Gormenghast. Band 3 (eBook)
328 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-10182-9 (ISBN)
Mervyn Peake, geboren 1911 im Kaiserreich China, ist neben seinen literarischen Werken auch als Maler und Illustrator hervorgetreten. Mit »Gormenghast« wurde er international bekannt. Peake starb 1968 in Burford bei Oxford.
Mervyn Peake, geboren 1911 im Kaiserreich China, ist neben seinen literarischen Werken auch als Maler und Illustrator hervorgetreten. Mit »Gormenghast« wurde er international bekannt. Peake starb 1968 in Burford bei Oxford.
Vierundzwanzig
nd so stand aufgrund einer Laune des Zufalls eine neue Gruppe Gäste unter ihm: Einige waren fortgehumpelt, andere weggeglitten. Einige waren fröhlich gewesen, andere hochmütig.
Diese besondere Gruppe war weder das eine noch das andere, sondern beides, was den Auswüchsen ihrer Gehirnakrobatik zugute kam. Es waren hochgewachsene Gäste, und sie merkten nicht, dass sie durch ihre zufällige Größe und Schlankheit zusammen einen Hain bildeten – einen Menschenhain. Sie drehte sich um, diese Gruppe, dieser Gästehain, drehte sich um, als ein Neuankömmling sich zentimeterweise seitlich weiterschob und zu ihnen stieß. Er war klein, dick und saftlos und höchst unpassend in diesem luftigen Wäldchen, wo er aussah, als sei er gestutzt worden.
Eine aus dieser Gruppe, ein schlankes Wesen, dünn wie eine Rute, gehüllt in Schwarz, das Haar ebenso schwarz wie das Kleid und die Augen so schwarz wie das Haar, wandte sich an den Neuankömmling.
»Treten Sie zu uns«, sagte sie. »Sprechen wir miteinander. Wir brauchen Ihren beständigen Verstand. Wir sind so bedauerlich emotional. Solche Babys.«
»Nun, ich möchte kaum …«
»Sei still, Leonard. Du hast schon genug geredet«, sagte die schlanke, ziegenäugige Mrs. Grass zu ihrem vierten Ehemann. »Entweder Mister Ackerblatt oder gar nichts. Kommen Sie, mein lieber Ackerblatt. So … hier … ja … ja …«
Der saftlose Ackerblatt schob sein Kinn vor – ein staunenswerter Anblick, denn selbst wenn er sich entspannte, wirkte das Kinn noch wie ein Rammbock, etwas, mit dem man zustieß – eine Waffe.
»Liebe Mrs. Grass«, sagte er, »Sie sind immer so unberechenbar freundlich.«
Der magere Mister Spill hatte einen Kellner herbeigewunken, aber nun kauerte er sich plötzlich nieder, so dass sich sein Ohr auf gleicher Höhe mit Ackerblatts Mund befand. Er sah Mister Ackerblatt beim Niederhocken nicht an, sondern erhielt, indem er die Augen an ihre östlichen Extrempunkte rollte, einen sehr deutlichen Blick auf Ackerblatts Profil.
»Ich bin ein bisschen taub«, sagte er. »Würden Sie das bitte wiederholen? Sagten Sie ›unberechenbar freundlich‹? Wie komisch!«
»Seien Sie nicht albern«, sagte Mrs. Grass.
Mister Spill richtete sich auf volle Arbeitshöhe auf, was vielleicht noch eindrucksvoller hätte sein können, wären seine Schultern nicht so gebeugt gewesen.
»Meine liebe Dame«, sagte er. »Wenn ich albern bin, wer hat mich dann so gemacht?«
»Wer denn, mein Lieber?«
»Das ist eine lange Geschichte …«
»Dann lassen wir es, oder?«
Sie drehte sich langsam in der Hüfte, bis die kleinen konischen, auf Mister Kestrel gerichteten Brüste auf alle Welt wie eine Art köstliche Bedrohung wirkten. Ihr Mann, Mister Grass, der dieses Manöver mindestens hundert Mal gesehen hatte, gähnte furchterregend.
»Erzählen Sie mir«, sagte Mrs. Grass, während sie eine neue Breitseite nackter Erotik auf Mister Kestrel losließ, »erzählen Sie mir, mein lieber Ackerblatt, alles über sich.«
Mister Ackerblatt gefiel es nicht mehr, auf so lässige Weise von Mrs. Grass angeredet zu werden, und wandte sich an deren Gatten.
»Ihre Frau ist eine ganz Besondere. Sehr selten. Neigt zu Spekulationen. Sie spricht mit mir mit dem Hinterkopf und starrt dabei Mister Kestrel an.«
»Aber das ist genau, wie es sein sollte!«, rief Mister Kestrel, und seine Augen traten vor Aufregung heraus. »Denn das Leben muss anders, unpassend, anstößig und elektrisch sein. Das Leben muss rücksichtslos und so voller Liebe sein, wie man es zwischen Jaguarfängen findet.«
»Ich mag Ihre Art zu reden, junger Mann«, sagte Grass, »nur weiß ich nicht, was Sie sagen.«
»Was murmeln Sie da?«, fragte der luftige Spill, beugte einen Arm wie einen Ast und umfasste sein Ohr mit einem Büschel Zweigen.
»Sie sind irgendwie göttlich«, flüsterte Kestrel und meinte Mrs. Grass.
»Ich glaube, ich sprach mit Ihnen, mein Lieber«, sagte Mrs. Grass über die Schulter zu Mister Ackerblatt.
»Ihre Frau spricht wieder mit mir«, sagte Ackerblatt zu Mister Grass. »Hören wir, was sie zu sagen hat.«
»Sie reden auf merkwürdige Weise über meine Frau«, sagte Grass. »Geht sie Ihnen auf die Nerven?«
»Das täte sie, wenn ich mit ihr leben würde«, erwiderte Ackerblatt. »Und wie steht’s mit Ihnen?«
»Oh, mein lieber Mann, wie naiv Sie sind. Da ich mit ihr verheiratet bin, sehe ich sie doch nur selten. Was nützt einem die Ehe, wenn man ständig dabei auf seine Frau stößt? Da könnte man genausogut nicht verheiratet sein. O nein, mein Lieber. Sie macht, was sie will. Es ist eigentlich ein Zufall, dass wir uns heute Abend hier getroffen haben. Sehen Sie? Und wir genießen das – es ist wie das erste Mal verliebt sein, ohne das Herzeleid – ohne das Herz eigentlich. Kalte Liebe ist die herrlichste von allen. So klar, so scharf, so leer. Kurz: so zivilisiert.«
»Sie sind einfach sagenhaft«, sagte Kestrel mit einer Stimme, die vor Leidenschaft so gedämpft klang, dass Mrs. Grass gar nicht merkte, dass sie gemeint war.
»Mir ist so heiß wie einem gekochten Rübchen«, sagte Spill.
»Aber sagen Sie mir, Sie schrecklicher Mensch, wie ich mich fühle?«, rief Mrs. Grass, als sie einen Neuankömmling sah, und säumte ihre Schönheit mit der Schärfe ihrer Stimme. »Ich sehe dieser Tage so gut aus, dass es selbst mein Gatte bemerkte, und Sie wissen, wie Gatten sind.«
»Ich habe keine Ahnung, wie sie sind«, sagte der eben an ihrem Ellbogen angekommene fuchsartige Mann, »aber Sie müssen es mir verraten. Wie sind sie? Ich weiß nur, was aus ihnen wird … und vielleicht … was sie dazu getrieben hat.«
»Oh, Sie sind aber gerissen. Schlau und gerissen. Aber Sie müssen mir alles erzählen. Was ist mit mir, mein Lieber?«
Der fuchsartige Mann (ein schmalbrüstiges Wesen mit rötlichem Haar über den Ohren, einer spitzen Nase und einem Gehirn, das viel zu groß für ihn war, um damit fertig zu werden) erwiderte:
»Sie fühlen, meine liebe Mrs. Grass, ein Bedürfnis nach etwas Süßem. Zucker, schlechte Musik oder etwas Ähnliches erfüllt vielleicht vorläufig denselben Zweck.«
Das schwarzäugige Wesen, die Lippen halb geöffnet, die Zähne glänzend wie Perlen, die Augen in erregter Lebhaftigkeit auf das Fuchswesen vor sich geheftet, verschränkte die feingliedrigen Hände vor den konischen Brüsten.
»Sie haben ganz recht! Oh, ja, so recht«, sagte sie atemlos. »So absolut und wunderbar recht. Sie brillanter, brillanter kleiner Mann; etwas Süßes brauche ich.«
Inzwischen machte Mister Ackerblatt Platz für eine langgesichtige Gestalt in einem Löwenfell. Über Kopf und Schultern hing eine schwarze Mähne.
»Ist es nicht ein bisschen heiß hier?«, fragte der junge Kestrel.
»Ich sterbe fast«, erwiderte der Mann mit dem fahlen Fell.
»Aber warum?«, fragte Mrs. Grass.
»Ich dachte, es sei ein Kostümfest«, sagte das Fell, »aber ich darf mich nicht beklagen. Alle waren sehr freundlich zu mir.«
»Das hilft aber nicht gegen die Hitze, die Sie hier erzeugen«, sagte Mister Ackerblatt. »Warum schmeißen Sie es nicht einfach von sich?«
»Es ist alles, was ich auf dem Leib trage«, sagte das Löwenfell.
»Wie köstlich!«, rief Mrs. Grass. »Ich finde Sie unendlich aufregend! Wer sind Sie?«
»Aber meine Liebe«, sagte der Löwe und blickte Mrs. Grass an. »Sicher wirst du …«
»Was, o König der Tiere?«
»Erinnerst du dich nicht an mich?«
»Ihre Nase lässt etwas bei mir klingeln«, sagte Mrs. Grass.
Mister Spill senkte seinen Kopf aus den Rauchwolken. Dann drehte er ihn, bis er längsseits vor Mister Kestrel kam. »Was hat sie gesagt?«, fragte er.
»Sie ist eine Million wert«, sagte Kestrel. »Lebhaft, glänzend, was für ein verspieltes Ding!«
»Verspieltes Ding?«, fragte Mister Spill. »Wie meinen Sie das?«
»Das würden Sie doch nicht verstehen«, erwiderte Kestrel.
Der Löwe kratzte sich mit einem gewissen Charme. Dann sprach er Mrs. Grass an.
»Meine Nase bringt also etwas zum Klingeln – ist das alles? Hast du mich vergessen? Mich? Deinen einstigen Harry?«
»Harry? Was … mein …?«
»Ja, dein Zweiter. Lange her. Wir heirateten, erinnere dich, in der Tyson Street.«
»Täubchen!«, schrie Mrs. Grass. »Genau! Aber nimm diese grässliche Mähne ab und lass dich ansehen. Wo bist du die ganzen Jahre gewesen?«
»In der Wildnis«, antwortete der Löwe und zerrte die Mähne über die Schulter.
»Was für eine Wildnis, Liebling? Moralisch? Spirituell? Oh, erzähl uns alles darüber!« Mrs. Grass streckte die Brüste vor und ballte die kleinen Fäuste an den Seiten, eine Haltung, die nach ihrer Vorstellung anziehend wirkte. Sie lag nicht ganz falsch damit, und der junge Kestrel trat einen Schritt nach links, was ihn näher an sie heranbrachte.
»Ich glaube, Sie sagten ›Wildnis‹«, sagte Kestrel. »Sagen Sie, wie wild ist diese? Oder vielleicht gar nicht wild? Man ist so den Worten ausgeliefert. Und würden Sie behaupten, mein Herr, dass die Wildnis des einen ein Kornfeld für den anderen ist mit kleinen Bächen und Büschen?«
»Was für Büsche?«, fragte der...
Erscheint lt. Verlag | 10.6.2011 |
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Reihe/Serie | Gormenghast |
Übersetzer | Annette Charpentier |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction | |
Schlagworte | Burgen • Damen • dark academia • Fantasy • High Fantasy • Knappe • Mittelalter • Ritter • Roman |
ISBN-10 | 3-608-10182-9 / 3608101829 |
ISBN-13 | 978-3-608-10182-9 / 9783608101829 |
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