Madame Zhou und der Fahrradfriseur (eBook)

Auf den Spuren des chinesischen Wunders
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2012 | 1. Auflage
359 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-0411-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Madame Zhou und der Fahrradfriseur - Landolf Scherzer
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Scherzer sucht im kleinen Alltag Chinas Größe. Mit deutscher Ungeduld kommst du in China nicht weit, wird Landolf Scherzer gleich zu Beginn seines Aufenthalts gewarnt. Also übt er sich im Straßenverkehr ebenso in Gelassenheit wie bei Geschäftsessen und beim Tempelbesuch. Aber er sieht um so genauer hin, was und wer ihm begegnet. Und er stellt, was kein Chinese wagen würde, jedem vier Fragen, sei es ein taoistischer Priester, Koch, Heiler oder eine Gefängniswärterin: Was ist für Sie ein guter Tag? Was ein schlechter? Was wünschen Sie sich für Ihre Zukunft? Was für die Zukunft Ihres Landes? Der Fremde kann alles fragen, wird aber nicht alles erfahren und noch weniger begreifen, sagt man ihm. Scherzer jedoch gelingt es, selbst diesem fernen Land mit einer höchst originellen Reportage erstaunlich nahezukommen... 'Man lernt eine fremde Stadt nicht durch seine Bauten und Museen, sondern nur durch seine Menschen kennen.'

Landolf Scherzer, 1941 in Dresden geboren, lebt als freier Schriftsteller in Thüringen. Er wurde durch Reportagen wie 'Der Erste', 'Der Zweite' und 'Der Letzte' bekannt.

Im Aufbau Taschenbuch sind ebenfalls seine Bücher 'Der Grenzgänger', 'Immer geradeaus. Zu Fuß durch Europas Osten', 'Urlaub für rote Engel. Reportagen', 'Fänger & Gefangene. 2386 Stunden vor Labrador und anderswo', 'Madame Zhou und der Fahrradfriseur. Auf den Spuren des chinesischen Wunders', 'Stürzt die Götter vom Olymp. Das andere Griechenland', 'Der Rote. Macht und Ohnmacht des Regierens' und 'Buenos días, Kuba. Reise durch ein Land im Umbruch' lieferbar.  Zuletzt erschien bei Aufbau 'Weltraum der Provinzen. Ein Reporterleben' (zusammen mit Hans-Dieter Schütt).

Die Autonummer


ODER:

Yue chao yue you zi wie – Wer lärmt, hat mehr vom Essen

Wir halten vor einer ockerfarbenen Villa mit türgroßen Fenstern. Neben dem Eingang, an dem kein Namensschild zu sehen ist, hängt ein ebenfalls namenloser Briefkasten, den zwei kleine Vögel – einer kommt geflogen und hat einen Zettel im Schnabel – zieren.

Im Haus schaut eine junge Chinesin, die in der Küche einen Berg Geschirr abwäscht, kurz von der Arbeit auf, lächelt mich aus ihrem sehr runden Gesicht an, nickt, als wolle sie mich mit einer kleinen Verbeugung begrüßen, und beugt sich dann wieder über das Abwaschbecken.

Sie ist schlank und trägt Jeans.

»Unsere Ayi, die Putzfrau«, erklärt Klaus. »Sie kommt regelmäßig zwei Mal in der Woche.«

Die Männer dagegen, die, was deutlich zu hören ist, im oberen Stockwerk hämmern und bohren (»In diesem Haus ist immer etwas zu reparieren.«), kämen zwar nicht regelmäßig, aber sehr oft, weil Handwerker in Peking meist keine ausgebildeten Klempner oder Elektriker sind, und ihre Reparaturen nur eine kurze Lebensdauer hätten. Sie gehören zur Millionenschar der Bauern, die als Wanderarbeiter in der Stadt Geld verdienen wollen.

Die zwei Männer tragen gelb-blaue derbe Arbeitsjacken aus Leinen. Der ältere meldet Klaus (so übersetzt er es mir später), dass die Heizung wieder dicht ist.

»Ein schönes Haus«, lobt der Chinese und fügt, als müsste er erst überlegen, ob er mit seinen Worten jemanden kränkt, stockend hinzu: »In diesem Haus könnten mindestens zwanzig Wanderarbeiter untergebracht werden. Für jeden 5 Quadratmeter.«

Als die Putzfrau und die Handwerker gegangen sind, parkt außer dem neuen großen VW von Klaus noch ein kleiner klappriger VW-Santana neben der Haustür. Er gehört Monika, der Ehefrau von Klaus. Obwohl sie täglich gemeinsam in einem Auto zur Arbeit ins Zentrum der Stadt fahren, brauchen sie in Peking zwei Autos, denn jeweils an einem Wochentag muss einer, je nach der Endziffer des Nummernschildes, sein Auto stehenlassen. Am Montag zum Beispiel darf kein Auto mit der Endziffer 1 oder 6 in Peking fahren. Wer sich nicht daran hält, zahlt eine Strafe von 100 Yuan (offiziell als Remenbi/ Volkswährung bezeichnet). Das sind gut 10 Euro.

Klaus rechnet mir vor, dass danach theoretisch in der 17-Millionen-Metropole, in der schon 5 Millionen Autos fahren und monatlich 50 000 neu zugelassen werden, durch diese Regel täglich 1 Million Autos weniger auf den verstopften Straßen unterwegs sein müssten. Theoretisch! Aber praktisch könnte man mit etwas Glück oder Geld für einen Zweitwagen eine andere Endzahl als die 1 oder 6 erhalten und damit an allen Tagen mit dem Auto fahren.

»Einhalten von Regeln bedeutet in China häufig, sie formell zwar zu erfüllen, aber sie dem Sinn nach zu umgehen.«

Empfang in Peking

Er zeigt mir das Haus. Unten befinden sich Flur, Bad, Küche, ein großes Wohnzimmer und die Veranda. Oben gibt es ein zweites Bad und drei kleine Zimmer. Im Wohnzimmer stehen auf Regalen und Fensterbrettern, auf Schränkchen und in allen freien Ecken des Fußbodens große und kleine, dicke goldene und dünne dunkelfarbene Buddhas aus Ton oder Bronze. Und an den Wänden hängen bunte chinesische Drachen, Masken und pastellfarbene Tuschzeichnungen.

»Das sammelt meine Frau.«

Über die Glasveranda gelangt man in den Garten, in dem auf braunem, vertrocknetem Gras winterlich kahle Sträucher und zwar angebundene, aber nicht mehr sehr lebensfähig aussehende Bäumchen stehen. Als ich durch die Terrassentür in den Garten gehe, erschrecke ich vor einem bisher nicht sichtbaren, mich überragenden Krieger aus Terrakotta, der einen mit roten Kordeln verzierten Spieß in der Hand hält. Er ist gelb, extrem schlitzäugig und hat den Schnurrbart spitz nach oben gezwirbelt, was gefährlich aussieht.

In einer Eckes des Gartens verkümmert ein mickriger Tannenbaum, dessen mit Erde verkrustete Wurzeln mit einem Netz zusammengehalten werden. Neben ihm ist ein Loch ausgehoben.

»Diese Krücke von einem Weihnachtsbaum hat unser Gärtner angeschleppt. Den soll er wieder mitnehmen«, schimpft Klaus.

Als wir einen Begrüßungsschluck getrunken haben und ich das Glas heftig auf den Couchtisch stelle, zucke ich zusammen, denn sofort ertönt ein schrilles krächzendes, sich mehrmals wiederholendes lautes Lachen. Zwischen den vielen Buddhas hatte ich die amerikanische Halloween-Hexe übersehen, die, sobald der Tisch erschüttert wird, dreckig lacht.

Die Ayi würde, wenn sie beim Putzen die Buddhas auf dem Tisch platziert, das Lachen der Hexe an einem Knopf unter dem Rock abstellen, sagt Klaus. Und manchmal zum Leidwesen seiner Frau vergessen, die Stimme wieder zu aktivieren.

Noch heiliger als die Buddhas und die Hexe sind seiner Frau die Figuren auf der Treppe zum Obergeschoss. Auf den Holzstufen stehen hintereinander 9 gelblackierte Phantasietiere: ein auf dem Schwanz stehender Fisch mit dem Kopf eines gehörnten Drachens, ein Löwe, ein Pferd, ein Drache, ein auf einem Hahn reitendes Fabelwesen, ein Phönix, ein Einhorn, ein Stier, ein geflügelter Affe.

Klaus erklärt mir die Bedeutung der Figuren, von denen manche nur noch mit viel Phantasie auf ihren Tierursprung zurückzuführen sind. Seit Jahrhunderten stehen sie auf den Dächern von Pagoden, Palästen und Häusern der Beamten und Bediensteten des Kaisers und beschützten deren Bewohner. Die Anzahl dieser Dachreiter war das äußere Zeichen für die Macht dessen, der im Haus wohnte. »Je mehr Dachreiter umso näher am Kaiser und an der Macht. Umso weniger umso unwichtiger. 9 Figuren waren nur dem Kaiser gestattet.«

Vorsichtig steige ich an den 9 Figuren vorbei die Treppe hinauf zu »meinem« Zimmer, das sonst das Arbeitszimmer des Hausherrn ist. Ein Bett steht darin, ein Schreibtisch, ein Schrank und ein Bücherregal. Ich stelle den Koffer, ohne ihn auszupacken, in die Ecke und schaue mir zuerst die Bücher an.

Liedersammlungen mit den »Partisanen vom Amur«, »Wann wir schreiten Seit an Seit«, dem »Vugelberboom« und »Stille Nacht« … Bücher zur Geschichte und Gegenwart Chinas. Stalins Verbrechen. »Silly« und Tamara Danz. Der Osten Deutschlands nach der Wende. Erinnerungen von Politikern an die DDR … Und einen Meter Christa Wolf, wahrscheinlich alles, was sie bisher geschrieben hat. Daneben stehen einige Scherzer-Titel, die auch der Anlass unserer Bekanntschaft waren.

Klaus meint, Bücher könne ich zu Hause lesen, dafür hätte ich nicht nach China fliegen müssen. Um China kennenzulernen, sollten wir zuerst essen gehen.

»Jede Begegnung beginnt in China mit einem gemeinsamen Essen in einem Restaurant.« Essen sei für die Chinesen nicht nur Nahrungsaufnahme, sondern immer auch ein kulturelles Ritual. Um sich nach dem Befinden des anderen zu erkundigen und ihm Wohlergehen zu wünschen, begrüßen sich vor allem ältere Chinesen oft nicht mit »Ni hao – Guten Tag«, sondern wie früher immer noch mit »Chi le ma? – Heute schon gegessen?«. Chinesen essen nicht, um zu leben, sondern sie leben, um zu essen. Essen ist eine gesellschaftliche Zeremonie, mit ihr erweist man dem anderen seine Ehrerbietung.

Als wir am Wachhäuschen vorbeifahren und der Posten – der Junge scheint wirklich nicht älter als 20 zu sein – wieder Haltung annimmt und salutiert, will ich ihm freundlich dankend zunicken, aber plötzlich bewegt sich meine rechte Hand zum Kopf, und die Finger strecken sich automatisch wie früher bei der Armee.

Auf dem Ring angekommen, starre ich nicht mehr hypnotisiert auf die Autokarawane, sondern bestaune den Wald der Hochhäuser, die mit ihren Dächern scheinbar an den Himmel stoßen. Zwanzig Stockwerke und höher sind die Regel. Kaum ein Wolkenkratzer gleicht dem anderen. Glas und Beton und Stahl streiten sich um die Vorherrschaft. In den meist uniformen Wohnhochhäusern dominiert der Beton. Die futuristischen Gebäude der großen Firmen und staatlichen Behörden protzen mit Stahl- und Glasfassaden, in denen sich die Nachbarhäuser spiegeln.

Monika arbeitet in einem kastenförmigen 25-stöckigen Bürohochhaus. Als wir ankommen, hat sie noch keinen Feierabend. Wir sollten, meint Klaus, wie das bei ihnen üblich ist, im irischen Pub auf sie warten. Am Eingang steht ein aus Plaste geformtes irisches Monsterweib mit riesigen Brüsten. »Durty Nellies« streckt ihre geöffnete große Hand aus, als ob man Geld hineinlegen sollte. Klaus begrüßt sie, indem er mit seiner Hand kurz auf die ihre klopft.

Der chinesische Barkeeper sagt »Hallo« und stellt, ohne zu fragen, ein »Stella Artos«-Bier auf den Tresen. Es gibt auch Kilkenny, Guinness, Dubliner und ein chinesisches Bier. Ein chinesisches kostet nur 3 Euro, für alle übrigen bezahlt man 4 Euro. Zum Bier reicht der Chinese eine Schale mit Erdnüssen, sobald sie leer ist, füllt er unaufgefordert nach. In den Regalen hinter dem Ausschank stehen so viele Whisky-Sorten, dass mir der französische Kognak und der russische Wodka dazwischen sofort auffallen. Doch ich frage nicht, was ein Glas davon kostet, sondern will wissen, was ein chinesischer Bauern-Handwerker im Compound am Tag verdient.

Der Wald der Hochhäuser

»Umgerechnet vielleicht 4 Euro«, sagt Klaus.

»Und der kleine salutierende Wachhabende?«

»Wahrscheinlich weniger als 4 Euro.«

Im Pub sitzen außer uns nur zwei Englisch sprechende Inder (deren Väter Pubs vielleicht noch aus der Kolonialzeit gekannt haben) und zwei noch sehr kindlich aussehende Männer, die »I will love«-T-Shirts tragen. Sie schreien enthusiastisch, wenn sie beim Billard die Kugel im...

Erscheint lt. Verlag 30.3.2012
Zusatzinfo Mit 50 Fotos des Autors
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Alltag • Bericht • China • Feuilleton • Gesellschaft • Journalismus • Kurzporträts • Landolf Scherzer • Mentalität • Reise • Reportage • Reportagen • Reporter • Scherzer
ISBN-10 3-8412-0411-2 / 3841204112
ISBN-13 978-3-8412-0411-0 / 9783841204110
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