Der Idiot (eBook)

Roman
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2012 | 1. Auflage
880 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-401878-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Idiot -  Fjodor Dostojewskij
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Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. »Dostojewskij ist eine hervorragende Lektüre, wenn nicht jetzt, dann in einer nicht allzu fernen Zukunft, wenn man ... ihn rein literarisch auffassen und damit zum ersten Mal überhaupt richtig lesen und verstehen wird.« (Ossip Mandelstam, 1922)

Fjodor Michailowitsch Dostojewskij (1821-1881) war ursprünglich Leutnant in St. Petersburg. Er quittierte seinen Dienst 1844, um freier Schriftsteller zu werden. Seine Romane ?Verbrechen und Strafe?, ?Der Spieler?, ?Der Idiot?, ?Böse Geister?, ?Ein grüner Junge?, ?Die Brüder Karamasow? sowie ?Aufzeichnungen aus dem Kellerloch? liegen im S. FISCHER Verlag in der herausragenden Übersetzung von Swetlana Geier vor.

Fjodor Michailowitsch Dostojewskij (1821-1881) war ursprünglich Leutnant in St. Petersburg. Er quittierte seinen Dienst 1844, um freier Schriftsteller zu werden. Seine Romane ›Verbrechen und Strafe‹, ›Der Spieler‹, ›Der Idiot‹, ›Böse Geister‹, ›Ein grüner Junge‹, ›Die Brüder Karamasow‹ sowie ›Aufzeichnungen aus dem Kellerloch‹ liegen im S. FISCHER Verlag in der herausragenden Übersetzung von Swetlana Geier vor. Swetlana Geier (1923–2010) hat u. a. Sinjawskij, Tolstoi, Solschenizyn, Belyi und Bulgakow ins Deutsche übertragen. Für ihr Werk, das sie mit der Dostojewskij-Neuübersetzung krönte, wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. – In der Reihe Fischer Klassik liegen sämtliche ihrer im Ammann Verlag erschienenen Dostojewskij-Übersetzungen vor: ›Verbrechen und Strafe‹ (Bd. 90010), ›Der Spieler‹ (Bd. 90446), ›Der Idiot‹ (Bd. 90186), ›Böse Geister‹ (Bd. 90245), ›Ein grüner Junge‹ (Bd. 90333), ›Die Brüder Karamasow‹ (Bd. 90114) sowie ›Aufzeichnungen aus dem Kellerloch‹ (Bd. 90102). Über ihr Leben und ihre Arbeit gibt Swetlana Geier Auskunft in dem von Taja Gut aufgezeichneten Buch ›Swetlana Geier. Ein Leben zwischen den Sprachen‹ (Bd. 19221).

Erster Teil


I


ENDE November, bei Tauwetter, gegen neun Uhr morgens, näherte sich ein Zug der Petersburg–Warschauer-Eisenbahnlinie mit Volldampf Petersburg. Es war so feucht und neblig, daß es nur zögernd hell wurde; aus den Waggonfenstern ließ sich auf zehn Schritt rechts und links vom Bahndamm kaum etwas erkennen. Ein Teil der Reisenden kehrte aus dem Ausland zurück; aber am stärksten besetzt waren die Abteile dritter Klasse, und zwar durchweg von kleinen Leuten und Geschäftsreisenden, die nicht von sehr weit her kamen. Alle waren, verständlicherweise, müde, alle hatten nach dieser Nacht schwere Lider, alle fröstelten, alle Gesichter waren blaßgelb von der Farbe des Nebels draußen.

In einem der Waggons dritter Klasse fanden sich, als es zu tagen begann, zwei Reisende einander gegenüber, beide auf den Fensterplätzen – beide jung, beide so gut wie ohne Gepäck, beide nicht gerade elegant gekleidet, beide mit ziemlich bemerkenswerten Gesichtern und beide mit dem Wunsch, endlich miteinander ins Gespräch zu kommen. Wenn beide gewußt hätten, was an ihnen in diesem Augenblick bemerkenswert war, dann hätten sie sich natürlich gewundert, daß der Zufall sie sonderbarerweise in denselben Waggon dritter Klasse der Petersburg–Warschauer-Eisenbahnlinie einander gegenüber gesetzt hatte. Der eine war gerade noch mittelgroß, etwa siebenundzwanzig, mit krausem, beinahe schwarzem Haar und kleinen grauen, jedoch feurigen Augen. Seine Nase war breit und platt, er hatte hohe Backenknochen und schmale Lippen, die sich unentwegt zu einem dreisten, spöttischen und sogar boshaften Lächeln verzogen; aber seine Stirn war hoch, wohlgeformt und hielt der unedel entwickelten unteren Gesichtspartie die Waage. Besonders auffallend an diesem Gesicht war seine tödliche Blässe, die der ganzen Physiognomie des jungen Mannes etwas Ausgezehrtes verlieh, ungeachtet seines ziemlich kräftigen Körperbaus, gleichzeitig aber auch etwas Leidenschaftliches, gequält Leidenschaftliches, das mit dem unverschämten, rohen Lächeln und dem scharfen, überheblichen Blick keineswegs harmonierte. Er trug einen warmen, weit geschnittenen schwarzen Tuchmantel, der mit Lammfell gefüttert war, und hatte die Nacht über nicht gefroren, während sein Gegenüber alle Wonnen einer feuchten russischen Novembernacht, mit der er offensichtlich nicht gerechnet hatte, auf seine durchfrorenen Schultern hatte nehmen müssen. Er war in einen ziemlich weiten, ärmellosen und dicken Mantel mit riesiger Kapuze gehüllt, wie sie oft von Reisenden im Winter getragen werden, irgendwo im fernen Ausland, in der Schweiz zum Beispiel oder in Norditalien, wo man nicht mit solchen Entfernungen rechnen muß wie der von Eydtkuhnen bis Petersburg. Aber das, was in Italien passend war und vollkommen genügte, erwies sich nur bedingt passend in Rußland. Der Besitzer des Kapuzenmantels war ein junger Mann von ebenfalls sechs- oder siebenundzwanzig Jahren, etwas mehr als mittelgroß, mit hellblondem, dichtem Haar, eingefallenen Wangen und einem leichten, spitzen, fast völlig weißen Bärtchen. Seine Augen waren groß, blau und aufmerksam; ihr Blick war sanft, aber auch schwer, mit jenem merkwürdigen Ausdruck, an dem manche Menschen sofort den Epileptiker erkennen. Das Gesicht des jungen Mannes war angenehm, feingeschnitten, schmal und trocken, aber farblos und im Augenblick sogar blau vor Kälte. Auf seinen Knien schaukelte ein dürftiges Bündel, in einen alten, verblichenen Foulard eingeschlagen, offenbar sein einziges Gepäckstück. An den Füßen trug er Schuhe mit dicken Sohlen und Gamaschen – alles nicht nach russischer Art. Der schwarzhaarige Nachbar im gedeckten Lammpelz betrachtete dies alles eingehend, zum Teil aus Langeweile, und fragte schließlich mit jenem ungenierten Lächeln, in dem mitunter das rücksichtslose und herablassende Behagen angesichts des Mißgeschicks des Nächsten zum Ausdruck kommt:

»Kalt?«

Und er hob die Schultern.

»Sehr«, antwortete der Nachbar außerordentlich bereitwillig, »und dabei haben wir auch noch Tauwetter. Wie wäre es erst bei Frost; ich hatte nicht gedacht, daß es bei uns so kalt ist. Ich wußte es nicht mehr.«

»Sie kommen aus dem Ausland? Oder?«

»Ja, aus der Schweiz.«

»P-f-f-f-f, da hat es Sie aber weit verschlagen! …«

Der Schwarzhaarige stieß einen kurzen Pfiff aus und lachte laut.

Die Unterhaltung kam in Gang. Die Bereitwilligkeit des blonden jungen Mannes im Schweizer Mantel, auf sämtliche Fragen seines dunklen Nachbarn einzugehen, war erstaunlich und völlig arglos, obwohl manche herablassend, deplaziert und müßig waren. Unter anderem ließ sich seinen Antworten entnehmen, daß er in der Tat lange Zeit außerhalb Rußlands verbracht hatte, über vier Jahre, und daß er krankheitshalber ins Ausland geschickt worden war; es hatte sich um ein eigentümliches Nervenleiden gehandelt, ähnlich der Epilepsie oder dem Veitstanz, begleitet von Muskelzuckungen und Krämpfen. Der Dunkle grinste mehrmals beim Zuhören; und er lachte laut, als auf seine Frage: »Haben die’s kuriert?« der Blonde antwortete: »Nein, sie haben es nicht kuriert.«

»He! Hat Sie bestimmt ’ne Menge Geld gekostet! Für nichts und wieder nichts, aber wir glauben ja denen da drüben«, bemerkte der Dunkle gehässig.

»Wahr und wahrhaftig!« mischte sich ein Mitreisender ins Gespräch, der neben ihm saß und ein in seinem Amt verkrusteter subalterner Beamter sein mochte, schlecht gekleidet, etwa vierzig Jahre alt, von kräftiger Statur, mit roter Nase und einem Gesicht voller Mitesser. »Wahr und wahrhaftig, die ziehen nur für nichts und wieder nichts alle russische Kraft zu sich herüber.«

»Oh, in meinem Fall irren Sie sich aber«, widersprach der Patient aus der Schweiz mit sanfter und versöhnlicher Stimme. »Freilich, ich kann Ihnen nicht widersprechen, denn ich weiß nicht alles, aber mein Arzt hat mir von seinem eigenen Geld auch diese Reise bezahlt und hatte mich vorher beinahe zwei Jahre dort auf seine Kosten leben lassen.«

»Wieso, gab’s denn keinen, der für Sie zahlte?« fragte der Dunkle.

»Nein, Herr Pawlistschew, der für meinen Unterhalt aufkam, ist vor zwei Jahren gestorben. Ich habe dann hierher geschrieben, an die Generalin Jepantschina, meine entfernte Verwandte, aber keine Antwort erhalten. Und so komme ich hierher.«

»Hierher? Wohin denn?«

»Sie meinen, wo ich absteige? … Ich weiß es noch nicht, wirklich … Ich …«

»Sie wissen’s noch nich’?«

Darauf brachen beide Zuhörer von neuem in Lachen aus.

»Und in diesem Bündel is’ wohl Ihr ganzes Hab und Gut?« fragte der Dunkle.

»Wetten, daß es so ist«, fiel der rotnasige Beamte mit höchst zufriedener Miene ein, »und daß die Gepäckwagen keine weiteren Koffer mitführen, obwohl Armut keine Schande ist, was nicht unbemerkt bleiben darf.«

Es erwies sich, daß es sich wirklich so verhielt: Der blonde junge Mann hatte es ungewöhnlich eilig, es zu bestätigen.

»Trotz und alledem kommt Ihrem Bündelchen eine gewisse Bedeutung zu«, fuhr der Beamte fort, nachdem beide sich satt gelacht hatten (bemerkenswerterweise hatte auch der Besitzer des Bündelchens bei ihrem Anblick schließlich in das Lachen eingestimmt, was ihre Heiterkeit noch erhöhte), »auch, wenn man wetten kann, daß es weder Gold noch ausländische Rollen mit Napoléons d’or, noch Friedrichs d’or oder gar holländische Dukaten enthält, worauf schon allein Ihre Gamaschen schließen lassen, die Ihre ausländischen Schuhe umhüllen, aber … wenn man zu Ihrem Bündelchen eine solche Verwandte wie etwa die Generalin Jepantschina hinzuaddieren könnte, dann würde auch diesem Bündelchen eine andere Bedeutung zukommen, vorausgesetzt, daß die Generalin Jepantschina in der Tat Ihre Verwandte ist und Sie keinem Irrtum erlegen sind, etwa aus Zerstreutheit … was einem Menschen sehr, sehr leicht passieren kann, aus … sagen wir … aus … einem Übermaß an Phantasie.«

»O ja, Sie haben es wieder getroffen«, beeilte sich der blonde junge Mann zu bestätigen, »ich bin in der Tat fast so gut wie einem Irrtum erlegen, das heißt, sie ist fast keine Verwandte von mir; so wenig sogar, daß ich damals keineswegs erstaunt war, daß man mir nicht dorthin zurückschrieb. Ich hatte es nicht anders erwartet.«

»Sie haben das Geld für das Porto umsonst ausgegeben. Hm! … Jedenfalls sind Sie gutherzig und aufrichtig, und solches ist lobenswert. Hm! … General Jepantschin ist uns wohlbekannt, schon deshalb, weil er eine allgemein bekannte Persönlichkeit ist; und der selige Herr Pawlistschew, der für Ihren Unterhalt in der Schweiz aufgekommen ist, ebenfalls, das heißt, wenn es sich um Nikolaj Andrejewitsch Pawlistschew handelt, es gab nämlich zwei Vettern dieses Namens. Der andere lebt heute noch auf der Krim, und Nikolaj Andrejewitsch, der Verstorbene, war ein angesehener Mann mit Beziehungen und besaß seinerzeit viertausend Seelen …«

»Ganz richtig, er hieß Nikolaj Andrejewitsch Pawlistschew«, sagte der junge Mann und sah den Herrn Allwissend aufmerksam und interessiert an.

Solchen Herren Allwissend begegnet man gelegentlich, und gar nicht einmal so selten, in einer bestimmten Gesellschaftsschicht. Sie wissen alles, und ihre ganze unruhige Wißbegier und ihre Fähigkeiten bewegen sich unaufhaltsam in einer einzigen Richtung, freilich in Ermangelung bedeutender Lebensinteressen und Anschauungen, wie ein moderner Denker sagen würde. Unter den Worten ›sie wissen alles‹ ist eine allerdings recht eng begrenzte Sphäre zu...

Erscheint lt. Verlag 9.2.2012
Reihe/Serie Fjodor M. Dostojewskij, Werkausgabe
Übersetzer Swetlana Geier
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 19. Jahrhundert • Adel • Anspruchsvolle Literatur • Arme Teufel • Christentum • Emanzipation • Epilepsie • Fünf Elefanten • Gesellschaft • Hierbei handelt es sich um eine Vorabmeldung. In Kürze werden wir an dieser Stelle Schlagwörter z... • Isolation • Lew Myschkin • Mitleid • Naivität • Petersburg • Reform • Roman • Russland • Swetlan Geier
ISBN-10 3-10-401878-2 / 3104018782
ISBN-13 978-3-10-401878-2 / 9783104018782
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