Gentlemen, wir leben am Abgrund (eBook)
368 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30545-6 (ISBN)
Thomas Pletzinger, geboren 1975, wuchs in der Basketballstadt Hagen auf und verbrachte seine ganze Jugend in Sporthallen. Für eine Profikarriere reichte es nicht, stattdessen studierte er Amerikanistik in Hamburg und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sein Romandebüt »Bestattung eines Hundes« erschien 2008, danach begleitete er für sein Sachbuch »Gentlemen, wir leben am Abgrund« (2012) ein Jahr lang die Basketballprofis von Alba Berlin. Zuletzt erhielt er für seine Arbeit den Comicbuchpreis der Berthold Leibinger-Stiftung und das Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds. Er lebt mit seiner Frau und seinen drei Töchtern in Berlin und arbeitet als Autor, Journalist und Übersetzer.www.thomaspletzinger.de
Thomas Pletzinger, geboren 1975, wuchs in der Basketballstadt Hagen auf und verbrachte seine ganze Jugend in Sporthallen. Für eine Profikarriere reichte es nicht, stattdessen studierte er Amerikanistik in Hamburg und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sein Romandebüt »Bestattung eines Hundes« erschien 2008, danach begleitete er für sein Sachbuch »Gentlemen, wir leben am Abgrund« (2012) ein Jahr lang die Basketballprofis von Alba Berlin. Zuletzt erhielt er für seine Arbeit den Comicbuchpreis der Berthold Leibinger-Stiftung und das Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds. Er lebt mit seiner Frau und seinen drei Töchtern in Berlin und arbeitet als Autor, Journalist und Übersetzer. www.thomaspletzinger.de
Prolog
Großes Schweigen im Bus nach Bamberg. Alle sind auf ihren Plätzen, alles ist wie immer: der dicke Micha am Steuer, dahinter sitzen Baldi und Demirel und Coach Katzurin, alle arbeiten und telefonieren. Konsti liest Handke, Bobby schnarcht. Mein Platz ist neben den Wasserkästen. Die Spieler reisen oben im Doppeldecker, kreuz und quer über die Sitze verteilt, Yassin Idbihi inmitten von Zeitungsseiten, Süddeutsche, Spiegel, taz, gleich daneben Schaffartzik mit Buch. Schultze und Femerling diskutieren, Rochestie singt vor sich hin, Beach Boys, Rochestie singt immer vor sich hin. Staiger schläft auf dem Gang, der 2,13-Mann Miro Raduljica sitzt kerzengerade eingeklemmt zwischen den Liegesesseln, den Blick stoisch nach vorn, Tadija kann nicht stillhalten. Bryce sitzt dort, wo früher Hollis Price gesessen hat. Jenkins unter Kopfhörern ganz hinten auf der Rückbank, Derrick Allen mit den Scoutingpapieren, McElroy in sein Kissen gewickelt. Ganz vorn der Physio, Tommy und Hi-Un, der Doc. Alles ist wie immer und gleichzeitig ist alles anders. Heute ist ein perfekter Tag für eine letzte Busfahrt, klar und sauber, die Sonne über allem. Die Route ist wie immer: Siegessäule, Avus, Schkeuditzer Kreuz, Pause an der Autobahn, bergauf, bergab, Bamberg. Es liegt Melancholie in der Luft, aber das würde niemand zugeben. Am Morgen haben ein paar Spieler ihre Schränke im Trainingszentrum geräumt, Duschgel und Kinderbilder, Amulette und löchrige Socken. Der dicke Micha hat die Taschen eingeladen und jeden einzeln begrüßt. »Das allerletzte Mal heute«, hat er gesagt, »danach fahr ich euch nirgendwo mehr hin.«
Die Saison war lang, die längste in der Geschichte von Alba Berlin. Wir sind seit mehr als zehn Monaten unterwegs. Seit dem Trainingslager in Kranjska Gora in den slowenischen Alpen sitzen wir in Bussen, Flugzeugen und Umkleidekabinen, wir standen an italienischen Buffets, an Gepäckbändern in Moskau, wir saßen in Quakenbrücker Konferenzräumen, auf Hagener Kabinenbänken, in Cafés an der Peripherie von Sevilla, wir checkten ein, wir checkten aus. Wir steckten im Schnee und in der Krise. Wir waren in hundert Autobahnraststätten, dreißig mitternächtlichen McDonald’s, Burger Kings und Subways. Ich sage »wir«, weil ich die Mannschaft von Alba Berlin seit letztem August begleite. Die Spieler haben Gewichte gehoben, Videos gesehen, Interviews gegeben, sich die Knöchel tapen lassen, Autogramme geschrieben und Wunden geleckt. Ich habe auf meinem Platz in der Kabine gesessen, ich habe zugesehen, hingehört und mitgeschrieben. Ich habe gegessen, was die Mannschaft gegessen hat, ich habe Stück für Stück meine Objektivität aufgegeben. Ich bin dabei gewesen.
Die Mannschaft hat in diesen zehn Monaten fast siebzig Spiele gespielt, in der Euroleague-Qualifikation, im Eurocup, Pokal und in der Bundesliga. Es gab schlimme Niederlagen, es gab Tränen, Nasenbluten, Sehnenrisse. Diese Saison war eine lange Reise durch schwierige Landschaft: das frühe Ausscheiden im Eurocup, die verfehlten Erwartungen, bittere Niederlagen, Beschwerdegesichter bei Fans und Journalisten. Der Tiefpunkt war die höchste Niederlage der Vereinsgeschichte: ein 52:103-Kugelhagel, ausgerechnet in der Bamberger Halle. Wir wurden aus der Stadt gejagt, Hohn und Spott, Schimpf und Schande. Coach Katzurin löste Luka Pavićević als Trainer ab, zwei Spieler gingen, drei neue kamen. Wir verloren weiter, es gab Niederlagen in Serie, es ging immer weiter bergab. Wir scheiterten im Pokal. Dann gab es einige überzeugende Siege, es ging endlich wieder bergauf.
Vor allem aber ging es immer weiter: Alba Berlin hat die Playoffs erreicht. Und morgen ist Samstag, der 18. Juni, und die Mannschaft von Alba Berlin ist immer noch dabei, wir sind immer noch dabei – viel länger, als die Journalisten geschrieben und die meisten vermutet haben, viel länger, als Bobby vorausgesagt hat. Vielleicht hat manchmal sogar der Mannschaft selbst die Überzeugung gefehlt. Dieser 18. Juni war monatelang ein abstraktes Datum, ein irrealer Tag in weiter Ferne: der allerletzte Spieltag der Saison. Um diesen Tag zu erreichen, mussten unwahrscheinliche und unglaubliche Dinge geschehen: Zwei kräftezehrende und nervenzerfetzende Playoff-Serien gegen Oldenburg und Frankfurt mussten gewonnen werden, das Finale musste in die fünfte und entscheidende Runde gehen.
Und jetzt sitzen wir im Bus und fahren nach Bamberg, zum Finale um die Deutsche Meisterschaft. Das alles klingt wie für Sportromantiker ausgedacht, als wäre es Romanmaterial, ein Drehbuch vielleicht, samt Showdown auf der staubigen Hauptstraße eines Dorfes, und Ennio Morricone dirigiert. »Noch ein Kapitel für dein Buch?«, hat Yassin Idbihi nach jedem gewonnenen Spiel gefragt, als hätte ich mir diese Saison ausgedacht, um etwas erzählen zu können. Morgen ist Samstag, der 18. Juni, morgen kann Alba Berlin nach einer turbulenten und komplizierten Spielzeit trotz allem noch deutscher Meister werden. Wir fahren Richtung Südwesten. Diese Saison mag wie eine rasante Achterbahnfahrt klingen, aber sie fühlt sich an wie eine irrwitzig lange Busreise Richtung Bamberg.
Die Spieler reden, aber wenn zwanzig Männer zehn Monate lang im Bus sitzen, verliert das Sprechen immer mehr an Bedeutung. Englisch ist die Sprache der Basketballwelt und die lingua franca im Bus. Am Ende einer Saison kann ein Außenstehender den Unterhaltungen kaum mehr folgen. Femerling und Schultze diskutieren seit der Abfahrt heute Morgen über irgendetwas, an das sich keiner von beiden genau erinnern kann. Vielleicht ging es ursprünglich einmal um Telefone, BlackBerry-vs.-iPhone, oft beginnt es mit solchen Dingen, aber jetzt geht es darum, wer wann was und wie gesagt hat. Die beiden diskutieren über das Diskutieren an sich. Seit Monaten sitzen sie nebeneinander in Mannschaftsbussen und Flugzeugen, seit Monaten teilen sie sich die Hotelzimmer. Femerling ist Waldorf und Schultze ist Statler, sie sind Müller-Lüdenscheidt und Doktor Klöbner.
Eine professionelle Basketballmannschaft ist eine eigentümliche Familie, in der bereits alles gesagt wurde, die aber trotzdem weiter redet. Die Sprache einer Basketballmannschaft ist rau und roh, sie ist voller Schmähungen, Superlative, Sexismen und nationaler Vorurteile. Es wird imitiert, drei Sprachen werden miteinander verquirlt, es wird gegrölt, anzitiert, uneigentlich gesprochen, es wird gespottet. Es wird in drei Sprachen geflucht, Alter, what’s wrong with you, brate!, es wird albern, kindisch, klug, grandios, es wird lautpoetisch, »NeinNeinNein«, sagt Femerling, »DochDochDoch«, sagt Schultze. Und wenn es drauf ankommt, versteht sich eine gute Basketballmannschaft ganz ohne Worte.
Wir verlassen Berlin zum letzten Mal in dieser Saison. An den Busfenstern rauschen die alten Autobahnraststätten und Grenzanlagen der Stadt vorbei. Der Berliner Bär nickt uns melancholisch zu.
Ich muss etwa neun Jahre alt gewesen sein, als ich irgendwann im Herbst 1984, kurz nach meiner Erstkommunion, in einer Fünfziger-Jahre-Turnhalle in Hagen zum ersten Mal einen Basketball in die Hand bekam. Im Bus nach Bamberg erinnere ich mich an die Glasbausteine und Sprossenwände, an den dunklen Geruch des Geräteraums, die Risse in der blauen Weichbodenmatte, an die anderen Kinder, die längst wussten, was ein Korbleger war, rechts-links-hoch, verstehst du? Mein Cousin Andreas hatte mich mitgenommen, mein erster Trainer hieß Martin Grof, in meiner Erinnerung trägt er grün-weiße Turnschuhe von Converse und ausgewaschene Jeans. Basketball galt damals als Sportart für Studenten. Martin fuhr einen alten Opel, glaube ich, er wird Student gewesen sein. Er brachte mir bei, dass man die Hand beim Wurf abknickt, dass sich der Ball rückwärts drehen soll, dass eine hohe Flugkurve das Wichtigste ist, er zeigte uns immer wieder, wie der Ball fliegen sollte, er traf einen Wurf nach dem anderen, er gab den Rhythmus beim Korbleger vor, tak-tak-tak, immer wieder rechts-links-hoch, eine Art Tanz, tak-tak-tak.
In meinem ersten Sommer als Basketballer fuhr ich mit dem Linienbus 512 zum Training, manchmal durften Andreas und ich in Martins winziger Wohnung ein Basketballvideo aus Amerika sehen, der Fernseher auf einer umgedrehten Bierkiste, eine importierte Videokassette mit dem fünften Spiel der Finalserie Boston Celtics gegen Los Angeles Lakers im alten Boston Garden. Mehr gab es nicht. Immer wieder Spiel Nummer fünf, Boston gewann immer wieder 121:103.
»Martins Bruder ist Profi«, sagten die anderen Kinder, und irgendwann sah ich mein erstes Bundesligaspiel, das Derby SSV Hagen gegen TSV Hagen in der verrauchten und völlig überfüllten Ischelandhalle, ich hielt mir die Ohren zu vor Lärm und die Augen vor Spannung. Ich war erstaunt, dass Menschen derartig hoch springen konnten wie der schwarze Aufbauspieler Keith Gray, der sekundenlang in der Luft stand, ehe er warf. Ich war verblüfft und verängstigt von der wilden Begeisterung erwachsener Menschen, von ihren Trommeln, ihren Gesängen, vom Biergeruch und Zigarettenrauch. In einem Aufsatz über die Welt im Jahr 2000 schrieb ich damals, dass ich Basketballprofi in Amerika sein würde, genauer: in Boston (ohne die geringste Ahnung zu haben, wo Boston genau lag). Ich würde gegen Magic Johnson spielen, ich würde gewinnen, 121:103. Meine Lehrerin Frau Elsner attestierte mir im Zeugnis »die Tendenz, manchmal fast poetisch abzuschweifen«.
Meine Jugend habe ich in Turnhallen verbracht, ich erinnere mich an jede einzelne, die Umkleidekabinen, Waldläufe, Krafträume,...
Erscheint lt. Verlag | 5.1.2012 |
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Zusatzinfo | zahlreiche farbige Fotos |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | Alba Berlin • Beobachtung • Fans • Geschichten • Profi-Basketball • Saison-Report • Spiel • Sport-Mannschaft • Thomas Pletzinger • Trainer |
ISBN-10 | 3-462-30545-X / 346230545X |
ISBN-13 | 978-3-462-30545-6 / 9783462305456 |
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