Grabesstille (eBook)

Ein Rizzoli-&-Isles-Thriller

(Autor)

eBook Download: EPUB
2012
464 Seiten
Limes (Verlag)
978-3-641-07935-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Grabesstille - Tess Gerritsen
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Wohliger Schauer oder nackte Angst. Was, wenn die Geistergeschichten Ihrer Kindheit wahr würden?
Jahraus, jahrein werden sie an den schrecklichen Tag erinnert, da in einem kleinen Restaurant in Chinatown ein Amokläufer ihre Angehörigen hinrichtete. Doch wer schreibt die Briefe, die besagen, dass der wahre Täter noch immer nicht gefasst sei? Erst als neunzehn Jahre später bei einer Stadtführung durch Boston die Leiche einer Frau gefunden wird, die mit einem antiken chinesischen Ritualschwert verstümmelt wurde, wird der alte Fall wiederaufgerollt. Und nicht immer haben Jane Rizzoli und Maura Isles bei den Ermittlungen das Gefühl, es mit einem leibhaftigen Gegner aus Fleisch und Blut zu tun zu haben ...

So gekonnt wie Tess Gerritsen vereint niemand erzählerische Raffinesse mit medizinischer Detailgenauigkeit und psychologischer Glaubwürdigkeit der Figuren. Bevor sie mit dem Schreiben begann, war die Autorin selbst erfolgreiche Ärztin. Der internationale Durchbruch gelang ihr mit dem Thriller »Die Chirurgin«, in dem Detective Jane Rizzoli erstmals ermittelt. Seither sind Tess Gerritsens Thriller um das Bostoner Ermittlerduo Rizzoli & Isles von den internationalen Bestsellerlisten nicht mehr wegzudenken. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Maine.

1

SAN FRANCISCO

Den ganzen Tag schon beobachte ich das Mädchen.

Sie lässt nicht erkennen, dass sie mich bemerkt hat, obwohl mein Mietwagen in Sichtweite der Straßenecke steht, an der sie und ihre Freunde sich an diesem Nachmittag versammelt haben, um zu tun, was gelangweilte Teenager eben so tun: die Zeit totschlagen. Sie wirkt jünger als die anderen, aber das liegt vielleicht daran, dass sie Asiatin ist und recht klein und zierlich für ihre siebzehn Jahre. Ihr schwarzes Haar trägt sie kurz geschnitten wie ein Junge, ihre Bluejeans ist zerrissen und ausgefranst. Kein Modegag, denke ich bei mir, sondern echte Gebrauchsspuren, eine Folge des harten Lebens auf der Straße. Sie zieht an einer Zigarette und bläst eine Rauchwolke in die Luft, mit der lässigen Pose eines Straßengangsters, die so gar nicht zu ihrem blassen Gesicht und ihren feinen chinesischen Gesichtszügen passt. Sie ist hübsch genug, um die gierigen Blicke zweier Männer anzuziehen, die an der Gruppe vorbeikommen. Das Mädchen registriert sie und starrt unerschrocken zurück, doch es ist leicht, furchtlos zu sein, wenn die Gefahr nur abstrakt ist. Wie, so frage ich mich, würde das Mädchen angesichts einer realen Gefahr reagieren? Würde sie sich nach Kräften wehren, oder würde sie klein beigeben? Ich will wissen, aus welchem Holz sie geschnitzt ist, aber noch habe ich keine Probe ihres Charakters gesehen.

Als der Abend hereinbricht, löst sich die Teenager-Versammlung an der Straßenecke allmählich auf. Einer nach dem anderen gehen sie ihrer Wege. In San Francisco sind die Nächte selbst im Sommer kühl, und die Verbliebenen drängen sich zusammen, in ihre Jacken und Sweatshirts gehüllt, und geben einander Feuer, kosten die flüchtige Wärme der Flamme aus. Aber schließlich vertreiben Hunger und Kälte auch die Letzten, und nur das Mädchen bleibt zurück – wohin sollte sie auch gehen? Sie winkt ihren Freunden nach und steht dann eine Weile allein herum, als ob sie auf jemanden wartet. Schließlich zuckt sie mit den Achseln und geht in meine Richtung davon, die Hände in die Hosentaschen gesteckt. Als sie an meinem Wagen vorbeikommt, würdigt sie mich keines Blickes, starrt nur geradeaus, mit entschlossener, grimmiger Miene, als grübelte sie über irgendein Problem nach. Vielleicht überlegt sie, wo und wie sie sich heute ihr Abendessen organisieren soll. Oder vielleicht ist es auch etwas Schwerwiegenderes, was sie beschäftigt. Ihre Zukunft. Ihr Überleben.

Wahrscheinlich merkt sie gar nicht, dass die beiden Männer ihr folgen.

Sekunden nachdem sie an meinem Wagen vorbeigekommen ist, sehe ich die Männer aus einem Durchgang zwischen den Häusern treten. Ich erkenne sie wieder; es sind dieselben, die sie vorhin so angestarrt haben. Als sie sich an die Verfolgung machen und an meinem Wagen vorübereilen, sieht mich einer der Männer durch die Windschutzscheibe an. Es ist nur ein kurzer Blick, mit dem er einschätzen will, ob ich eine Bedrohung darstelle. Was er sieht, beunruhigt ihn nicht im Geringsten. Er und sein Begleiter gehen weiter, und jede ihrer Bewegungen strahlt die souveräne Selbstsicherheit des Jägers aus, der sich an eine schwächere, wehrlose Beute heranpirscht.

Ich steige aus und folge ihnen, so, wie sie dem Mädchen folgen.

Sie steuert eine Wohngegend an, wo allzu viele Gebäude leer stehen, wo die Gehsteige mit zerbrochenen Flaschen gepflastert scheinen. Das Mädchen lässt keine Furcht erkennen, kein Zögern; offenbar ist ihr die Umgebung vertraut. Sie schaut sich auch nicht um, und das verrät mir, dass sie entweder tollkühn ist oder keine Ahnung hat von der Welt und von dem, was diese Welt Mädchen wie ihr antun kann. Die Männer, die sie verfolgen, drehen sich auch nicht um. Und selbst wenn sie mich entdecken sollten, was ich zu verhindern weiß, würden sie nichts sehen, wovor sie sich fürchten müssten. So geht es allen.

Einen Block weiter wendet sich das Mädchen nach rechts und verschwindet in einem Hauseingang.

Ich ziehe mich in den Schatten zurück, um zu beobachten, was nun geschieht. Die beiden Männer bleiben vor dem Haus stehen und beraten sich kurz. Dann gehen sie ebenfalls hinein.

Vom Gehsteig aus blicke ich zu den mit Brettern vernagelten Fenstern auf. Es ist ein verlassenes Lagerhaus mit einem Schild, auf dem steht: ZUTRITT FÜR UNBEFUGTE VERBOTEN. Die Tür hängt schief in den Angeln. Ich schlüpfe hindurch, tauche ein in eine so tiefe Finsternis, dass ich einen Moment innehalten und mich auf meine anderen Sinne verlassen muss, um zu erspüren, was ich noch nicht sehen kann. Ich höre die Bodendielen knarren. Ich rieche heißes Kerzenwachs. Dann kann ich zur Linken eine Tür ausmachen, durch die ein schwacher Lichtschein dringt. Ich bleibe davor stehen und spähe durch den Türspalt ins Zimmer.

Das Mädchen kniet vor einem behelfsmäßigen Tisch; nur eine flackernde Kerze erhellt ihr Gesicht. Um sie herum entdecke ich Anzeichen dafür, dass jemand sich hier häuslich eingerichtet hat: einen Schlafsack, Konservendosen, einen kleinen Campingkocher. Sie kämpft gerade mit einem klobigen Dosenöffner und merkt nicht, dass die beiden Männer sich ihr von hinten nähern.

Ich hole eben Luft, um sie mit einem Ruf zu warnen, da wirbelt das Mädchen herum und stellt sich den Angreifern entgegen. In der Hand hält sie nur den Dosenöffner – eine bescheidene Waffe gegen zwei größere und kräftigere Angreifer.

»Das ist mein Zimmer«, sagt sie. »Raus hier!«

Ich hatte mich schon darauf gefasst gemacht einzugreifen. Stattdessen bleibe ich, wo ich bin, um zu sehen, wie es weitergeht. Um zu sehen, was in dem Mädchen steckt.

Einer der Männer lacht. »Wir kommen nur zu Besuch, Schätzchen.«

»Hab ich euch eingeladen?«

»Du siehst aus, als könntest du ein bisschen Gesellschaft gebrauchen.«

»Und du siehst aus, als könntest du eine Portion Hirn gebrauchen.«

Keine sehr kluge Bemerkung angesichts der Situation, denke ich. Jetzt ist die Begierde der Männer mit Zorn vermischt – eine gefährliche Kombination. Doch das Mädchen steht ganz ruhig da, mit nichts als diesem lächerlichen Küchenutensil in der Hand. Als die Männer sich auf sie stürzen, wippe ich schon auf den Fußballen, mache mich zum Sprung bereit.

Doch sie kommt mir zuvor. Ein Satz, und ihr Fuß kracht mit voller Wucht gegen das Brustbein des ersten Mannes. Kein sehr elegantes Manöver, aber wirkungsvoll. Der Mann taumelt und fasst sich an die Brust, als ob er keine Luft bekommt. Ehe der zweite Mann reagieren kann, schwingt sie bereits zu ihm herum und versetzt ihm mit dem Dosenöffner einen Schlag gegen die Schläfe. Er heult auf und weicht zurück.

Jetzt wird es wirklich interessant.

Der erste Mann hat sich gefangen und rennt auf sie zu, rammt sie mit solcher Wucht, dass beide der Länge nach zu Boden gehen. Sie traktiert ihn mit Tritten und Schlägen, und ihre Faust kracht gegen seinen Unterkiefer. Aber in seiner rasenden Wut spürt er die Schmerzen nicht; mit lautem Gebrüll wälzt er sich auf sie und drückt sie mit seinem Gewicht zu Boden.

Jetzt springt der zweite Mann wieder herbei. Er packt ihre Handgelenke und hält sie am Boden fest. Ihre Jugend und ihre Unerfahrenheit haben sie in eine fatale Lage gebracht, aus der zu entkommen schier unmöglich ist. Bei all ihrer ungestümen Energie ist sie doch naiv und untrainiert, und jeden Moment wird das Unvermeidliche passieren. Schon hat der erste Mann den Reißverschluss ihrer Jeans aufgezogen und zerrt ihr die Hose über die mageren Hüften. Deutlich zeichnet sich seine Erregung ab. Nie ist ein Mann so verwundbar.

Er hört mich nicht kommen. Gerade nestelt er noch an seinem Reißverschluss herum, im nächsten Moment liegt er schon mit zerschmettertem Kiefer am Boden und spuckt Blut und ausgeschlagene Zähne.

Der zweite Mann schafft es gerade noch, die Hände des Mädchens loszulassen und aufzuspringen, aber er ist nicht schnell genug. Ich bin ein Tiger, und er ist nichts als ein schwerfälliger, stumpfsinniger Büffel, hilflos meinem Schlag ausgeliefert. Mit einem schrillen Schrei stürzt er zu Boden, und nach dem unnatürlichen Winkel zu urteilen, in dem sein Arm abgeknickt ist, muss der Knochen glatt gebrochen sein.

Ich packe das Mädchen und hole es mit einem Ruck auf die Füße. »Bist du unverletzt?«

Sie zieht den Reißverschluss ihrer Jeans hoch und starrt mich an. »Wer zum Teufel sind Sie denn?«

»Das erklär ich dir später. Jetzt komm weg hier!«, blaffe ich sie an.

»Wie haben Sie das gemacht? Wie haben Sie die beiden so schnell überwältigt?«

»Willst du es lernen?«

»Ja!«

Ich betrachte die zwei Männer, die sich stöhnend zu unseren Füßen winden. »Dann merk dir die erste Lektion: Du musst wissen, wann es Zeit ist zu fliehen.« Ich schiebe sie in Richtung Tür. »In diesem Fall wäre das genau jetzt.«

Ich sehe ihr beim Essen zu. So schmächtig sie ist, hat sie doch den Appetit einer Wölfin; sie verschlingt drei Hähnchen-Tacos und einen großen Teller Bohnenpüree und spült alles mit einem Glas Cola hinunter. Sie hat sich mexikanisches Essen gewünscht, und so sitzen wir nun in diesem Restaurant, wo Mariachi-Musik läuft und die Wände mit grellbunten Gemälden von tanzenden Señoritas geschmückt sind. Trotz ihrer chinesischen Gesichtszüge ist das Mädchen durch und durch amerikanisch, von ihrem kurz geschorenen Haar bis hin zu ihrer zerfetzten Jeans. Ein wildes, unverbildetes Geschöpf, das den letzten Rest aus dem Colaglas schlürft, um dann geräuschvoll auf den Eiswürfeln herumzukauen.

Mir kommen leise Zweifel am Sinn...

Erscheint lt. Verlag 10.3.2012
Reihe/Serie Rizzoli-&-Isles-Serie
Rizzoli-&-Isles-Serie
Übersetzer Andreas Jäger
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel The Silent Girl (Rizzoli & Isles 9)
Maße 120 x 120 mm
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Schlagworte Bestsellerautorin • Boston • Chinatown • chinesische Mythen • eBooks • isles • New York Times Bestseller • Rizzoli • Serie • spiegel bestseller • SPIEGEL-Bestseller • Thriller
ISBN-10 3-641-07935-7 / 3641079357
ISBN-13 978-3-641-07935-2 / 9783641079352
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