Risse in der Zeit (eBook)

Ein Leben zwischen Ost und West
eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
368 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01741-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Risse in der Zeit -  Cornelius Weiss
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Einundzwanzig Gramm Radium. Der deutsche Atomphysiker Carl Friedrich Weiss trägt sie bei sich, ihr Wert: rund 5 Millionen Dollar. Er soll das Radium sicher auf den Obersalzberg schaffen. Zu kostbar ist das Gut, das auch für die Rüstungsindustrie gebraucht wird. Cornelius Weiss beginnt seine Autobiographie mit der dramatischen Geschichte seines Vaters, der am Ende des Zweiten Weltkriegs das Radium vor den Nazis versteckt und es schließlich den Alliierten übergibt. Zugleich lehnt er das Angebot ab, künftig in den USA zu forschen. Als christlicher Sozialist entscheidet sich Carl Friedrich Weiss, mit seiner Familie in die Sowjetunion zu gehen. Was er nicht ahnt: Zusammen mit anderen Wissenschaftlern kommen sie nicht nach Moskau, sondern in das «Wissenschaftszentrum Obninsk» - ein Gulag. Erst nach Jahren darf die Familie Weiss zurück in die Heimat. Sie entscheiden sich für die DDR. Cornelius Weiss wird Chemiker. Nach dem Mauerfall wählt ihn die Leipziger Universität zum Rektor. Nach seiner Emeritierung tritt er in die SPD ein - und wird in den Sächsischen Landtag gewählt. Seine mutigen Auftritte gegen Neonazis machen ihn überregional bekannt. Dieses Buch erzählt eine fesselnde und nahezu unbekannte Geschichte über Wissenschaft im Dritten Reich, in der Sowjetunion und in der DDR - und über den demokratischen Umbruch ab 1989. Und es ist zugleich eine Familienchronik der besonderen Art.

Cornelius Weiss, geboren 1933 in Berlin, wurde 1945 mit seiner Familie in der Sowjetunion interniert.1955 kehrte er nach Deutschland zurück und wurde in Leipzig zum Chemiker ausgebildet. Von 1991 bis 1997 war er Rektor der Universität Leipzig. 1997 trat er in die SPD ein und gehörte deren Fraktion im Sächsischen Landtag von 1999 bis 2009 an. Er lebt in Leipzig.

Cornelius Weiss, geboren 1933 in Berlin, wurde 1945 mit seiner Familie in der Sowjetunion interniert.1955 kehrte er nach Deutschland zurück und wurde in Leipzig zum Chemiker ausgebildet. Von 1991 bis 1997 war er Rektor der Universität Leipzig. 1997 trat er in die SPD ein und gehörte deren Fraktion im Sächsischen Landtag von 1999 bis 2009 an. Er lebt in Leipzig.

2 Biesdorfer Idylle


Tatsächlich: Ich wurde – im März 1933 – als erstes Kind geboren, und knapp zweieinhalb Jahre später, im August 1935, folgten meine Geschwister, die Zwillinge Bettina und Clemens. Als meine Mutter von der Charlottenburger Klinik mit den beiden Babys nach Hause kam, hatte sie für die Heimfahrt ein Taxi genommen. Als das vor unserer Haustür hielt und mein Vater die Babys an sich nahm, damit meine Mutter aussteigen konnte, soll ich gefragt haben: «Und wo ist das Dritte?»

Die erste Berliner Wohnung der Eltern befand sich in der Togostraße im «Afrikanischen Viertel» des Stadtbezirks Wedding. Ich hab mir das viel später einmal angesehen: ein für damalige Verhältnisse großzügiges und modernes Wohnviertel im Bauhausstil. Carl Hagenbeck hatte hier vor dem Ersten Weltkrieg einen exotischen Park geplant, in dem er unter anderem Tiere aus den damaligen deutschen Kolonien präsentieren wollte. Der Ausbruch des Krieges machte diese Pläne zunichte – nur die Straßennamen, die schon vergeben waren, blieben erhalten.

Als meine Geschwister dann da waren, wurde es für uns fünf dort jedoch zu eng. Meine Eltern wagten das finanzielle Abenteuer, bei einer Arbeiterwohnbaugenossenschaft, die gerade am östlichen Stadtrand, im ländlich wirkenden Biesdorf, eine Siedlung errichtete, eine winzige Doppelhaushälfte auf Ratenzahlung zu kaufen: im Erdgeschoss zwei relativ kleine Zimmer und Küche, oben, im ersten Stock, zwei Mansarden, das Bad im Keller. Die Adresse war Weizenweg 64, die anderen kleinen Straßen in der neuen Siedlung hießen Roggenweg, Gerstenweg, Haferweg, Erntedankweg oder – nazistisch eingefärbt – Erbhofweg.

Die Häuser waren alle gleich: Doppelhäuser mit parallelen Giebeln zur Straßenseite hin und Terrassen nach hinten zu den Gärten. Dazwischen dunkelbraune Jägerzäune. Da die Siedlung auf einem Flurstück von Marzahn, auf ehemaligen Feldern gebaut worden war, bestand unser Garten zunächst aus nichts weiter als sandiger Erde, und damit fangen im Grunde auch meine ersten Erinnerungen an. Meine Eltern säten Rasen und pflanzten Blumen und einige Bäumchen, es wurde schnell eine kleine grüne Idylle. Da das Haus abbezahlt werden musste und das Gehalt eines Regierungsrats an der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt dazu nicht ausreichte, wenn gleichzeitig eine mittlerweile fünfköpfige Familie zu ernähren war, nahm mein Vater an der Gauß-Schule in Tegel, einer Ingenieur-Abendschule, noch ein zweites Arbeitsverhältnis als Lehrer für Mathematik und Physik auf.

Es fing die wahrscheinlich einzig wirklich glückliche Zeit meiner Eltern an. Sie führten ein sehr offenes Haus, alte Freunde kamen zu Besuch, und sie fanden viele neue, vor allem über die Musik. Meine Mutter nahm wieder Gesangsstunden, ihre Lehrerin hieß Julia-Lotte Stern, eine damals bekannte Altistin, die aber wegen ihrer jüdischen Abstammung durch die Reichskulturkammer unter der Leitung von Propagandaminister Joseph Goebbels Auftrittsverbot erhalten hatte. Bei den Hausmusikabenden wurden die Blockflötensonaten von Georg Philipp Telemann gespielt, Streichquartette von Haydn und Beethoven, meine Mutter sang Franz Schuberts Winterreise, Lieder von Johannes Brahms und – geradezu avantgardistisch – das Marienleben von Paul Hindemith. Wir Kinder, die wir oben in einem der Mansardenzimmer im Bett lagen, fanden die Musik und das Stimmengewirr sehr beruhigend. An diesen Abenden schlief ich jedes Mal besonders gut ein.

Viel später, als Erwachsener, habe ich meinen Vater für seine Disziplin bewundert, auch für seine Geduld. Niemals sagte er: «Hildegard, es kann nicht sein, dass du zu Hause sitzt und Klavier spielst und abends ein gastfreundliches Haus führst, und ich muss malochen.» Nie hat er so etwas gesagt. Er sah seine zwei Berufstätigkeiten wohl als preußische Pflicht an und fügte sich still in sein Schicksal. Sie setzte seiner Belastung sogar noch eins drauf, indem sie ein Dienstmädchen verlangte, ein sogenanntes Pflichtjahrmädchen, das meiner Mutter den Haushalt abnehmen sollte. Auch dieser Wunsch wurde ihr erfüllt. Carl Friedrich versuchte offenbar unter den Wolken des heraufziehenden Krieges seiner Familie so viel Geborgenheit und Wärme wie möglich zu geben, ihr das Leben irgendwie schön zu machen, solange es nur möglich war. Immerhin genoss auch er die Hausmusikabende: So konnte er mit Kollegen und Freunden einen Kreis – heute würde man sagen: ein Netzwerk – von Menschen aufbauen, die ähnlich dachten wie er. Bei uns zu Hause trafen sich Gleichgesinnte, diese Menschen einte eine tiefe Abneigung gegen den Nationalsozialismus. Jedenfalls trug keiner der Gäste in unserem Haus das Parteiabzeichen der NSDAP, den «Bonbon», am Revers – als Kind wäre mir das sicherlich aufgefallen.

Damals habe ich meinen Vater wenig gesehen. Morgens hörte ich, wie er im Kessel der Zentralheizung herumkratzte, um die über Nacht angesammelte Schlacke zu entfernen, und abends, wenn er nach Hause kam, lag ich längst im Bett. An den Sonntagen kümmerte er sich aber um uns Kinder, ging mit uns viel spazieren. Während eines solchen Ausflugs verpasste er mir einmal eine sehr nachhaltige Lehre. Kleine Kinder finden auf diesen Spaziergängen immer etwas, weil sie näher am Boden sind und noch einen Blick fürs Detail haben. Ich fand mehrfach Geld, und einmal mehrere Münzen hintereinander, verteilt über einem Abstand von drei, vier Metern. Wahrscheinlich waren sie einem angeheiterten Nachtschwärmer aus der Tasche gefallen. Ich las die Geldstücke auf, und nachdem jedes einzelne eingesammelt war, sagte mein Vater: «Das Geld hast du dir aber nicht verdient, Cornelius. Du hast jetzt die Wahl: Entweder du wirfst es in den nächsten Briefkasten, oder du kaufst davon Winterhilfsabzeichen.» Die «Winterhilfe» war eine Erfindung der Nazis, überall auf den Straßen standen Mitglieder vom NS-Frauenbund, BDM-Mädel oder Rentner mit Sammelbüchsen herum, um Geld für die Armen einzutreiben, mit dem Heizmaterial, warme Mahlzeiten oder Unterkünfte bezahlt werden sollten. Steckte man etwas in die Sammelbüchse – oft wurde man dazu regelrecht genötigt –, bekam man als Gegenleistung ein Abzeichen. Und nun lagen diese Münzen, die mir nicht gehörten und die ich keinesfalls behalten durfte (was ich natürlich gern getan hätte), in meinen Händen. In den nächsten Briefkasten wollte ich sie auf keinen Fall stecken. Das fand ich vollkommen ungerecht – der Briefkasteninhaber war doch genauso wenig Eigentümer der Geldstücke wie ich. Da ich aber scharf auf die Abzeichen war – um die Winterhilfe-Kampagne in Gang zu halten, wurden jeden Monat neue herausgegeben, mal waren diese Kunstgewerbedinger aus Holz gedrechselt, mal aus Ton gebrannt –, war mein Entschluss schnell gefasst. Jede Münze kam in eine andere Büchse, und so hatte ich am Ende eine Monatsserie dieser Abzeichen beisammen.

 

Meine Eltern nahmen mich frühzeitig zu Konzerten ins Charlottenburger Schloss mit, ich war da vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. In dem prächtigen Saal hingen Kronleuchter, an den Wänden leuchteten festlich Kerzen und Wandlampen. Hier hörte ich zum ersten Mal die Brandenburgischen Konzerte und die Orchestersuiten von Johann Sebastian Bach. Ich entwickelte regelrecht eine Vorliebe für die wundervolle, streng gegliederte Musik des Barocks. Wie berauscht war ich in dieser Welt, die so hell und unbeschwert schien.

Vom vierten Lebensjahr an hatte ich Klavierunterricht, zunächst bei meiner Mutter. Später gab mir Margarete Riedel, eine sehr gutherzige Kammermusikerin, Stunden auf dem Cembalo. Frau Riedel war die Leiterin der «Berliner Spiel-Einung», eines gemischten Profi- und Laienensembles, das sich voll und ganz der Barockmusik verschrieben hatte und in dem auch mein Vater gelegentlich das Cello strich. Sie hätte mich auch mit den üblichen Czerny-Etüden am Klavier quälen können, aber sie erkannte sehr schnell meine Leidenschaft für Bach, und Bachs Sinn für Phrasierung und Rhythmus kamen auf dem Cembalo besser zum Ausdruck. Ein Klavier hat ja durch die Filzhämmerchen einen eher weichen, für mich nervigen Anschlag, das Cembalo besitzt kleine Häkchen, die jeden Anschlag gleich klingen lassen, und zwar exakt zum vorgesehenen Zeitpunkt – perfekt für ein strenges Zeitmaß. Mit dem Klavierbüchlein für Anna Magdalena Bach fing ich an, und dann ging es schnell aufwärts, bis hin zu den Präludien, Fugen und Inventionen für Cembalo des großen Kirchenmusikers.

In dieser Zeit fing ich auch an zu lesen: zuerst die Märchen von Grimm, Hauff und Andersen. Von der Kleinen Meerjungfrau war ich zutiefst angerührt; ich hatte mich so intensiv in die handelnden Figuren hineinversetzt, dass ich zum ersten Mal eine (völlig unklare) Sehnsucht und mehr noch den brennenden Schmerz einer unerfüllbaren Liebe spürte. Sehr beschäftigt haben mich auch Der letzte Mohikaner von James Cooper und Robinson Crusoe von Daniel Defoe. Später verschlang ich alles, was mir in die Hände kam: mit Vorliebe die Zukunftsromane von Hans Dominik, viel Karl May, Bergsteiger-Bücher (Deutsche am Nanga-Parbat) und – zum Entsetzen der Eltern – auch Landser-Hefte, die es für zehn Pfennig überall zu kaufen gab und mit denen in der Schule schwunghaft Tauschhandel getrieben wurde.

Irgendwann fing ich dann auch an, populärwissenschaftliche und einfache technische Bücher zu lesen, was mich dazu brachte, erste (allerdings völlig ergebnislose) chemische Experimente zu machen – mit Backpulver, blauer Kreide, Teer und dem scharf riechenden flüssigen Inhalt einer kleinen Flasche, die ich auf der Müllhalde gefunden...

Erscheint lt. Verlag 9.3.2012
Zusatzinfo Zahlr. s/w Abb.
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Atomphysiker • DDR • Deutschland • GULAG • Leipziger Universität • Nationalsozialismus • Sowjetunion • Sozialismus • SPD • Wissenschaft
ISBN-10 3-644-01741-7 / 3644017417
ISBN-13 978-3-644-01741-2 / 9783644017412
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