Apostoloff (eBook)

Roman
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2010 | 1. Auflage
248 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74350-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Apostoloff - Sibylle Lewitscharoff
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Zwei Schwestern, unterwegs im heutigen Bulgarien. Auf der ersten Hälfte ihrer Reise waren sie Teil eines prächtigen Limousinenkonvois, der die Leichen von 19 Exilbulgaren - in den Vierzigern von Sofia nach Stuttgart ausgewandert - in ihre alte Heimat überführte. Darunter der frühverstorbene Vater der Schwestern. Jetzt sind sie Touristinnen, chauffiert vom langmütigen Rumen Apostoloff. Er möchte den beiden die Schätze seines Landes zeigen, aber für seine Vermittlungsversuche zwischen Sofia und Stuttgart zeigen die Schwestern wenig Sinn. Zwei Schwestern, ein Fahrer: Ihre Reise durch Bulgarien wird zur rabenschwarzen, erzkomischen Abrechnung mit dem Vater und seinem Land. Preis der Leipziger Buchmesse 2009

Sibylle Lewitscharoff, 1954 in Stuttgart geboren, ver&ouml;ffentlichte Radiofeatures, H&ouml;rspiele, Essays und Romane. F&uuml;r <em>Pong </em>erhielt sie 1998 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Der Roman <em>Apostoloff </em>wurde 2009 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. 2013 wurde sie mit dem Georg-B&uuml;chner-Preis ausgezeichnet. Ihr erstes Theaterst&uuml;ck, <em>Vor dem Gericht</em>, wurde 2012 am Nationaltheater Mannheim uraufgef&uuml;hrt. Lewitscharoff war Mitglied der Deutschen Akademie f&uuml;r Sprache und Dichtung sowie der Berliner Akademie der K&uuml;nste. Sibylle Lewitscharoff verstarb am 14. Mai 2023 im Alter von 69 Jahren in Berlin.

Unterwegs mit Rumen


Wir, sage ich zu meiner Schwester, sind noch gut davongekommen. Meine Schwester sitzt vorne auf dem Beifahrersitz und schweigt. Nur ein winziges Neigen des Kopfes Richtung Fenster deutet an, daß sie verstanden hat. Sie ist an meine Eröffnungen gewöhnt und weiß, was gemeint ist.

Weg und fort und Ende, sage ich. Ein Vater, der ein Ende macht, bevor er die ganze Familie zermürbt, ist eher zu loben als zu verdammen.

Machen, da spielt doch der hellichte Tag mit hinein? Da will doch etwas angestaunt werden, wenn’s fertig ist? Gemach, Gemächt, gemacht. Gemacht wird jetzt eine Boxbewegung auf die Kopfstütze zu, aber alles bleibt an der Luft, schneller als gehoben liegt die Hand wieder auf dem Knie. Dumm? Ja, dumm ist so manches, was ich tu, aber noch kein vernünftig Kraut dagegen gewachsen. Meine Schwester hört und sieht mich im Moment nicht, weil sie Rumen anlächelt und weil der Lärm des Wagens die feineren Geräusche schluckt.

Manchmal spreche ich zu meiner Schwester wie in den Wind. Sie kennt die Anläufe von meiner Seite, in denen unser Vater selten gut, meistens schlecht wegkommt. Von der Mutter schweigen wir eisern. Das Bezaubernde an meiner Schwester ist: sie nimmt mich nicht ernst und verzeiht alles. Sie ist eine vorbildliche ältere Schwester, die der jüngeren mit Engelsgeduld begegnet. Obwohl wir inzwischen mittleren Alters sind, denkt meine um zwei knappe Jährchen ältere Schwester, sie habe es mit einem unschuldigen Kind zu tun, über dessen Marotten man ein bißchen die Stirn runzelt, im guten Glauben, sie würden sich noch auswachsen.

Rumen Apostoloff ist nicht an uns gewöhnt, sein Haar steht bis zu den Spitzen in Hab-Acht-Stellung. Über meine Reden erschrickt er, meine Schwester himmelt er an. Sein Gehör ist exzellent, er versteht fast immer, was wir sagen, nur wenn wir absichtlich in breiteres Schwäbisch fallen, kommt sein detektivischer Sprachsinn mit den weichen, verschliffenen Lauten nicht zurecht.

Rumen ist unser Hermes, er trägt die Sprachen hin und her, fährt und findet im Fahren den Weg, einer jener verzweifelten bulgarischen Fahrer, die kein Auge dafür haben, was am wegflitzenden Straßenrand alles krepiert. Als uns ergebener Nervösling fährt er durch sein verzweifeltes Land, das bei Nacht noch viel verzweifelter ist.

Wir, sage ich zu meiner Schwester, können uns nicht beschweren. Wir wurden ernährt, wurden nicht geschlagen und haben lange Ausbildungen finanziert bekommen, zu guter Letzt reichte es sogar zu einem bescheidenen Erbe. Was will man mehr.

Die freudlose Vernunft meiner Sätze widert mich an, was dazu führt, daß ich eine Weile den Mund halte. Meine Schwester schweigt ohnehin viel, und Rumen wagt es nicht, sich in eine Rede zu mengen, die auf Fortsetzung angelegt ist.

Wir rollen auf der gut ausgebauten Straße nach Veliko Tarnovo dahin. Sofia haben wir gerade hinter uns gelassen, auf der linken Seite zeigen sich marode Industrieanlagen, von denen rötlichgelbe Rauchfahnen in den Himmel wehen. Die ganze linke Seite ist in einen rötlichgelben Schleier gehüllt, dessen Partikel im Sonnenlicht giftig glitzern. Es stinkt. Eine lange Reihe Lastwagen befindet sich vor uns. Rumen Apostoloff rückt den Oberkörper in seinem Sitz zurecht und packt das Steuer mit Entschlossenheit, vor sich das harte Geschäft des Überholens, auf der Rückbank eine Frau, die er nicht leiden kann.

Die Windrose des Vaterhasses verwirbelt so manches Fünkchen Vaterliebe, sage ich unhörbar zu meiner Schwester, während wir die roten Staubwolken des Metallurgiekombinats von Kremikovski, einstmals ein Kind bulgarisch-sowjetischer Freundschaft, hinter uns lassen.

Wir sind Kinder der deutsch-bulgarischen Freundschaft, einer ebenso zweifelhaften, wie es die bulgarisch-sowjetische war. Eine Freundschaft aus Lügen, Eisen und Blech, von der nicht viel mehr blieb als verschrottete Panzer und längst verweste Haufen von Leichen. Unter einem Separathäufchen, als Spät-, nicht als Kriegsleiche, ist unser Vater verwest.

Zeige er sich doch, der Vater, wenn er kann!

Nichts da. Noch ist die Zeit nicht reif, mit zartem Hämmern das Bild des Vaters auszuklopfen. Kristo, sein durchdringend symbolischer Name. Kein elastischer, gutmütiger Name, der einem Knaben hilft, sich in der Welt umzutun. Was für ein eiserner Kranz von Bedeutungen auf diesem Kreuznamen lastet. Dieser Vater-Kristo, damals natürlich noch nicht Vater, sondern bloß Sohn, soll das Schreiben zwar rasch erlernt, bei seinem Namen soll es jedoch gedauert haben, bis er ihn ohne Zögern hat hinschreiben können. Als Erwachsener, Arzt dann, hatte er eine versudelte Schrift, für jeden Apotheker, der seine Rezepte entziffern mußte, eine Zumutung. Der Namenszug war völlig unleserlich. Ja, auch bei unserem Vater bildete der Name den Kern der Persönlichkeit. Eine völlig versudelte Persönlichkeit, sage ich zu meiner Schwester und glaube zu hören, wie sie seufzt – meines Geredes wegen, der unbegreiflichen Launen, denen es folgt.

Eine Persönlichkeit ohne Stimme und Gewicht, zumindest für seine Töchter, falls er in deren Köpfen überhaupt vorkommt, sage ich triumphierend. Dochdoch, er kommt vor. Zeigt sich huschhusch nach Belieben, dieses Aas von einem Vater!

Es sind die nachts begonnenen und tagsüber ausgeschmückten Träume, in denen unser Vater regelmäßig wiederkehrt.

Da meine Schwester beharrlich schweigt, Rumen nur stöhnt und mit der Faust aufs Lenkrad schlägt, wenn, wie er glaubt, ein ausgemachter Schwachkopf ihn am freien Fahren hindert, spreche ich jetzt für meine Schwester mit – obwohl sie für gewöhnlich leugnet, daß Väter in Träumen erscheinen, unser versudelter Vater sogar mit einiger Hartnäckigkeit.

Neulich, in der Nacht, bevor wir nach Sofia flogen, saß er bei mir im Zimmer. Seine Präsenz war so wenig merkwürdig, wie zum Beispiel in einer Erzählung von Murakami, in der es heißt: Als Katagiri in seine Wohnung kam, wartete dort ein riesenhafter Frosch auf ihn.

Auf mich wartete keine riesenhafte Amphibie, sondern bloß der Vater. Er benahm sich diskreter als Murakamis Frosch, schwieg. Wozu die Stimmbänder strapazieren, zwischen uns gibt es nichts zu bereden. Langsam stand er auf und ging durch die Wand. Während er schon verschwunden war, schleppte das Ende seines Stricks noch am Boden, bis es allmählich ebenfalls verschwand. Mein Vater hat seinen Strick meistens dabei, das ist ganz und gar nichts Neues.

Unser Rumen ist ein hektischer Fahrer. Immer wieder reißt er mich aus meinen Gedanken. Wenn er überholt, fragt man sich unwillkürlich, schafft er’s, oder schafft er’s nicht. Gerade hat er einen Lastzug hinter sich gelassen, beladen mit Baumstämmen, an deren längstem ein roter Wimpel flattert. Wir sind noch mal davongekommen.

Rumen Apostoloff möchte uns die Schätze Bulgariens zeigen. Meine Schwester und ich wissen es besser: solche Schätze existieren nur in den bulgarischen Hirnen. Wir sind überzeugt, Bulgarien ist ein grauenhaftes Land – nein, weniger dramatisch: ein albernes und schlimmes. Seine Gegenden? Meer, Wald, Gebirge, Auen? Unseretwegen mag es da verborgene Reize geben. Wir sind aber keine Ornithologen und wollen auch nicht auf Bärenjagd gehen. Auf malerische Rhodopenschluchten geben wir nichts, Hammerschläge in Rhodopentälern erschüttern uns nicht, Glockengeläut lädt uns nicht zum Kirchgang ein. Rosenfelder sind für uns Rosenfelder und sonst wenig, Rosenfelder bringen unsere Herzen nicht in Wallung. Bloß weil man auf eine blutrote Fläche zeigt, benehmen wir uns nicht wie Frischverliebte und erfahren auch keine Extrablutzufuhr. Nüchtern bleiben ist eine Kunst. Eisern wird sie von uns praktiziert, sobald wir bulgarische Luft wittern, gar die ersten vorsichtigen Schritte auf bulgarischem Boden tun.

Und sonst? Sind die bulgarischen Chöre etwa nichts? Le Mystère des voix bulgares, wie es immer so nobel heißt? Hört sich das nicht an wie hoch droben in den Äther hineingesungen und vom Berg herabtönend? Kommen wir nicht ins Grübeln, wenn wir an Orpheus denken, der in den Rhodopen so rein und bezaubernd sang und dazu die berühmte Leier schlug, daß Steine und Bäume sich um ihn her scharten, alles Wild die Hörner senkte, Hirschen und Rehen die Beine einknickten vor Entzücken, Fell an Fell, Fell an Kleid von Gejagten und Jägern sich aufs weiche Moos lagerte und Frieden herrschte und Lauterkeit unter allen Wesen, die Ohren haben und in deren Brust ein Herz schlägt, weil alles nur noch ein Lauschen war, ein sonderbares Lauschen, ein Lauschexzeß mit fühlenden Steinherzen und auffangsamen Steinohren, wie ihn nicht einmal die Bibel kennt.

Tja, sagen wir, mag wohl sein, aber ihr habt eure Ur-Ur-Urgroßmütter vergessen, diese geifernden Mänaden, diese Lärmkanaillen, rachsüchtig, blutwütig, böse. So lange bliesen die auf ihren Hörnern und schrieen und schlugen Krach, bis Orpheus’ Gesang nicht mehr verfing und sie den Sänger schlachten konnten. Auf der Mariza schwammen alsbald die marmorweißen Körperstücke, schwamm das immerfort singende Haupt des Orpheus vorbei an Buchenwäldchen und Weidengehölzen, vorbei an Haselsträuchern und Pappeln, es schwamm und schwamm das schöne Haupt meerzu und fort. Fort aus diesem Malefizland, damals noch Thrakien geheißen....

Erscheint lt. Verlag 16.11.2010
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Belletristische Darstellung • Brüder-Grimm-Professur 2013 • Bulgarien • Deutsche • Georg-Büchner-Preis 2013 • Herkunftsland • Reise • ST 4180 • ST4180 • suhrkamp taschenbuch 4180 • Vater • Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2011
ISBN-10 3-518-74350-3 / 3518743503
ISBN-13 978-3-518-74350-8 / 9783518743508
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