Ein grüner Junge (eBook)

Roman
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2012 | 1. Auflage
850 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-401888-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein grüner Junge -  Fjodor Dostojewskij
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Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. ?Ein grüner Junge?, der unbekannteste der späten Romane von Dostojewskij: ein Entwicklungsroman und die Geschichte von Vater und Sohn aus der Großstadt Sankt Petersburg, die ihre Bewohner zerreißt. In der Neuübersetzung von Swetlana Geier wird ?Ein grüner Junge? zu einer literarischen Wiederentdeckung ersten Ranges: »Seine Lektüre kann endlich zur glanzvollen Premiere werden« (Neue Zürcher Zeitung).

Fjodor Michailowitsch Dostojewskij (1821-1881) war ursprünglich Leutnant in St. Petersburg. Er quittierte seinen Dienst 1844, um freier Schriftsteller zu werden. Seine Romane ?Verbrechen und Strafe?, ?Der Spieler?, ?Der Idiot?, ?Böse Geister?, ?Ein grüner Junge?, ?Die Brüder Karamasow? sowie ?Aufzeichnungen aus dem Kellerloch? liegen im S. FISCHER Verlag in der herausragenden Übersetzung von Swetlana Geier vor.

Fjodor Michailowitsch Dostojewskij (1821-1881) war ursprünglich Leutnant in St. Petersburg. Er quittierte seinen Dienst 1844, um freier Schriftsteller zu werden. Seine Romane ›Verbrechen und Strafe‹, ›Der Spieler‹, ›Der Idiot‹, ›Böse Geister‹, ›Ein grüner Junge‹, ›Die Brüder Karamasow‹ sowie ›Aufzeichnungen aus dem Kellerloch‹ liegen im S. FISCHER Verlag in der herausragenden Übersetzung von Swetlana Geier vor. Swetlana Geier (1923–2010) hat u. a. Sinjawskij, Tolstoi, Solschenizyn, Belyi und Bulgakow ins Deutsche übertragen. Für ihr Werk, das sie mit der Dostojewskij-Neuübersetzung krönte, wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. – In der Reihe Fischer Klassik liegen sämtliche ihrer im Ammann Verlag erschienenen Dostojewskij-Übersetzungen vor: ›Verbrechen und Strafe‹ (Bd. 90010), ›Der Spieler‹ (Bd. 90446), ›Der Idiot‹ (Bd. 90186), ›Böse Geister‹ (Bd. 90245), ›Ein grüner Junge‹ (Bd. 90333), ›Die Brüder Karamasow‹ (Bd. 90114) sowie ›Aufzeichnungen aus dem Kellerloch‹ (Bd. 90102). Über ihr Leben und ihre Arbeit gibt Swetlana Geier Auskunft in dem von Taja Gut aufgezeichneten Buch ›Swetlana Geier. Ein Leben zwischen den Sprachen‹ (Bd. 19221).

Erster Teil


Erstes Kapitel


I


Ich habe es doch nicht länger ausgehalten und habe mich nun hingesetzt, um diese Geschichte meiner ersten Schritte auf dem Schauplatz des Lebens niederzuschreiben, wiewohl ich das eigentlich auch lassen könnte. Eines weiß ich bestimmt: Niemals werde ich mich noch einmal hinsetzen, um meine Autobiographie zu schreiben, und sollte ich auch hundert Jahre alt werden. Man muß schon allzu erbärmlich selbstverliebt sein, um über die eigene Person schreiben zu können, ohne sich zu schämen. Ich kann mich nur damit entschuldigen, daß ich nicht deshalb schreibe, weshalb alle schreiben, das heißt, nicht, um vom Leser gelobt zu werden. Wenn ich plötzlich darauf gekommen bin, Wort für Wort alles niederzuschreiben, was mir in diesem letzten Jahr widerfuhr, so bin ich darauf gekommen aus einem inneren Bedürfnis: So tief hat mich alles Geschehene betroffen. Ich schreibe nur die Ereignisse nieder und vermeide nach Möglichkeit alles Nebensächliche und vor allem – alles literarische schmückende Beiwerk; ein Literat schreibt dreißig Jahre lang und weiß zu guter Letzt überhaupt nicht mehr, weshalb er so viele Jahre geschrieben hat. Ein Literat bin ich nicht, ich will kein Literat sein und würde es für Erbärmlichkeit und Niedertracht halten, wollte ich das Innerste meiner Seele und eine gefällige Beschreibung meiner Gefühle auf ihrem Literaturmarkt feilbieten. Verdrossen ahne ich jedoch voraus, daß sich auf eine Schilderung von Gefühlen und Reflexionen (vielleicht sogar trivialen) nicht gänzlich verzichten läßt: So verderblich wirkt sich jede literarische Betätigung auf den Menschen aus, selbst wenn sie ausschließlich zu privaten Zwecken ausgeübt wird. Die Reflexionen können allerdings sehr wohl trivial sein, weil das, was man am höchsten schätzt, für den Außenstehenden absolut wertlos sein kann. Aber dies alles sei nur am Rande bemerkt. Überdies reicht es für eine Vorrede; mehr von dieser Art wird es nicht geben. Zur Sache; wiewohl es nichts Kniffligeres gibt, als zur Sache zu kommen – vielleicht gilt das sogar für jede Sache.

II


Ich beginne, das heißt, am liebsten möchte ich meine Notizen mit dem neunzehnten September des vorigen Jahres beginnen, das heißt genau mit dem Tag meiner ersten Begegnung mit …

Aber wenn ich einfach so, ohne weiteres, erklären würde, wem ich begegnete, bevor auch nur ein einziger Mensch etwas weiß, wäre es trivial; ich glaube sogar, schon dieser Ton ist trivial: Nachdem ich mir geschworen habe, alles literarische Beiwerk zu vermeiden, verfalle ich von der ersten Zeile an diesem schmückenden Beiwerk. Außerdem scheint es mir, daß der bloße Vorsatz, vernünftig zu schreiben, nicht ausreicht. Ferner sei bemerkt, daß es sich in keiner europäischen Sprache so mühsam schreiben läßt wie in der russischen. Ich habe gerade durchgelesen, was ich vorhin geschrieben habe, und sehe, daß ich viel klüger bin als das Geschriebene. Wie kommt es nur, daß bei einem klugen Menschen das Ausgesprochene viel dümmer ist als das, was in ihm zurückbleibt? Ich habe das mehr als einmal an mir selbst und in meinem sprachlichen Umgang mit anderen Menschen während dieses ganzen letzten, verhängnisvollen Jahres beobachtet und sehr darunter gelitten.

Wiewohl ich mit dem neunzehnten September beginnen will, möchte ich dennoch ein paar Worte darüber vorausschicken, wer ich bin, wo ich bis dahin war, wie es, wenigstens andeutungsweise, in meinem Kopf an jenem Vormittag des neunzehnten September ausgesehen hat, um mich dem Leser und vielleicht auch mir selbst verständlicher zu machen.

III


Ich habe die Gymnasiumsjahre hinter mir und stehe schon in meinem einundzwanzigsten Lebensjahr. Mein Familienname ist Dolgorukij, mein gesetzlicher Vater, Makar Iwanowitsch Dolgorukij, einstiger leibeigener Bedienter der Herren Werssilow. Auf diese Weise bin ich ehelich geboren, wiewohl ich ein mit Sicherheit unehelicher Sohn bin und meine Herkunft nicht dem geringsten Zweifel unterliegt. Die Sache verhielt sich so: Vor zweiundzwanzig Jahren war der Gutsherr Werssilow, das heißt mein eigentlicher Vater, damals fünf- undzwanzig Jahre alt, auf seiner Besitzung im Gouvernement Tula aufgetaucht. Ich nehme an, daß er zu jener Zeit keine ausgeprägte Persönlichkeit war. Es ist interessant, daß dieser Mann, der auf mich seit meiner frühesten Kindheit einen derart kapitalen Eindruck gemacht hat, meine seelische Konstitution und vielleicht sogar für lange Zeit meine Zukunft infiziert hat, daß dieser Mann, selbst heute noch, in vielerlei Hinsicht für mich ein völliges Rätsel geblieben ist. Aber dies soll erst später an die Reihe kommen. Es läßt sich nicht einfach so erzählen. Von diesem Menschen wird ohnehin in meinem ganzen Heft die Rede sein.

Er war damals, das heißt in seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr, gerade verwitwet. Verheiratet war er mit einer Fanariotowa gewesen, die, wenn auch nicht besonders reich, zu den besten Kreisen gehörte und die ihm einen Sohn und eine Tochter geschenkt hatte. Meine Kenntnisse von dieser ihm allzu früh verstorbenen Gattin waren recht unvollständig und sind in meinen Papieren untergegangen; außerdem sind mir sehr viele Details aus Werssilows Privatleben einfach entgangen, so stolz, so hochmütig, so verschlossen und herablassend hat er mich immer behandelt, trotz der verblüffenden Sanftmut, mit der er in manchen Augenblicken mir gegenübertrat. Ich erwähne im voraus, zum besseren Verständnis, daß er im Laufe seines Lebens drei Familienvermögen durchgebracht hat, und zwar sogar sehr bedeutende, im ganzen über vierhunderttausend Rubel, vielleicht sogar mehr. Jetzt besitzt er natürlich nicht eine Kopeke mehr …

Auf sein Gut war er damals gekommen, »Gott mag wissen, warum«, jedenfalls hat er sich mir gegenüber später so geäußert. Seine kleinen Kinder hatte er, wie üblich, nicht mitgebracht, sie waren bei Verwandten. So pflegte er in seinem ganzen Leben mit seinen Kindern zu verfahren, den legitimen und den illegitimen. Das Gesinde auf diesem Landgut war besonders zahlreich; dazu gehörte auch der Gärtner, Makar Iwanowitsch Dolgorukij. An dieser Stelle möchte ich einfügen, damit es ein für alle Male gesagt ist: Selten dürfte jemand seinen Familiennamen so gehaßt haben wie ich den meinen, lebenslang. Natürlich war das dumm, aber es war so. Jedesmal, ob ich nun irgendwo in eine Schule eintrat oder Personen begegnete, denen ich aufgrund meiner Jugend eine Antwort schuldig war, kurz, jeder noch so kümmerliche Gymnasiallehrer, Hauslehrer, Schulinspektor, Pope – alle, jeder beliebige hielt es für unbedingt nötig, sobald er nach meinem Familiennamen gefragt und gehört hatte, daß ich ein Dolgorukij sei, aus irgendeinem Grunde hinzuzufügen:

»Fürst Dolgorukij?« und jedesmal war ich verpflichtet, diesem müßigen Frager zu erklären:

»Nein, einfach Dolgorukij.«

Dieses einfach brachte mich schließlich beinahe um den Verstand. Hier sei bemerkt, als eine Art Phänomen, daß ich mich an keine einzige Ausnahme erinnere: So haben alle gefragt. Einigen war es offensichtlich völlig egal; und ich weiß auch gar nicht, warum zum Teufel es für irgend jemand nicht hätte egal sein sollen? Aber alle haben so gefragt, einer wie der andere. Hatte nun der Frager gehört, daß ich einfach ein Dolgorukij sei, maß er mich gewöhnlich mit einem stumpfsinnigen und gleichgültigen Blick, dadurch gleichsam bestätigend, daß er selbst nicht wußte, wozu er gefragt hatte, und ließ mich stehen. Die Mitschüler fragten am kränkendsten. Wie fragt der Schüler einen Neuen? Der eingeschüchterte und verlegene Neue ist am ersten Tag in der neuen Schule (in welcher auch immer) das allgemeine Opfer: Ihm wird befohlen, er wird geneckt, er wird wie ein Lakai behandelt. Ein vor Gesundheit strotzender fetter Bengel pflanzt sich plötzlich vor seinem Opfer auf und heftet eine Weile lang einen strengen und hochmütigen Blick beobachtend darauf. Der Neue steht schweigend vor ihm da, schielt, wenn er kein Feigling ist, aus den Augenwinkeln nach ihm und wartet, was kommen wird.

»Wie heißt du?«

»Dolgorukij.«

»Fürst Dolgorukij?«

»Nein, einfach Dolgorukij.«

»Aha, einfach Dolgorukij! Schwachkopf!«

Und er hat recht: Es gibt nichts Dümmeres, als Dolgorukij zu heißen, ohne Fürst zu sein. Und diese Dummheit haftet an mir ohne eigene Schuld. Später, als ich mich bereits darüber erboste, antwortete ich auf die Frage »Bist du Fürst?« stets:

»Nein, ich bin der Sohn eines Gesindeknechts, eines ehemaligen Leibeigenen.«

Später noch, als meine Wut bereits den Siedepunkt erreicht hatte, antwortete ich einmal auf die Frage »Sind Sie Fürst?« mit fester Stimme:

»Nein, einfach Dolgorukij, unehelicher Sohn meines einstigen Gutsherrn, des Herrn Werssilow.«

Ich hatte mir das bereits in der sechsten Klasse des Gymnasiums zurechtgelegt, und obwohl ich mich sehr bald von meiner zweifellosen Dummheit überzeugt hatte, gab ich dennoch meine dumme Floskel nicht so bald auf. Ich erinnere mich, daß einer der Lehrer – übrigens blieb er der einzige – meinte, ich sei »von einer rachsüchtigen sozialen Idee erfüllt«. Im allgemeinen wurde dieser Einfall mit einer kränkenden Nachdenklichkeit quittiert. Schließlich sagte mir einer meiner Mitschüler, ein Junge mit einer sehr spitzen Zunge, mit dem ich mich höchstens einmal im Jahr unterhielt, mit ernster Miene, aber den Blick an mir vorbeigerichtet:

»Solche...

Erscheint lt. Verlag 31.1.2012
Reihe/Serie Fjodor M. Dostojewskij, Werkausgabe
Übersetzer Swetlana Geier
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 19. Jahrhundert • Anspruchsvolle Literatur • Arkadij Makarowitsch Dolgurukij • Aufschneider • Christentum • Erpressung • Fünf Elefanten • Glücksspiel • Großstadt • Gymnasiast • Hierbei handelt es sich um eine Vorabmeldung. In Kürze werden wir an dieser Stelle Schlagwörter z... • Idealismus • Lebensziel • Märchenonkel • Moskau • Petersburg • Pilgerschaft • Roman • Russland • Selbstlosigkeit • Vatersuche
ISBN-10 3-10-401888-X / 310401888X
ISBN-13 978-3-10-401888-1 / 9783104018881
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