Die Unperfekten (eBook)

Roman

(Autor)

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2012 | 1. Auflage
400 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-40900-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Unperfekten -  Tom Rachman
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Ein zutiefst menschlicher Roman über eine liebenswerte Truppe von Lebens- und Überlebenskünstlern  Was, wenn ein Zeitungserbe seinem Basset mehr Interesse entgegenbringt als dem Schicksal seines Blattes? Was wird aus der unglückseligen Ruby (alleinstehend, immer auf der Suche nach dem Mann fürs Leben)? Aus Ed, der gefeuert wird und sich an der zuständigen Sachbearbeiterin (alleinerziehend, drei Kinder und keine Zeit für die Liebe) rächt? Aus der Chefredakteurin Kathleen (verheiratet mit einem Weichei und verliebt in einen anderen)? Und aus Lloyd, der, einsam wie ein Straßenhund, aus Not eine Story erfindet und auffliegt? Rachmans wunderbar hintergründiger, ernst-komischer Gesellschaftsroman über eine internationale Tageszeitung und ihre Macher in Rom ist von bezwingender Leichtigkeit und ein Panoptikum unserer Zeit. »Dieser Roman von Tom Rachman ist so gut, dass ich ihn zweimal lesen musste - einfach, um zu begreifen, wie er das hingekriegt hat, wie einer, der gerade mal fünfunddreißig ist, ein derartiges Gespür für Menschen und ihre Schwächen haben kann.« Christopher Buckley, The New York Times Book Review  

Tom Rachman, geboren 1974 in London, wuchs in Vancouver auf. Er war Auslandskorrespondent der Associated Press in Rom, die ihn u. a. nach Japan, Südkorea, Ägypten und in die Türkei entsandte. Später arbeitete er als Redakteur des International Herald Tribune in Paris. Rachmans erster Roman >Die Unperfekten< wurde gleich nach Erscheinen zu einem internationalen Bestseller. Er lebt mit seiner Familie in London.

Tom Rachman, geboren 1974 in London, wuchs in Vancouver auf. Er war Auslandskorrespondent der Associated Press in Rom, die ihn u. a. nach Japan, Südkorea, Ägypten und in die Türkei entsandte. Später arbeitete er als Redakteur des International Herald Tribune in Paris. Rachmans erster Roman ›Die Unperfekten‹ wurde gleich nach Erscheinen zu einem internationalen Bestseller. Er lebt mit seiner Familie in London.

MIT 126: ÄLTESTER LÜGNER DER WELT GESTORBEN


Arthur Gopal, Nachrufe

FRÜHER HATTE ARTHURS BÜROKABUFF GLEICH HINTER dem Wasserspender gelegen, aber irgendwann waren es die Chefs leid, immer, wenn sie Durst hatten, mit ihm plaudern zu müssen. Und so blieb der Wasserspender da und Arthur zog um. Jetzt ist sein Arbeitsplatz irgendwo hinten in der Ecke, so weit wie möglich entfernt vom Zentrum der Macht, aber näher am Schrank mit den Stiften, was durchaus tröstlich ist.

Wenn Arthur den Dienst antritt, sackt er auf den rollenden Drehstuhl und sitzt erst mal da. Und zwar so lange, bis Trägheit und der Fortbestand seines Angestelltendaseins nicht länger vereinbar sind. Erst dann wurschtelt er sich aus dem Mantel, schaltet den Computer an und geht die aktuelle Nachrichtenlage durch.

Niemand gestorben. Beziehungsweise doch, 107 Menschen in den letzten Minuten, 154 000 in den letzten vierundzwanzig Stunden und 1 078 000 in der letzten Woche. Aber niemand von Bedeutung. Das ist gut – Arthur hat seit neun Tagen keinen Nachruf mehr schreiben müssen, er hofft, dass diese Glückssträhne anhält. Sein überragendes Arbeitsziel ist das Nichtstun – so selten wie möglich einen eigenen Text im Blatt haben und sich davonschleichen, wenn niemand guckt. Diese professionellen Ambitionen setzt er fabelhaft um.

Er klappt einen Aktenordner auf, damit er, falls irgendjemand vorbeikommt, in Papieren blättern, gereizt hochsehen und murmeln kann: »Man muss auf alles vorbereitet sein!« Das schreckt nämlich die meisten Kollegen ab. Leider nicht alle.

Clint Oakley steht plötzlich hinter ihm, und Arthur ruckelt auf dem Stuhl herum, als ob er in einem Würgeeisen klemmt. »Clint! Hallo. Morgen. Hab die Agenturen durch. Nichts, was unbedingt sein muss. Finde ich jedenfalls. Bis jetzt.« Er hasst sich für seinen hündischen Rechtfertigungsdrang gegenüber Vorgesetzten. Er könnte doch einfach die Klappe halten.

»Hast du’s nicht gesehen?«

»Was gesehen?«

»Soll das ’n Witz sein?« Clint ist Spezialist für Befragungen, die so einschüchternd wie unverständlich sind. »Liest du keine E-Mails? Werd mal wach, du Schwuchtel.« Er klopft auf Arthurs Monitor, als wäre der ein Totenschädel. »Jemand zu Hause?« Clint Oakley ist Arthurs Chef, ein schuppenrieselnder, baseballbesessener, sexuell verbohrter Mann aus Alabama mit einem Schnauzer wie eine Klobürste und außerstande, jemandem in die Augen zu sehen. Er ist auch Ressortleiter Kultur, eine im Grunde genommen groteske Fehlbesetzung. »Rectum«, sagt er und meint offenbar Arthur, bevor er in sein Büro zurückschlurft.

Wenn uns die Geschichte eins lehrt, grübelt Arthur, dann, dass Männer mit Schnauzern niemals auf Machtpositionen sitzen dürfen. Betrüblicherweise hat sich die Zeitung nicht an diese Binsenweisheit gehalten, denn Clint sitzt außerdem auf sämtlichen Sonderseiten und auf den Nachrufen. Neulich hat er Arthur mit endlosen Aufträgen überschüttet, er darf jetzt auch noch die täglichen Rubriken HEUTE IN DER GESCHICHTE, HIRNAKROBATIK, RÄTSEL-BREZEL, EINMAL GUT GELACHT AM TAG und WELT-WETTER bauen, zusätzlich zu seinen regulären Nekrologenpflichten.

Arthur findet die E-Mail, auf die Clint angespielt hatte. Sie kommt von Kathleen Solson. Die Chefredakteurin will im Fall Gerda Erzberger auf alles vorbereitet sein, was heißt: Nachruf, noch zu Lebzeiten verfasst, auf Halde zu halten. Wer um Himmels willen ist das? Er geht ins Internet. Gerda Erzberger war offenbar eine österreichische Intellektuelle, von Feministinnen erst gepriesen, dann verfemt, schließlich vergessen. Was interessiert das denn die Zeitung, wenn die im Sterben liegt? Nun, Kathleen hat zu Collegezeiten zufällig Erzbergers Memoiren gelesen. Und Nachrichtenwert ist, wie Arthur weiß, oft bloß eine höfliche Umschreibung für die Marotten von Chefredakteuren.

Und schon ist Kathleen da und will über den Nachruf reden.

»Ich bin gerade dran«, sagt Arthur vorsichtshalber.

»An Gerda?«

»Gerda … Sie kennen sie persönlich?« Wenn jetzt ein Ja kommt, wird es noch tückischer.

»Nicht gut. Hab sie ein paarmal bei Veranstaltungen getroffen.«

»Also keine Freundin«, probiert er hoffnungsvoll. »Für wie dringlich halten Sie es denn?« Was nichts anderes heißt als, wann beabsichtigt sie, das Zeitliche zu segnen.

»Weiß nicht«, antwortet Kathleen. »Sie geht nicht zum Arzt.«

»Ist das gut oder schlecht?«

»Nun ja, bei Krebs gilt das als weniger aussichtsreich. Hören Sie, ich möchte, dass wir das mal so machen, wie es sich gehört. Ich gebe Ihnen Zeit, damit Sie sich ein Interview holen können, fahren Sie zu ihr und so weiter, anstatt irgendwelche Zeitungsausschnitte zusammenzubasteln.«

»Wohin denn rauf?«

»Sie wohnt außerhalb von Genf. Lassen Sie sich die Reise von den Sekretärinnen organisieren.«

Reisen heißt Anstrengung und eine Nacht von zu Hause weg. Öde. Und nichts ist schlimmer als Interviews für Nachrufe. Man darf nie durchblicken lassen, wofür man da recherchiert, denn die Interviewten neigen dann zu Nervenkrisen. Arthur erzählt immer, er schreibe an einem »Porträt«. Er lockt den moribunden Interviewten aus der Reserve, lässt sich alle notwendigen Fakten bestätigen und sitzt den Rest der Zeit ab und tut so, als ob er mitschriebe, schmort in Schuldgefühlen, lässt hin und wieder ein »Außergewöhnlich!« oder »Sie sind wirklich …?« fallen. Er weiß ja, wie wenig davon gedruckt wird – Nachrufe sind Jahrzehnte eines Menschenlebens eingedampft auf ein paar Absätze und auf Seite neun unten zur endgültigen Ruhe gebettet, zwischen RÄTSEL-BREZEL und WELT-WETTER.

 

Mit solch düsteren Gedanken schleicht sich Arthur aus der Redaktion, um seine Tochter von der Schule abzuholen. Pickle, acht Jahre alt, kommt aus dem Tor, die Schulmappe um den Hals gehängt, die Arme an den Seiten schlenkernd, den runden Bauch vorgeschoben, den Blick hinter der Brille auf nichts Bestimmtes fokussiert, mit losen Schnürsenkeln, die bei jedem Schritt mitschlackern. »Antiquitäten?«, fragt Arthur, und Pickle schiebt ihre Hand in seine und drückt sie zur Bestätigung. So Hand in Hand zockeln sie zur Via dei Coronari. Er mustert sie von oben, die wuscheligen schwarzen Haare, ihre kleinen Ohren, die dicken Brillengläser, durch die sich die Pflastersteine verbiegen und aufblähen. Sie plappert leise vor sich hin und schnaubt vor Vergnügen. Sie ist wunderbar eigenbrötlerisch, und das wird sich hoffentlich nie ändern. Er wäre geradezu bekümmert, wenn sie cool wäre – als wäre sie nicht aus seinem Fleisch und Blut.

»Dein Aussehen«, sagt er, »erinnert an das eines Schimpansen.«

Sie summt weiter leise vor sich hin und geht nicht darauf ein. Eine Minute später sagt sie: »Und du erinnerst mich an einen Orang-Utan.«

»Da fällt mir kein Gegenargument ein. Übrigens«, setzt er nach, »aber mir ist was anderes eingefallen: Tina Pachootnik.«

»Sag noch mal.«

»Pachootnik. Tina.«

Sie schüttelt den Kopf. »Kann man nicht aussprechen.«

»Gefällt dir denn wenigstens Tina?«

»Das könnte ich in Erwägung ziehen.«

Pickle sucht schon lange nach einem Pseudonym, nicht für einen bestimmten Zweck, sondern weil es ihre Fantasie beflügelt. »Wie wär’s mit Zeus.«

»Leider vergeben. Andererseits ist der schon so lange hinüber, dass es kaum Verwirrung stiften dürfte. Meinst du einfach nur so – ›Zeus‹ und sonst nichts –, oder soll’s ›Zeus Sowieso‹ sein?«

Sie öffnet ihr pummeliges Fäustchen in seiner trockenen, kühlen Hand, und er lässt es los. Eine Weile latscht sie etwas abseits und fällt dabei über ihre Füße, ganz in Gedanken, für sich. Dann huscht sie wieder zu ihm, verhakt ihre Finger mit seinen und sieht mit missmutig geblähten Nüstern zu ihm hoch.

»Was denn?«

»Frosch.«

»Verboten«, sagt er. »Frosch ist ein Name für Jungs.«

Sie zuckt mit den Schultern, eine merkwürdig erwachsene Reaktion für ein so kleines Mädchen.

Sie gehen in einen der überquellenden Antiquitätenläden auf der Via dei Coronari. Die Mitarbeiter beäugen sie streng. Arthur und Pickle kommen oft vorbei, kaufen aber nie etwas, abgesehen von dem einen Mal, als Pickle eine Kaminuhr anrempelte und Arthur sie bezahlen musste.

Sie zeigt auf ein Telefon aus den zwanziger Jahren.

»Man hält das Teil da ans Ohr«, erklärt er, »und spricht in das andere.«

»Aber wie ruft man denn damit an?«

Arthur steckt einen Finger in die Wählscheibe und dreht sie geräuschvoll. »Hast du wirklich noch nie so ein Telefon gesehen? Mein Gott, als ich klein war, gab es nichts anderes. Stell dir mal vor, wie man sich darum zanken musste! Harte Zeiten, meine Liebe, harte Zeiten.«

Sie kräuselt die Lippen und macht einen Schlenker, um eine Marc-Aurel-Büste unter die Lupe zu nehmen.

 

Zu Hause schmiert Arthur ihr ein Nutella-Brot. Das isst sie jeden Nachmittag am Küchentisch, mit baumelnden Beinen und sich ausbreitenden Schokoladenklecksen unter der Nase.

Er bricht die Brotkruste ab und stopft sie sich in den Mund. »Papa-Tribut«, erklärt er kauend. Sie hat nichts dagegen.

Als Visantha draußen vorfährt, schlingt Pickle hastig den letzten Bissen hinunter, und Arthur wäscht rasch den verschmierten Teller ab – es ist, als wäre ein Lehrer im Anmarsch.

»Wie war die Arbeit?«, fragt...

Erscheint lt. Verlag 1.4.2012
Übersetzer Pieke Biermann
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte eBook • Gegenwartsliteratur • Gesellschaftsroman • Journalismus • Journalisten • Journalistenmilieu • Journalistenroman • Literatur • Medienbranche • Medienkrise • Medienroman • Printmedien • Rom • Tageszeitung • Zeitungmachen • Zeitungsgeschäft • Zeitungsmilieu • Zeitungsredaktion
ISBN-10 3-423-40900-2 / 3423409002
ISBN-13 978-3-423-40900-1 / 9783423409001
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