New Brunswick, Kanada. Ein kleines Haus am Rande einer zerklüfteten Steilküste. Hier leben die Schwestern Idella und Avis nach dem Tod der Mutter allein mit ihrem chaotischen Vater. In einer Welt, die aus nichts als Kartoffelfarmen, Hummerfallen, rauen Männern und harter Arbeit zu bestehen scheint. Wäre da nicht die liebenswerte Maddie, das französischsprachige Dienstmädchen, das sich nach einer Familie sehnt und aus alten Lumpen eine Puppe zusammennäht, die ihr Ein und Alles ist. Und der schrullige Doktor, der ein schreckliches Geheimnis hütet. Und natürlich Avis' störrische Kuh Bossy, die eines Tages beinahe im Schlamm versinkt. Über sieben Jahrzehnte hinweg begleiten wir die unvergesslichen Schwestern von Kanada nach Neuengland, wo Idella in ihrem Gemischtwarenladen in Maine kauzige Einheimische bedient, während ihr Mann anderen Frauen nachstellt. Und wo Avis an einem stürmischen Wintertag etwas ganz Entscheidendes verliert ...
Beverly Jensen wurde in Westbrook, Maine, geboren. Bevor sie mit dem Schreiben begann, studierte sie Schauspiel an der Southern Methodist University. Zwischen 1986 und 2003 schrieb sie mit Hingabe an den Hummerschwestern, während sie gemeinsam mit ihrem Mann Jay ihre beiden Kinder großzog und halbtags in einem Büro in New York City arbeitete. Als Beverly Jensen im Alter von neunundvierzig an Bauchspeicheldrüsenkrebs starb, hatte sie noch kein Wort ihres Textes publiziert. Es waren ihre Familie und einige begeisterte Unterstützer, die »Die Hummerschwestern« schließlich als Buch veröffentlichten. Und die so dazu beitrugen, dass Beverly Jensen nach ihrem Tod der literarische Ruhm zuteil wurde, der ihr schon zu Lebzeiten gebührt hätte.
Fort
Chaleur-Bucht, New Brunswick
April 1916
Sie hatten ihre Schuhe mit den Schnürsenkeln an eine einsame Ulme gehängt, bevor sie in den Wald hinterm Feld gingen. Beide Mädchen waren froh, sie los zu sein und den kühlen Morast des Frühlings unter ihren nackten Fußsohlen zu spüren. Während des langen kanadischen Winters waren ihre Füße gewachsen. Ihre Schuhe, abgelegte Kleidungsstücke entfernter Cousinen, waren immer noch von den Abdrücken der fremden Füße geformt und engten ihre Zehen ein.
»Wie weit wollen wir noch reingehen, Della? Meine Füße frieren.«
»Du möchtest doch Maiblumen für Mutter pflücken, oder?«
»Ja.« Avis hatte sich auf einen morschen Baumstamm gehockt, die Knie gespreizt wie die Beine eines Grashüpfers.
»Dann los.« Idella schob sich einen Himbeerzweig aus dem Gesicht und ging weiter.
»An mir kleben überall diese verdammten Kletten.«
Idella drehte sich um. »Gott, du siehst aus wie ein Stachelschwein.« Sie begann, die dornigen Büschel aus den Falten von Avis’ Kleid zu zupfen.
Auch das Kleid war schon von irgendeiner Cousine getragen – wahrscheinlich von einem der Mädchen von Tante Eva aus Maine. Avis wrang den Rock wie einen Waschlappen aus, um an die Stacheln zu gelangen, die sich in ihre mageren Beine bohrten. »Ich hab genug an mir, um einen ganzen Kübel vollzubekommen.«
»Du hast sogar welche im Haar.«
»Wie kommt es, dass du keine hast?«
»Ich pass auf, wo ich hintrete.« Idella blickte nach vorne. »Komm weiter. Es ist schon bald Zeit zum Abendessen.«
»Wird Mutter noch viel runder?«
»Ich glaube, das geht gar nicht. Das Baby kommt jeden Augenblick.«
»Dann werde ich nicht länger das Baby sein«, sagte Avis.
»Du bist fast sechs. Du bist kein Baby mehr.«
Sie marschierten nebeneinanderher, schoben buschige Sträucher zurück, stiegen über Wurzeln und umgestürzte Bäume und matschige Pfützen, von denen der Geruch nach Frühling aufstieg, bis sie eine kleine Lichtung erreichten. Avis lehnte sich gegen einen großen, moosbedeckten Stein. Idella ging in die Hocke und suchte unter den raschelnden Pflanzenresten des Vorjahres nach grünen Trieben.
»Mutter hat gesagt, man soll am Rand von Lichtungen nach ihnen suchen.«
Avis rümpfte die Nase. »Irgendwas ist hier in der Nähe gestorben. Es stinkt.«
»Deine Füße. Du bist in was getreten.«
Avis hob den Fuß an die Nase und lachte. »Oh, stimmt. Willst du mal riechen?« Sie streckte das Bein in Idellas Richtung.
»Hör auf!« Idella ließ den Blick über die Lichtung schweifen, die fast vollständig von Himbeersträuchern bedeckt war. Sie ging am Rand entlang zu etwas, das zwischen den niedrigen Steinen wie ein Blaubeerbusch aussah. Da bemerkte sie die kleinen weißen Blüten. »Avis, da sind Maiblumen!«
Avis rannte ihr hinterher. »Wo? Wo sind welche?«
Beide Mädchen beugten sich über die kleine Stelle mit Blumen, die wie winzige Motten zwischen den Rankgewächsen herumflatterten. »Mutter sagt, wenn sie etwas Sonne abkriegen, öffnen sie sich zum Maifeiertag. Jetzt sind sie zu, weil kein Licht da ist.« Sanft betastete Idella eine Blüte. »Ganz kleine weiße Dinger …«
Avis streckte sich, um einen Stängel abzubrechen. »Lass uns welche pflücken.«
»Nein!« Idella packte ihre Hand. »Sie würden verwelken. Wir holen sie morgen früh. Dann ist Maifeiertag.«
»Was, wenn sie fort sind? Was, wenn sie jemand pflückt?«
»Wer soll sie denn pflücken?« Idella stand auf. »Und tritt nicht drauf. Es sind nicht viele.«
»Wofür hältst du mich, für ein Pferd?«
»Manchmal schon.«
Avis lachte, hielt einen Fuß über die Blumen und streckte das Bein zur Seite. »Pssssss!«
»Avis!« Idella kicherte und hob ihren Rocksaum. Sie galoppierte voraus. »Oder vielleicht auch für einen Hornochsen!«
Avis prustete. Wenn sie über etwas lachte, platzte es einfach so aus ihr heraus. Dad nannte es »Nasenpupse«, und wenn er das sagte, prustete Avis noch lauter.
»Jetzt komm schon!«, rief Idella über die Schulter. »Das Abendessen, wir sind spät dran.«
Atemlos und lachend, sich gegenseitig zwickend und kneifend und mit Wörtern beschimpfend, die sie die Männer hatten benutzen hören – »verfluchte Scheiße«, »Armleuchter«, »verdammter Franzmann« –, tauchten die Mädchen triumphierend aus dem Wald auf. Der Himmel dehnte sich milchig weiß. Es dämmerte. Licht sickerte durch die Wolken, hinterließ sanfte graue Streifen und blauschwarze Kleckse. Die Mädchen hasteten weiter, um vor der Dunkelheit zu Hause zu sein. Sie fanden ihre zurückgelassenen Schuhe, die wie betrunkene Krähen an ihren Schnürsenkeln baumelten, und rannten über die flachen, kratzigen Felder zum Abendessen nach Hause.
»Wo zum Teufel habt ihr beide gesteckt?« Dad stand mitten in der Küche, groß und aufrecht wie eine Heugabel. Sie waren viel zu spät. »Noch fünf Minuten länger, und es würde kein Abendessen für euch zwei geben, verdammt noch mal.«
»Lass sie in Ruhe, Bill.« Mutter trug langsam die Teller zum Tisch. Sie musste sie weit vor sich halten, so groß war ihr Bauch. »Della, du deckst den Tisch zu Ende.«
Mutters Stimme klang erschöpft. Dad setzte sich an den Tisch. Dalton, mit zwölf der Älteste und der einzige Junge, saß bereits auf seinem Platz, starrte nach unten, obwohl nichts vor ihm stand. Niemand sagte etwas. Jeder spürte, dass es besser wäre zu schweigen. Immer noch schwer atmend vom Laufen, verteilte Idella die Teller und setzte sich auf ihren Stuhl. Mutter, die vor dem Ofen stand, drehte sich zu Dad um. »Bring bitte den Topf für mich zum Tisch, Bill.«
Dann ging sie in ihre Vorratskammer, eine kleine Nische, die vom Hauptraum abging, und kam mit Dads großem Messer zurück. »Hier ist dein verdammtes Messer.« Sie legte es vor ihn hin. »Und jetzt gib mir deinen Teller, Della – den von Avis auch.« Idella reichte Mutter die Teller, und diese schöpfte Eintopf erst auf den einen, dann auf den anderen und reichte sie zurück. Es war Hühncheneintopf mit Karotten und Kartoffeln. Das war etwas Besonderes, ein Huhn zu schlachten. »Und jetzt, Dalton, gib mir deinen.«
Dad schnappte sich den Teller, als er bei ihm ankam. »Ich arbeite den ganzen verfluchten Tag, reiße mir den Arsch auf und muss wie ein gottverdammter Hund warten? Du würdest diesen faulen Bastard füttern, bevor du mir einen Topf zum Pissen gibst.«
»Beruhig dich, du wirst schon nicht verhungern.« Am Abend musste es einen Streit gegeben haben. Mutter nahm Dad Daltons Teller ab und häufte Eintopf darauf. Idella fürchtete, dass ihr Zuspätkommen der Auslöser gewesen war.
»Jetzt reich mir deinen Teller, Bill.« Sie gab eine Schöpfkelle nach der anderen auf Dads Teller. »Du verdammter Spinner.«
Sie aßen schweigend. Die einzigen Geräusche waren Dads und Daltons Kauen und das Kratzen ihrer Gabeln auf den Tellern.
»Nun iss schon, Della«, sagte Mutter leise.
Idella spießte ein Stück Karotte auf. Sie konnte nie viel essen, wenn Dad schlechte Laune hatte. Dann versuchte sie sich völlig still zu verhalten.
»Wo zum Teufel seid ihr zwei gewesen?«
»Mach doch kein Fass auf, Bill.« Mutters Stimme war müde.
»Ich frag doch bloß, was in Herrgotts Namen sie gemacht haben, während wir hier gesessen und auf sie gewartet haben.« Dad wandte sich an Idella. »Wo seid ihr gewesen, Della?«
»Wir waren spazieren. Im Wald.« Je länger Dad sie ansah, desto mehr beschlich sie das Gefühl, weiterreden zu müssen. »Wir haben … Wir haben etwas gesucht.«
»Es ist ein Geheimnis«, sagte Avis, den Mund voll Eintopf, da sie nicht zu kauen gewagt hatte, seit Dad sie angesprochen hatte. »Es ist ein Geheimnis.«
»Ein Geheimnis?« Dad wandte sich an Avis. »Was für ein Geheimnis?« Idella war unsicher, ob Dad sie jetzt auf den Arm nahm, aber das vermochte sie nie genau zu sagen. Das war es, was es so schwierig machte. Avis gelang es besser als jedem anderen, ihn aus seiner schlechten Laune zu reißen. »Von wem habt ihr das Geheimnis?«
Mutter stand auf. »Lass sie in Ruhe, Bill. Wenn sie ein Geheimnis haben, lass es ihnen. Sie haben weiß Gott sonst nicht viel.« Sie ging zur Speisekammer und kam mit einem Laib Brot zurück.
Auf einmal veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Sie gab ein erschrockenes Geräusch von sich. Langsam legte sie das Brot ab, löste die Schürze, faltete sie und legte sie über den Stuhl. Sie blickte zu Dad, die Hand auf ihrem geschwollenen Bauch. »Bill, meine Fruchtblase ist geplatzt.« Sie drehte sich zu Idella um. »Della, Liebling, du und Avis beendet euer Abendessen und geht dann ins Bett. Das Baby wird bald kommen.« Idella nickte. Mutter ging ins Schlafzimmer und schloss die Tür. Idella sah eine klare Pfütze an der Stelle, wo Mutter gerade noch gestanden hatte, und eine Tropfspur hinter ihr. Sie hatte ein Leck. Irgendwo in ihr drinnen musste ein Beutel mit Wasser gewesen sein, und der war gerade geplatzt. Dad stand auf, folgte Mutter ins Zimmer und schloss die Tür.
»Es dauert nicht mehr lange. Noch ein hungriges Maul, das gestopft werden muss.« Dalton streckte sich und nahm das Brot. Er riss sich ein großes Stück ab.
Dad kam aus dem Schlafzimmer. »Dalton, geh und hol Elsie. Sag ihr, das Baby kommt. Ich hole Mrs. Jaegel.« Ausnahmsweise rannte Dalton einmal, um einer Anordnung seines Vaters Folge zu leisten. Dad ging hinaus, um...
Erscheint lt. Verlag | 23.4.2012 |
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Übersetzer | Beate Brammertz |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Sisters from Hardscrabble Bay |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | eBooks • Frauenromane • Kanada • Liebesromane • Maine • Romane für Frauen • spiegel bestseller |
ISBN-10 | 3-641-07396-0 / 3641073960 |
ISBN-13 | 978-3-641-07396-1 / 9783641073961 |
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