Tagebuch 1966-1971 (eBook)

(Autor)

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2011 | 1. Auflage
448 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75010-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tagebuch 1966-1971 -  Max Frisch
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Das Tagebuch 1966-1971 steht in der Kontinuität des ersten. Die Aufzeichnungen, ob Erzählung oder Bericht, Fiction oder Analyse, Verhöre, Fragbogen oder Handbuch, Reisebericht oder Erinnerung, protokollieren unsere Zeit und die Situationen des einzelnen in ihr.

Max Frisch, geboren am 15. Mai 1911 in Z&uuml;rich, arbeitete zun&auml;chst als Journalist, sp&auml;ter als Architekt, bis ihm mit seinem Roman <em>Stiller</em> (1954) der Durchbruch als Schriftsteller gelang. Es folgten die Romane <em>Homo faber</em> (1957) und <em>Mein Name sei Gantenbein</em> (1964) sowie Erz&auml;hlungen, Tageb&uuml;cher, Theaterst&uuml;cke, H&ouml;rspiele und Essays. Frisch starb am 4. April 1991 in Z&uuml;rich.

Fragebogen


1.

Sind Sie sicher, daß Sie die Erhaltung des Menschengeschlechts, wenn Sie und alle Ihre Bekannten nicht mehr sind, wirklich interessiert?

 

2.

Warum? Stichworte genügen.

 

3.

Wieviele Kinder von Ihnen sind nicht zur Welt gekommen durch Ihren Willen?

 

4.

Wem wären Sie lieber nie begegnet?

 

5.

Wissen Sie sich einer Person gegenüber, die nicht davon zu wissen braucht, Ihrerseits im Unrecht und hassen Sie eher sich selbst oder die Person dafür?

 

6.

Möchten Sie das absolute Gedächtnis?

 

7.

Wie heißt der Politiker, dessen Tod durch Krankheit, Verkehrsunfall usw. Sie mit Hoffnung erfüllen könnte? Oder halten Sie keinen für unersetzbar?

 

8.

Wen, der tot ist, möchten Sie wiedersehen?

 

9.

Wen hingegen nicht?

 

10.

Hätten Sie lieber einer andern Nation (Kultur) angehört und welcher?

 

11.

Wie alt möchten Sie werden?

 

12.

Wenn Sie Macht hätten zu befehlen, was Ihnen heute richtig scheint, würden Sie es befehlen gegen den Widerspruch der Mehrheit? Ja oder Nein.

 

13.

Warum nicht, wenn es Ihnen richtig scheint?

 

14.

Hassen Sie leichter ein Kollektiv oder eine bestimmte Person und hassen Sie lieber allein oder in einem Kollektiv?

 

15.

Wann haben Sie aufgehört zu meinen, daß Sie klüger werden, oder meinen Sie's noch? Angabe des Alters.

 

16.

Überzeugt Sie Ihre Selbstkritik?

 

17.

Was, meinen Sie, nimmt man Ihnen übel und was nehmen Sie sich selber übel, und wenn es nicht dieselbe Sache ist: wofür bitten Sie eher um Verzeihung?

 

18.

Wenn Sie sich beiläufig vorstellen, Sie wären nicht geboren worden: beunruhigt Sie diese Vorstellung?

 

19.

Wenn Sie an Verstorbene denken: wünschten Sie, daß der Verstorbene zu Ihnen spricht, oder möchten Sie lieber dem Verstorbenen noch etwas sagen?

 

20.

Lieben Sie jemand?

 

21.

Und woraus schließen Sie das?

 

22.

Gesetzt den Fall, Sie haben nie einen Menschen umgebracht: wie erklären Sie es sich, daß es dazu nie gekommen ist?

 

23.

Was fehlt Ihnen zum Glück?

 

24.

Wofür sind Sie dankbar?

 

25.

Möchten Sie lieber gestorben sein oder noch eine Zeit leben als ein gesundes Tier? Und als welches?

 

 

Statistik

 

Die durchschnittliche Lebensdauer betrug um Christi Geburt nur 22, zur Zeit von Martin Luther schon 35,5, um 1900 noch 49,2 und heute 68,7 Lebensjahre. Die Lebensverlängerung bedeutet zugleich eine Umschichtung der Altersklassen. Um 1900 stellten die Jugendlichen (bis zum zwanzigsten Lebensjahr) noch 46% der Bevölkerung, 1925 nur noch 36%, 1950 noch 31%, und für 1975 rechnet man mit 28% jugendlichen Menschen. Entsprechend steigen die Altersklassen (nach dem sechzigsten Jahr); um 1900 waren es noch 7% der Bevölkerung, um 1975 werden es 20% sein.

Bodega Gorgot


Wenn seine Frau ihn nicht unterbricht, sieht jedermann, daß sie nicht mehr zuhört; daß es ihr zu lang wird, wenn er spricht. Er ist Goldschmied. Seine Arbeit wird geschätzt. Eine Fachauszeichnung (Landesausstellung 1939) nimmt er von der Wand. Ein Lehrling und zwei Angestellte haben es gemerkt. Was eigentlich? Das wissen sie nicht, aber sie haben es gemerkt: der Alte meint ihnen den Beweis zu schulden, daß er's besser kann, und sie machen ihn fertig, auch wenn ihm dieser Beweis gelingt. Jetzt sitzt er fast jeden Abend in der Bodega. Die jungen Bärte, ihre Hosenmädchen mit offenem Haar usw., es stört ihn nicht, daß sie nicht arbeiten um 5 Uhr nachmittags. Die Bodega ist auch tagsüber düster. Als junger Mann hat er gearbeitet; das ist ihm geblieben. Nachher geht er nochmals in seine Werkstatt. Einmal kommt sie in die Bodega; er hat schon getrunken und macht eine schlechte Figur. Sie hat es nicht anders erwartet; das weiß er. Sie legt ihre Hand auf seine Hand, bringt den Goldschmied nach Haus. Sein Vater war Volksschullehrer. In mancher Hinsicht, zum Beispiel politisch, weiß er einfach mehr als seine Frau, in andern Dingen weniger; das letztere genügt: wenn sie für seine politischen Kenntnisse oder Meinungen kein Interesse hat, wird er unsicher. Wenn sie behauptet, Trotzki sei erschossen worden, widerspricht er, aber es überzeugt sie nicht; sieht er später in einem Buch nach, so wird er wütend, daß sie ihn hat unsicher machen können. Wochenlang kommt er nicht mehr in die Bodega. Vielleicht hat er eine andere Pinte gefunden, die sie nicht kennt. Sie ist ausgebildete Kindergärtnerin, hat ihren Beruf damals wegen der eignen Kinder aufgegeben; sie macht die Buchhaltung für den Goldschmied, was nicht viel Arbeit ist; sie ist unersetzlich. Später wieder sitzt er am runden Tisch in der Bodega; er sieht sich die jungen Bärte an, trinkt, spricht mit niemand. Nimmt er eine Zeitung, so kommt ihm vor, als habe er alles schon gelesen. Vielleicht hat sie ihn verlassen. Was er macht, wenn er so da sitzt und schweigt: er rechtfertigt sich. Schließlich hat er einen Laden gegründet aus eigener Kraft, schließlich ist seine Arbeit unter Fachleuten anerkannt usw. Zwei Kinder, jetzt schon erwachsen und selbständig, merken, daß er ihre Achtung braucht; sein Eigenlob macht es ihnen nicht leicht. Sie hat ihn nicht verlassen; sie weiß, daß der Goldschmied sie braucht, und trägt ihr Kreuz mit Anstand. Sie ist Mitte 40. Es wird sich nichts mehr ändern. Eigentlich kann er sich ihr Leben nicht vorstellen. Sie kommt mit der Einkaufstasche in die Bodega und trinkt auch einen Clarete. Vielleicht schon sehr früh, schon am ersten Abend hat sie gemerkt, daß man ihn unsicher machen kann. Er galt als Draufgänger; Erfolg bei Frauen usw. Er überredete sie zu einer Bootfahrt, um als Ruderer seine Tüchtigkeit zu zeigen, und empfand es als Versagen seinerseits, als es zu regnen begann. Sein Versagen jetzt ändert nichts an ihrer Beziehung zu ihm, im Gegenteil, es bestätigt sie. Wie er in der Bodega den gemeinsamen Wein bezahlt, ihre Einkaufstasche nimmt und ihr dann den Mantel hält und wartet, wie er nicht zu sagen wagt: Jetzt komm schon! und wie er sich verantwortlich macht, wenn sie beinahe ihre Handschuhe vergessen hätte –

 

 

BERZONA

 

Das Dorf, wenige Kilometer von der Grenze entfernt, hat 82 Einwohner, die Italienisch sprechen; kein Ristorante, nicht einmal eine Bar, da es nicht an der Talstraße liegt, sondern abseits. Jeder Gast aus den Städten sagt sofort: Diese Luft! dann etwas bänglich: Und diese Stille! Das Gelände ist steil: Terrassen mit den üblichen Trockenmauern, Kastanien, ein Feigenbaum, der Mühe hat, Dschungel mit Brombeeren, zwei große Nußbäume, Disteln usw. Man soll sich hüten vor Schlangen. Als Alfred Andersch, schon seit Jahren hier wohnhaft, auf das kleine ­Anwesen aufmerksam machte, war das Gebäude ver­lottert, ein altes Bauernhaus mit dicken Mauern und mit einem turmartigen Stall, der jetzt Studio heißt, alles mit Granit gedeckt. Das Tal (Val Onsernone) hat keine Sohle, sondern in seiner Mitte eine tiefe und wilde Schlucht, in die wir noch nie hinabgestiegen sind; seine Hänge sind waldig, darüber felsig und mit den Jahren wahrscheinlich langweilig. Im Winter habe ich es lieber. Die einheimische ­Bevölkerung lebte früher von Strohflechterei, bis auf dem Markt zu Mailand plötzlich die japanischen Körbe und Hüte und Taschen erschienen; seither ein verarmendes Tal.

Vorsatz


Vieles fällt natürlich nach fünf Jahren im Ausland (Rom) deutlicher auf, ohne deswegen nennenswert zu werden, wenn es nicht zu neuen Einsichten führt, und das ist bisher nicht der Fall gewesen. Daher der Vorsatz, über die Schweiz mindestens öffentlich keine Äußerungen mehr zu machen.

 

. . .

 

Tatsächlich haben Ausländer, die in der Schweiz wohnen, oft ein froheres Verhältnis zu diesem Land als unsereiner. Sie enthalten sich jeder fundamentalen Kritik; unsere eigene Kritik ist ihnen eher peinlich, sie möchten diesbezüglich verschont bleiben. Was, außer dem schweizerischen Bankgeheimnis, zieht sie an? Offenbar doch allerlei: Landschaftliches, die zentrale Lage in Europa, die Sauberkeit, Stabilität der Währung, weniger der Menschenschlag (da verraten sie sich gelegentlich durch pejorative Klischees), vor allem aber eine Art von Dispens: es genügt hier, daß man Geld und Papiere in Ordnung hat und auf keine Veränderung sinnt. Wenn nicht gerade die Fremdenpolizei sie ärgert, so ist die Schweiz für den Auslän­der in der Schweiz kein Thema. Was sie genießen: Geschichtslosigkeit als Komfort.

 

. . .

 

Das Versprechen, über die Schweiz keinerlei Äußerungen mehr zu machen, ist leider schon gebrochen. (»Ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr: man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen«.) Vielleicht war die Heimkehr verfrüht.

 

 

CASA DA VENDERE

 

Das kommt vor:...

Erscheint lt. Verlag 20.4.2011
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1966-1971 • Frisch • Frisch, Max • Max • ST 256 • ST256 • suhrkamp taschenbuch 256 • Tagebuch
ISBN-10 3-518-75010-0 / 3518750100
ISBN-13 978-3-518-75010-0 / 9783518750100
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