Die Handschrift von Saragossa (eBook)

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2012 | 1. Auflage
960 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9155-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Handschrift von Saragossa -  Jan Graf Potocki
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Das Kultbuch der Kultbücher, das Tausendundeine Nacht des Abendlandes - 66 abenteuerliche und schaurige Tage voller Phantastik, Kabbalistik, Komik und Erotik -, neu ergänzt mit einem ausführlichen Nachwort von René Radrizzani. In formaler Anlehnung an Tausendundeine Nacht und Bocaccios Decamerone hat Jan Graf Potocki seinen Roman in die Erzählungen von 66 Tagen unterteilt, in denen der junge Hauptmann van Worden die Sierra Morena überquert, um in Madrid seinen Dienst anzutreten. Auf diesem Weg wird er nicht bloß in schaurige Abenteuer verwickelt, sondern darüber hinaus in die Erzählung von anderen Abenteuern ähnlicher, häufig erotisch-phantastischer Natur. Die Schauergeschichten entpuppen sich als das Machwerk der Gomolez, eines einst aus Granada verstoßenen Geschlechts, das einen neuen Führer braucht und hofft, ihn in van Worden zu finden, dessen Tauglichkeit sie auf die Probe stellen wollen.Diese Rahmenhandlung bildet das Gerüst für eine faszinierende Erzählkonstruktion ineinander verschachtelter Geschichten (aus der ersten erwächst die zweite, aus der zweiten die dritte ...). Potockis grandioser Roman bietet nicht nur eine verblüffende Sammlung unzähliger Erzählgattungen, sondern sprengt auch ideen- und geistesgeschichtlich jeden Rahmen.

Jan Graf Potocki, geboren 1761, war polnischer Adliger, progressiver Citoyen, Offizier und Historiker, Literat und Forschungsreisender. Seine einzige Spezialisierung war sein erstaunliches Generalistentum, das zu einer beeindruckenden geistigen Horizontbreite führte. Potocki erschoss sich 1815 mit einer eigenhändig zurechtgefeilten Silberkugel.

ERSTER TAG

Der Graf von Olavidez hatte in der Sierra Morena noch keine Siedlungen begründet; diese hochragende Bergkette, die Andalusien von der Mancha trennt, war damals nur bewohnt von Schmugglern, Räubern und ein paar herumstreifenden Zigeunern, die angeblich die Reisenden, die sie ermordet hatten, verzehrten; daher das spanische Sprichwort: Las gitanas de Sierra Morena quieren carne de hombres.

Das ist noch nicht alles. Der Reisende, der sich in dieses wilde Land traute, sah sich dort, heißt es, von tausend Schrecken bedrängt, die auch den dreistesten Mut erstarren lassen konnten. Er mußte hören, wie sich in das Tosen der Gießbäche und das Heulen des Sturms erbärmliche Klagerufe mischten, trügerische Lichter führten ihn in die Irre, und unsichtbare Hände stießen ihn in bodenlose Abgründe.

Zwar lagen an dieser heillosen Straße weit verstreut einige einsame ventas oder Herbergen, aber Gespenster, die teuflischer waren als die Wirte selbst, hatten diese gezwungen, ihnen ihre Stelle zu überlassen und sich in Länder zurückzuziehen, wo ihre Ruhe nur noch von den Vorhaltungen ihres Gewissens gestört wurde – eine Art Schemen, mit denen die Wirte sich arrangiert haben; der Wirt von Andújar rief den Heiligen Jakobus von Compostela als Zeugen für die Wahrheit dieser unglaublichen Geschichten an. Er fügte schließlich hinzu, daß die Schergen der Heiligen Hermandad sich geweigert hätten, irgendwelche Aufträge für die Sierra Morena zu übernehmen, und daß die Reisenden die Straße über Jaen oder durch die Estremadura einschlügen.

Ich erwiderte ihm, daß diese Wahl wohl gewöhnlichen Reisenden genehm sein möge, aber da der König Don Philipp V. die Gnade gehabt habe, mich mit dem Hauptmannspatent bei den Wallonischen Garden zu beehren, schrieben mir die heiligen Gesetze der Ehre vor, mich auf dem kürzesten Wege nach Madrid zu verfügen, ohne danach zu fragen, ob es etwa der gefährlichste sei.

»Mein junger Herr«, erwiderte der Wirt, »Euer Gnaden werden mir die Bemerkung erlauben, daß es, wenn der König Euch mit einer Gardekompanie beehrt hat, bevor die Jahre das Kinn von Euer Gnaden mit dem leichtesten Flaum beehrt haben, nützlich wäre, Beweise Eurer Umsicht zu erbringen; nun sage ich aber, wenn die bösen Geister sich eines Landes bemächtigen …«

Er hätte noch mehr gesagt, aber ich gab meinem Pferd die Sporen und zügelte es erst wieder, als ich mich außer Reichweite seiner Vorhaltungen glaubte. Als ich mich dann umdrehte, sah ich ihn immer noch gestikulieren und mir von weitem die Straße zur Estremadura weisen. Mein Diener López und Mosquito, mein zagal, sahen mich erbärmlich an, was ungefähr dasselbe ausdrückte. Ich gab mir den Anschein, als verstände ich sie nicht, und dort, wo seither die Siedlung La Carlota errichtet wurde, ritt ich in die Heide hinaus.

Damals gab es an der Stelle, wo heute das Posthaus steht, eine Hütte, den Maultiertreibern wohlbekannt, die sie Los Alcornoques oder die Steineichen nannten, weil dort eine ergiebige Quelle, die sich in einen Marmortrog ergoß, von zwei schönen Bäumen dieser Art beschattet wurde. Dies war das einzige Wasser und der einzige Schatten zwischen Andújar und der Herberge, die Venta Quemada hieß. Diese Herberge war mitten in einer Einöde errichtet, aber sie war groß und geräumig. Eigentlich war sie eine alte Maurenburg, die der Marqués von Peña Quemada wieder hatte herrichten lassen, und daher hatte sie den Namen Venta Quemada. Der Marqués hatte sie einem Bürger von Murcia verpachtet, der darin ein Gasthaus eingerichtet hatte, das ansehnlichste überhaupt an dieser Straße. Die Reisenden brachen also morgens in Andújar auf, speisten in Los Alcornoques von den mitgebrachten Vorräten und schliefen dann in der Venta Quemada. Oft verbrachten sie dort auch noch den nächsten Tag, um sich auf die Überquerung der Berge vorzubereiten und neue Vorräte zu beschaffen. Nichts anderes beabsichtigte auch ich zu tun.

Doch als wir uns schon den Steineichen näherten und ich mit López von der kleinen Mahlzeit sprach, die wir dort einnehmen wollten, bemerkte ich, daß Mosquito mit dem Maultier, das unsere Vorräte trug, nicht mehr bei uns war. López sagte, der Bursche sei etwa hundert Meter zurückgeblieben, um etwas am Packsattel seines Tiers in Ordnung zu bringen. Wir warteten auf ihn, gingen dann ein paar Schritte weiter, blieben stehen, um wieder auf ihn zu warten, riefen nach ihm, kehrten dann um, um ihn zu suchen: alles umsonst. Mosquito war verschwunden und hatte unsere teuersten Hoffnungen, das heißt unser ganzes Mittagessen, mitgenommen. Ich war der einzige mit nüchternem Magen, denn López hatte immerfort an einem Tobosaner Käse geknabbert, den er eingesteckt hatte, aber er war deswegen um nichts aufgeräumter und knurrte zwischen den Zähnen hervor, daß der Wirt von Andújar schon ganz recht gehabt habe und daß die bösen Geister den unglücklichen Mosquito gewiß entführt hätten.

Als wir in Los Alcornoques ankamen, fand ich auf der Tränke einen mit Weinlaub gefüllten Korb; er war offenbar mit Früchten gefüllt gewesen und von einem Reisenden vergessen worden. Neugierig durchwühlte ich ihn und fand zu meinem Vergnügen vier schöne Feigen und eine Orange. Ich bot López zwei Feigen an, aber er schlug sie aus und meinte, er könne bis zum Abend warten; ich aß also alle Früchte auf, worauf ich an der Quelle, die gleich daneben lag, meinen Durst stillen wollte. López hielt mich zurück und meinte, nach den Früchten werde mir das Wasser schaden, und er könne mir einen Rest Alicantewein anbieten. Ich nahm das Angebot an, aber kaum war der Wein in meinen Magen gelangt, so verspürte ich einen starken Druck auf dem Herzen. Himmel und Erde drehten sich um mich, und ich wäre sicher in Ohnmacht gefallen, wenn López mir nicht schleunigst zu Hilfe gekommen wäre; er sorgte dafür, daß ich mich von der Schwäche erholte, und sagte, ich solle nicht darüber erschrecken, da sie nur eine Wirkung der Müdigkeit und Entkräftung sei.

Tatsächlich fand ich mich nicht nur wiederhergestellt, sondern sogar von so viel Kraft und Tatendrang belebt, daß es schon sonderbar war. Das Land, schien mir, leuchtete in den lebhaftesten Farben; die Dinge funkelten vor meinen Augen wie die Sterne in der Sommernacht, und das Blut klopfte mir in den Adern, vor allem an Schläfen und Hals.

Als López sah, daß mein Unwohlsein folgenlos blieb, konnte er sich nicht enthalten, wieder mit seinem Gejammer anzufangen:

»Ach«, sagte er, »warum habe ich mich nicht auf Fray Gerónimo de la Trinidad verlassen, den Mönch, Prediger, Beichtiger und das Orakel unserer Familie. Er ist der Schwager des Schwiegersohns der Schwägerin des Schwiegervaters meiner Stiefmutter, und da er also der nächste Verwandte ist, den wir haben, geschieht nichts in unserem Haus ohne seinen Rat. Ich wollte nicht auf ihn hören und empfange dafür die gerechte Strafe. Er hatte mir schon oft gesagt, daß die Offiziere der Wallonischen Garden ein ketzerischer Haufen sind, was man ja leicht an ihren blonden Bärten, an den blauen Augen und den roten Backen erkennt, während die wirklichen Christen die Farben Unserer lieben Frau von Atocha haben, wie sie der Heilige Lukas gemalt hat.«

Ich brachte diesen Sturzbach von Unverschämtheiten zum Versiegen, indem ich López befahl, mir meine Doppelbüchse zu geben und bei den Pferden zu bleiben, während ich auf einen nahe gelegenen Felsen steigen wollte, um zu versuchen, Mosquito oder wenigstens eine Spur von ihm zu entdecken. Auf diese Ankündigung hin brach López in Tränen aus, warf sich vor mir auf die Knie und beschwor mich im Namen aller Heiligen, ihn an einem von so viel Gefahren bedrohten Ort nicht allein zu lassen. Ich erbot mich, selbst die Pferde zu hüten, während er auf Erkundung ginge, aber diese Rolle erschien ihm noch fürchterlicher. Ich nannte ihm indessen so viele gute Gründe dafür, Mosquito zu suchen, daß er mich gehen ließ. Er zog einen Rosenkranz aus der Tasche und begann bei der Tränke zu beten.

Die Gipfel, die ich ersteigen wollte, waren weiter entfernt, als ich gedacht hatte. Ich brauchte fast eine Stunde, um hinaufzugelangen, und oben sah ich immer noch nichts als die unbewohnte, wilde Ebene: keine Spur von Menschen, Tieren oder Behausungen, kein Weg als die Straße, auf der ich gekommen war, und auch auf ihr zeigte sich niemand; überall absolute Stille. Ich unterbrach sie mit meinen Rufen, die das Echo aus der Ferne zurückwarf. Schließlich kehrte ich wieder zur Tränke zurück und fand dort mein Pferd, das an einem Baum angebunden war; López jedoch war verschwunden.

Ich hatte zwei Möglichkeiten: nach Andújar zurückzukehren oder die Reise fortzusetzen. Die erstere Möglichkeit fiel mir nicht einmal ein. Ich schwang mich aufs Pferd, trieb es zum stärksten Trab an und gelangte nach zwei Stunden an die Ufer des Guadalquivir, der dort...

Erscheint lt. Verlag 1.1.2012
Übersetzer Manfred Zander
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Schlagworte 1001 Nacht • 18. Jahrhundert • Abendland • Abenteuer • Decamerone • Erotik • Erzählungen • Geschichten • Handschrift von Saragossa • Historischer Roman • Jan Graf Potocki • Kabbalistik • Klassiker • Komik • Kult • Kultbuch • Kulturgeschichte • Phantastik • Roman • Sammlung • Tausendundeine Nacht • van Worden
ISBN-10 3-0369-9155-7 / 3036991557
ISBN-13 978-3-0369-9155-9 / 9783036991559
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