... wenn man genügend Tran im Blut hat und den passenden Anzug aus Neopren. Geschichten über die Menschen am Rande der Welt, erzählt vom langjährigen ARD-Korrespondenten Tilmann Bünz.
Tilmann Bünz hat sich einen ganzen langen Sommer auf die Reise gemacht zu den Menschen am Rande der Welt. Wer vier Monate Zeit hat, kann sich den Luxus der allmählichen Annäherung leisten, statt alles zu überfliegen. Keine Askese, keine Strapazen auf dem Inlandseis, kein Überlebenstraining in der Tundra. Der Autor hängt am Norden, aber auch am guten Essen, und schläft im Zweifel lieber in der Kajüte als im Zelt.
Die Reise beginnt mit der ersten Wollgrasblüte in Grönland Anfang Juni. Es folgen eine Wanderung über die versteinerten Wälder auf Spitzbergen und ein Tagestrip (fast bis) zum Nordpol. Weiter geht es nach Norwegen, entlang der Küste mit dem legendären Postboot, und zurück durch den Altweibersommer in Lappland. Die Reise endet nicht überraschend - vor der eigenen Haustür im Stockholmer Schärengarten, wo sich Eisberge zu Weinbergen gewandelt haben.
Tilmann Bu?nz, 1957 geboren, war lange Jahre ARD-Korrespondent für Skandinavien und die baltischen Staaten. Er ist Autor und Dokumentarfilmer. Für dieses Buch schwang er sich in den Sattel und radelte von Litauen über Lettland nach Estland. Er lebt in Hamburg und in den Schären vor Stockholm.
Es ist wie auf einem Frühflug der Lufthansa, lauter Männer, und alle schweigen. Die Stewardess mit ihrem blauen Käppi und dem gelben Tuch wirkt inmitten all der Herren im dunklen Goretex wie ein bunter Vogel.
Sie hat alle Aufmerksamkeit, und wer sie besonders nett bittet, bekommt Kaffee und Wasser nachgeschenkt. Ich gehe leer aus und tröste mich mit dem Blick aus dem Fenster.
Unter uns der offene Nordatlantik. Gegenwind mit sieben Windstärken, Schaumkronen auf den Wellen. Die Propellermaschine gewinnt rasch an Höhe, oben wird es ruhiger.
Isländer mögen so ein Wetter. Aus der Bordzeitung lächelt mir ein junges Mädchen entgegen, im Hintergrund ein schöner Fjord vor einem schneebedeckten Berg.
»Das ist Djúpavik: Das Wasser hat fünf Grad. An guten Tagen.«
Auf einer Landzunge westlich von Reykjavík liegt verborgen unter der Wolkendecke der Krater des erloschenen Vulkans Snæfel, der schon Jules Verne zum Einstieg ins Innere der Erde inspirierte.
Der Snæfel schweigt seit langem, dafür sind andere Vulkane wie der Hekla alle zehn Jahre fällig, hier, wo sich die Kontinente treffen, wo Amerika und Europa zusammenstoßen. Island ist geologisch gesehen noch ein Provisorium, eine junge Insel in der Pubertät, die ständig ihre Form verändert. Ist es da ein Wunder, dass jeder zweite Isländer an Elfen glaubt?
Letzte Nacht im kleinen hölzernen Gasthaus aus dem Jahr 1912 direkt neben dem isländischen Parlament roch die Dusche gerade so leicht nach Schwefel, dass mir eher Hekla und der Teufel in den Sinn kamen als faule Eier. Mit eingeseiften Haaren ist es ein Trost zu wissen, dass man in Island nie Angst haben muss, plötzlich unter einer kalten Dusche zu stehen. Wenn die Insel aus Feuer und Eis etwas im Überfluss hat, dann sind es heiße Quellen. Hier fließt sogar Wasser aus dem Heizungssystem der Hauptstadt in eine nahegelegene Bucht – und erwärmt dort ein offenes Meeresschwimmbecken.
Grönland hat andere Schätze
Nach einer knappen Flugstunde über das offene Meer haben wir schließlich wieder festes Land unter uns, allerdings keines, das zur Landung einlädt, sondern Grönlands dicken Eispanzer: mal eine geschlossene Fläche, mal ein Gebirge von Zacken.
Es sollte bis in die Neuzeit dauern, bis der erste Mensch den Eispanzer von Ost nach West bezwang, mit Skiern an den Füssen und mit Schlitten im Schlepptau. Fridtjof Nansen, norwegischer Polarforscher und Volksheld, und seine einheimischen Gefährten brauchten 1888 sechs Wochen für die mühsame Strecke auf dem Eisschild.
Island und Grönland haben eines gemeinsam: Beide waren Kolonien Dänemarks. Island ist seit 1945 unabhängig, Grönland ist auf dem Weg dahin, lebt aber noch vom jährlichen Scheck aus Kopenhagen, der einen wesentlichen Teil des Staatshaushalts deckt. Seit 2009 bestimmen die Dänen nur noch über die Verteidigungs- und die Außenpolitik. Die Grönländer können jederzeit gehen, so ist letzte Abmachung – aber ohne Geld.
Dass so viele Abenteurer mit Aktentaschen in der Maschine sitzen, ist noch ein ungewohntes Bild.
Der neue Goldrausch begann vor ein paar Jahren parallel zum Klimawandel. Anfang Juni ist der Beginn des arktischen Sommers und eine gute Zeit, um Grönland anzubohren. Der Eispanzer hat sich dann so weit zurückgezogen, dass an 120 Stellen im ganzen Land nach Mineralien und seltenen Erden gesucht wird. Dazu braucht man Ingenieure, Geologen, Baggerfahrer und Piloten – die Vorboten der Großindustrie, die hier nach Gold, Zinn und Öl bohren und Aluminium schmelzen wollen.
Deshalb sind die Zimmer im Hotel an der Hauptstraße von Nuuk ausgebucht, bis auf ein winziges Kämmerchen ohne Ausblick.
Das Taxi zeigt Spuren eines Diebstahls, offenbar hat jemand versucht, die Tankklappe herauszuhebeln, um sich unerlaubt zu bedienen.
Es regnet bei zwei Grad, es ist Anfang Juni, und mit mir reisen allerlei düstere Gedanken. Was nützt es mir, dass es den ganzen Tag hell ist, wenn es ununterbrochen nieselt? Wo sind die starken Farben der Arktis in all diesem Grau?
Zu allem Überfluss platzt mein erster Termin. In einem Vorort von Nuuk wollte ich mir einen neu angelegten Garten anschauen.
»Die Blumen blühen noch nicht«, heißt es lapidar in der Textmitteilung, die während der Landung auf meinem Handy eingegangen ist. Ich kann es ihnen nicht verdenken.
Wenn ich nicht wüsste, wie schön Grönland ist, würde ich mich jetzt unwohl fühlen.
Platte am Polarkreis
Nuuk ist keine Perle der Arktis. Nuuk ist vor allem eine Funktion: als Sitz der Regierung, des Parlaments und der Universität, als Hauptstadt von 60 000 Grönländern. Ausländische Delegationen werden lieber gleich nach Ilulissat an den Eisfjord geleitet, zwei Tagesreisen nördlich mit dem Schiff, wo malerisch die Eisberge vorbeitreiben.
Nuuk wurde Hauptstadt, weil die Dänen 1721 einen Missionar namens Hans Egede herschickten auf der Suche nach den Nachkommen der Wikinger – und er zufällig in dieser Bucht an Land ging.
»Es ist keine gute Bucht«, hat mir mal eine Grönländerin erklärt. »Viel zu dicht am Meer und seinen Stürmen.«
Der Missionar wurde von den Inuit nicht mit Halleluja empfangen. In ihrer Sprache gab es kein Wort für Mann und Frau und auch nicht für Hölle; wohl aber für männlich und weiblich. Gott etwa war weiblich. Aber im Gefolge des Missionars kamen ein bisschen Wohlstand, Feuerwaffen, Zucker und Aquavit. Also wurden die Inuit Christen, und wenn sie das Christkind in ihren Kirchen verehren, dann sieht Jesus wie ein Inuit aus.
Nach Nuuk kommt man, weil man muss. Oder weil es die Regierung so wollte. Nuuk ist eine Art »Neue Heimat«, eine künstliche Stadt.
Lange Zeit hielt Dänemark Grönland wie ein einziges großes Reservat. Dahinter steckte ökonomisches Kalkül, denn so konnte die Kolonialmacht allein den Handel mit Grönlands Naturschätzen diktieren. Dahinter mag man aber vielleicht auch Fürsorge vermuten: Die Eskimos, wie man sie damals nannte, sollten ihr Leben als eine Art »edle Wilde« leben dürfen und vom Prozess der Zivilisation verschont bleiben.
Zwischen 1950 und 1960 änderte Dänemark diese Politik radikal. Zehntausend Menschen zogen aus den kleinen Siedlungen in die große leistungsfähige Stadt.
Nuuk ist ein Anschauungsbeispiel für forcierte Modernisierung, Kolonialgeschichte und schlechtes Gewissen. Denn eine Zentralheizung ist nicht alles; Menschen brauchen auch eine Aufgabe.
Bei Kolonialzeit denkt man gern an alte schöne Holzhäuser. Ein Dutzend davon stehen am Hafen, dort wo früher das Machtzentrum war, die Königlich Grönländische Handelsgesellschaft, die Perlen und Schnaps gegen Tran, Felle und Zink tauschte.
Aber Grönland war auch noch Kolonie, als die anderen Länder längst unabhängig waren. Die Siedlungen der Jahre zwischen 1950 und 1980 erinnern an die Plattenbauten aus den Zeiten des real existierenden Sozialismus, wie man sie auch heute noch in Moskau, Bukarest und Havanna sieht. Hans Magnus Enzensberger hat über die Behausungen mit den tropfenden Wasserhähnen und kaputten Liften einmal gesagt, sie stünden für den höchsten Grad der Unterentwicklung.
Es galt, möglichst schnell, möglichst billig möglichst viele Menschen unterbringen.
Die dann kamen, waren an ein anderes Leben gewöhnt, mit mehr Außenluft, weniger Nähe zum Nachbarn, ein Leben für die Jagd.
Mein erster Spaziergang in Nuuk führt zu diesen heruntergekommenen Häusern, die so gesichtslos sind, dass sie zur groben Orientierung ihrer Bewohner durchnummeriert wurden von eins bis zehn.
Jeder dieser Blöcke ist eine halbe Meile lang, nein ich übertreibe, nur ein paar hundert Meter, und wie immer ist die Draufsicht sicherlich ganz anders als die Perspektive der Menschen, die dort möglicherweise gerne leben.
Ich gehe etwas betreten an den Balkonen vorbei, auf denen Wäsche zum Trocknen hängt, und weiche dabei den Pfützen auf dem Vorplatz aus.
Es sind diese Blocks, die Peter Høeg meint, wenn er in seinem Buch »Fräulein Smillas Gespür für Schnee« schreibt: »Grönland hat eine Kriminalitätsstatistik wie im Krieg.«
Die Blöcke sind so langgestreckt, dass sie von einer Querstraße bis zur anderen reichen, in allen Stadien des Verfalls. Beton blättert nicht, verfault nicht, er zerfällt langsam. Mir kommt aus meiner Schulzeit der alte Werbespruch mit Blumenkübeln aus Sichtbeton in den Sinn, bei dem wir nie wussten, ob er ernst gemeint war oder besonders ironisch: »Beton – es kommt darauf an, was man daraus macht.«
Doch wer weiß. Gut möglich, dass man sich an diese Bauten gewöhnen kann. Vielleicht geht der Blick der Bewohner eher auf die Passanten, auf bekannte Gesichter, als auf die Fassaden. Sonst bleibt natürlich auch noch der Blick nach oben.
Dem Himmel nämlich, dem nordischen weiten Himmel, kann auch die kälteste Architektur nichts anhaben.
Grönland ist schnell gewachsen. Bis 1950 war Grönland eine geschlossene Gesellschaft, fast ein Reservat, die Dänen regelten den Zutritt. Nur wenige Besucher kamen hierher.
Es sollte möglichst wenig Veränderung geben, aber um die
Einheimischen besser auseinanderhalten zu können, vergab die Kirche Nachnamen; wie es scheint immer dieselben.
Der Grabstein vor dem Laden an der Hauptstraße verrät gewisse Vorlieben. Er steht vor einer Werkstatt, die auch Betonfundamente und Granitsockel liefert. Der Stein trägt die sechs gebräuchlichsten Namen, man kann zwischen verschiedenen Schrifttypen wählen. Demnach heißt der gewöhnliche Grönländer mit...
Erscheint lt. Verlag | 12.12.2011 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | ARD • eBooks • Grönland • Korrespondent • Kultur • Länder • Nordeuropa • Reise • Reisebericht • Reisen • Skandinavien • Sommer • Spitzbergen • Tundra |
ISBN-10 | 3-641-06519-4 / 3641065194 |
ISBN-13 | 978-3-641-06519-5 / 9783641065195 |
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