längst abgewöhnt. Spätestens seit der Geschichte mit Waidschmidt hatte er damit aufgehört. Drauf und dran war er gewesen, den Anschluss abzumelden, oder besser noch, ohne Abmeldung den Stecker zu ziehen. Den Apparat eng in seine Kabel gewickelt und auf den Speicher damit: das wäre das Beste gewesen. So dass dem Anrufer kein Freizeichen, sondern Pfeifen ins Ohr schallte, wie Schramm es sich gern vorstellte, einen an schmerzhaften Frequenzen entlang vibrierenden, hohen Ton.

Nach der Geschichte mit Waidschmidt waren die Anrufe natürlich häufiger geworden, hatten sie überhaupt erst angefangen, seit der Geschichte mit Waidschmidt hatte er an manchen Nachmittagen kaum eine halbe Stunde Ruhe. Vor den obszönen Flüstereien und zotigen Scherzen, vor den ernsthaften Aufforderungen, sich zu äußern, weil er sich mit nichts mehr schade als mit seinem Schweigen, mit seinem Schweigen reite er sich immer tiefer hinein.

Schramm hätte sich selbst angezeigt, er hatte jedenfalls alles Nötige getan. Mehr war nicht zu sagen in der Geschichte. Ohnehin hätte Schramm nicht von einer »Geschichte« gesprochen, auch nicht, wie es rasch üblich geworden war, von einer »Angelegenheit«, allerhöchstens von einem Vorkommnis.

Seit die Ferien angefangen hatten, war es ruhig geworden. Freitagnachmittag war der letzte Anruf aus der Schule gekommen, spät am letzten Tag vor den großen Ferien, in der letzten Juliwoche, das wusste Schramm noch, vergesslich war er nicht. Er erinnerte sich daran, wie er jenen Anruf entgegengenommen hatte. Das Hörerkabel um den Zeigefinger geschlungen, hatte er gestanden, neben dem Telefontischchen im Wohnzimmer, beim Fenster zum schattigen Garten, der satt und feucht im seitlich eindämmernden Streulicht lag. An den Scheiben klebte erhitzt geronnener Regen, fahl bestrahlt vom über die Hangwipfel geschwemmten, im Tal gesammelten Sonnenrest. In angrenzenden Gärten wurde gegrillt. Gelächter strich über den Rasen und Rauch, flach über das Gras, als die Rektorin anrief, zu fragen, wie die Dinge stünden. Da war Schramm schon über Wochen fortgeblieben. Am Tag, als es geschehen war, hatte er die Sommerblumen ausgepflanzt, jetzt standen sie schon kniehoch, Levkojen, Zinnien und Azaleen, dicht gruppiert. Noch ist alles offen, sagte die Rektorin, noch nichts eingetütet, es wird sich eine Lösung finden lassen, mit der alle glücklich sind. Schramm schlang das Kabel enger um seinen Finger, so fest, dass es unter der Beere zu pochen begann. Noch nie war der Rasen in einem besseren Zustand gewesen. Die schwellende Grasnarbe, weggewölbt von den getrimmten Rändern, schwarzen Beeten, kroch unter die tief gebreiteten Zweige der Blautannen, die das Anwesen zum Hang hin abschlossen, den Waldschatten der Schonung atmeten, ihre Kühle. Rechter Hand rückte Zwergwacholder aus dem bebuschten Gebiet, an seiner Seite Pfingstrosen, sie wollten nicht zu blühen aufhören. Spät, doch desto heftiger waren sie hervorgebrochen. Im Mai aufgeblüht und noch bis in den Juli hinein quellend, katzenkopfgroß da, glommen sie im Tannenschatten als verschwommene Bälle auf dem nierenförmigen Beet.

Ich komme nicht mehr zurück, sagte Schramm zur Rektorin. Er hielt den Hörer fest und das Kabel, er würde nicht die Geduld verlieren. Wenn man nur einen Entschluss hat, ist es nicht schwierig, und den hatte er, schon in Vorbereitung auf ihr kurzes Gespräch in der zweiten großen Pause hatte er seinen Entschluss gefasst, bevor er in das Rektorinnenzimmer getreten war. Das Kreischen vom Pausenhof schallte herauf wie das Jubeln, das Scheppern, wenn der Fußball mit Wucht gegen das Gitter hinter den Torpfosten prallte, als Schramm sich im Mantel, Koffer vor dem Bauch, vor den Schreibtisch der Rektorin stellte und mitteilte, dass er heute vor der Zeit gehen müsse, weil ihm nicht gut sei.

Es war klar gewesen von Anfang an, und klar und fest hatte er zu ihr gesprochen, durch nichts beirrt. Nicht durch den Wind, von dem damals einige redeten, der seit ihrem Amtsantritt in der Anstalt wehte, wie gesagt wurde, immer vor ihr weg wehte, wenn sie in ihren flatternden Gewändern die Gänge des Schulhauses abschritt, mit im Rhythmus ihrer Schritte wogendem Lockenhaar. An jenem Tag noch hatte er begonnen, die Sommerblumen auszupflanzen. Damit durfte nicht mehr gewartet werden. Die Setzlinge hatte er bereits angezüchtet, Levkojen und Zinnien, sie mussten ins Freie. Lange harkte er den Beetstreifen. Es waren diese Vorarbeiten, die am meisten Zeit in Anspruch nahmen, die ihm dennoch lieber waren als die eigentliche, die Hauptarbeit. Wenn er gründlich war, verschwand er in seinen Handgriffen und um ihn die Welt. Am nächsten Morgen hatte er sein Schreiben aufgesetzt.

 

Er hatte sich nicht vom Amtsarzt untersuchen lassen, auch nicht auf mehrfache Aufforderung hin. Ich bin ja nicht krank, sagte Schramm. Sein Kopf war klar. Die Schreiben des Amtes sammelte er, in der engen Stelle auf der Küchenfensterbank, eingeklemmt zwischen dem Transistor und dem Steinmörser, den er benutzte, um ausgekochte Eierschalen zu zerstoßen. Das Pulver setzte er mit Wasser an zur Herstellung von düngendem Sud. Es war das erste Mal, dass er einer doch aus guten Gründen eingerichteten Regelung nicht folgte. Man tauschte sich aus über ihn, das wusste Schramm. Gut genug kannte er das Lehrerzimmer, bis in den gekachelten Winkel hinein kannte er es, wo dicht am Spülstein ein Plastikpott Brühkaffee in die angesprungenen Tassen der Lehrer spuckte, wenn sie mit der Hand auf den Deckel patschten. Einfach, hieß es, sei es mit ihm niemals gewesen, keine Frau, kein Kind, und nicht einmal ein Hund. Dazu brauchte es nicht viel, sich vorzustellen, wie geschwatzt wurde über die Mutter und ihn, über Waidschmidt und ihn. Leicht, sich herzuleiten, welche Schlüsse gezogen, welche Mutmaßungen aufgestellt wurden, sie lagen nahe. Etwas zu nahe. So, wie die Geschichte und in der Geschichte er gesehen wurde, wusste er jedenfalls, war es nicht gewesen: Wem bereitet solches Wissen nicht Vergnügen, einen stillen Triumph. Vor wenigen Tagen erst war ihm mitgeteilt worden, dass sein Krankenstand sich nicht mehr verlängern ließe, fortan nur noch Versorgungsbezüge gezahlt würden, doch hatte er keine Einwendungen erhoben.

 

Gestern hatte Viktor seinen Besuch angekündigt. Als das Telefon zum wiederholten Mal nicht aufhören wollte zu läuten, da schon hatte Schramm es gewusst, noch bevor er endlich doch seine Arbeit abgebrochen hatte, ins Haus gelaufen, zuletzt gerannt war, hatte er es gewusst. Niemand sonst, nur der Bruder, meldete sich mit einer solchen Hartnäckigkeit. Kaum zu verstehen war Viktor. Ob alles in Ordnung sei, fragte er. Ob er störe. Er wusste die Antwort sehr gut! Vom fahrenden Auto aus telefonierte er; mehrfach brach die ohnehin schlechte Verbindung ganz ab. Rauschen tönte im Hintergrund und zusätzlich Musik. Musik, wie der Bruder sie bevorzugte. Eine heisere Frauenstimme über klappernden Synkopen. Wie irr hämmerte jemand ein auf das Marimbaphon. Auf Spanisch sang die Frau, man verstand das eigene Wort nicht mehr. Mehrmals musste nachgefragt werden. Auf der Durchreise sei Viktor, so viel konnte Schramm den zu ihm dringenden Bruchstücken entnehmen. Keine verlässliche Aussage ließ sich daraus zusammensetzen, nicht ein einziger vollständiger Satz. Es half nichts, dass der Bruder in Rufen und schließlich in Schreien verfiel, es verschlimmerte sich dadurch nur. Schramm musste, weil der andere immer lauter wurde, den Hörer in einem Abstand zu seinem Ohr halten und so noch mehr von dem Gesagten versäumen, doch anders wären die Nebengeräusche nicht zu ertragen gewesen, dieses anhaltende Knacken und Brausen.

Ein Bruder bleibt ein Bruder, wird gesagt, ein Bruder gehört zu den ersten Menschen, die man kennt im Leben, doch konnte in ihrem Fall nicht von einer besonderen Nähe die Rede sein. Von einem naturgegebenen, durch nichts zu trennenden Band. Wo schon das Wechseln eines Blickes, eine Geste genügt, eine gemeinsame Erinnerung hervorzurufen. Etwas Derartiges hatte sich zwischen Schramm und seinem Bruder niemals eingestellt. Schon als Kinder hatten sie kaum etwas miteinander anzufangen gewusst, und wenn sie doch einmal ganze Nachmittage zusammen verbrachten, ins Spiel vertieft, dann in Ermangelung anderer und passenderer Kameraden. Das kommt vor, sagte Schramm. Regelrecht verteidigen müssen hatte er sich, wo immer das Thema aufgekommen war.

Manchmal brauchen wir uns nur ansehen, meine Schwester und ich, hatte die Referendarin zu ihm gesagt und ihr Haar am Hinterkopf zusammengezurrt, dass es ihr Gesicht straffte, die Brauen in die Höhe zog. Nur ansehen, sagte sie, und wir brechen in Lachen...

Erscheint lt. Verlag 12.3.2012
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Belletristische Darstellung • Identitätsfindung • Isolation • Lehrer • Soziologie • ST 4524 • ST4524 • Straftat • suhrkamp taschenbuch 4524
ISBN-10 3-518-76630-9 / 3518766309
ISBN-13 978-3-518-76630-9 / 9783518766309
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