Medien der Rechtsprechung (eBook)

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2011 | 1. Auflage
464 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-400946-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Medien der Rechtsprechung -  Cornelia Vismann
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Recht wird gesprochen. Es gilt das Prinzip der Mündlichkeit. Die Rechtsprechung operiert indes auch mit Medien, die nicht der Stimme zugehören. Eine Fotografie zu Beweiszwecken oder eine Kamera zur Übertragung einer Gerichtsverhandlung zählen ebenfalls zu den Medien der Rechtsprechung. Weit davon entfernt, bloße Hilfsmittel der Wahrheitsfindung zu sein, greifen sie in das Verfahren ein. Und dort, wo unter der Macht technischer Medien die justitiellen Formen verwildern, wird das Gericht zum Tribunal.

Cornelia Vismann war Professorin für Geschichte und Theorie der Kulturtechniken an der Bauhaus-Universität Weimar. Sie studierte Recht und Philosophie und arbeitete u.a. als Rechtsanwältin in Berlin. Nach ihrer Dissertation ?Akten. Medientechnik und Recht? (2000) habilitierte sie sich mit einer Arbeit zur ?Verfassung nach dem Computer? im öffentlichen Recht. Cornelia Vismann ist am 28. August 2010 in Berlin gestorben.

Cornelia Vismann war Professorin für Geschichte und Theorie der Kulturtechniken an der Bauhaus-Universität Weimar. Sie studierte Recht und Philosophie und arbeitete u.a. als Rechtsanwältin in Berlin. Nach ihrer Dissertation ›Akten. Medientechnik und Recht‹ (2000) habilitierte sie sich mit einer Arbeit zur ›Verfassung nach dem Computer‹ im öffentlichen Recht. Cornelia Vismann ist am 28. August 2010 in Berlin gestorben.

Vorwort


Die Medien der Rechtsprechung bilden den letzten großen Themenkomplex, mit dem sich Cornelia Vismann (19612010), Professorin für Geschichte und Theorie der Kulturtechniken an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar, befasst hat. Das nun vorliegende Buch, das die Autorin noch wenige Tage vor ihrem Tod zum Abschluss hat bringen können, ist Teil einer Trilogie von Texten, die sie selbst als ihr wissenschaftliches Vermächtnis verstanden wissen wollte. Während sich Cornelia Vismann mit ihrer Dissertationsschrift Akten. Medientechnik und Recht, ebenfalls erschienen im S. Fischer Verlag, 2000,[1] auf mediale Aspekte der Exekutive, auf Medien als Instrumente exekutivischen Handelns, konzentrierte, hat sie mit einer unter dem provokativen Titel »Was waren die Staatsmedien?« im Sommersemester 2009 an der Bauhaus-Universität gehaltenen Vorlesung den legislativen Aspekt von Medien in den Blick genommen.[2] In den Medien der Rechtsprechung, die Cornelia Vismann als das »Herzstück« ihrer Überlegungen verstand, geht es schließlich um die Rechtsprechung, um die Leistungen und Effekte der von der Judikative in Dienst genommenen Medien.

Was hat der Tisch im Gerichtssaal verloren? Wodurch unterscheiden sich Theater und Gericht? Mit welcher Stimme spricht der Übersetzer? Bestimmt der Aufriss des klassischen Amphitheaters in heutigen Gerichtsräumen noch immer die Stätte des Rechtsprechens, wenn technische Medien wie TV und Film eingebunden sind? Dass der Rede innerhalb eines gerichtlichen Verfahrens grundlegende Bedeutung zukommt, scheint kaum einer Erwähnung wert. Dass jedoch das Schweigen eine keineswegs geringere Relevanz besitzt, wird hier ebenso herausgearbeitet wie die allmähliche Überwindung des Primats der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, an dessen Stelle neue Formen gerichtlicher Kommunikation wie etwa das remote judging in Konstellationen der transitional justice, der Rechtsprechung in post conflict situations und Schwellenländern, treten. Tische und Dolmetscher, Reden und Schweigen, Nachspielen und Vorführen sind nur einige Dinge und Praktiken, die zur medientechnologischen Basis gehören, auf der sich Rechtsprechung vollzieht. Die Autorin entfaltet in diesem Buch die historische Genese der Objekte und Prozesse: anhand verschiedenartiger Quellen, von Filmen über literarische Texte bis hin zu architektonischen Anordnungen, werden die Verfahren und Medien der Rechtsprechung einer eingehenden Analyse unterzogen. Maßgebend ist dabei die Leitunterscheidung zweier unterschiedlicher Funktionslogiken: des theatralen und des agonalen Dispositivs.

Den Begriff »Dispositiv« gebraucht die Autorin, wie bereits in den Akten, »in Anlehnung an Foucault als Matrix des Ensembles an Redeweisen, Techniken, Strategien und Institutionen einer Rechtsmacht«.[3] »Dispositive sind für mich Anlagen, und in der Rechtsprechung sehe ich zwei Hauptanlagen: die theatrale und die agonale«, so ihre mündliche Auskunft. Der unhintergehbaren theatralen Dimension des Gerichts mit seinen Räumen des Bedenkens werden die Entscheidungsarchitekturen des agonalen Dispositivs gegenübergestellt. Nicht um das Verhandeln geht es dort, sondern um die Entscheidung, das Urteil. Das Gerichtstheater genügt sich im Nachspiel, während im Prozessdrama Wettkampf und Entscheidung zusammenfallen. »Die ordentliche Gerichtsbarkeit ist vollkommen den Bedingungen des Theaters angepasst. Für die Sonderformen der Justiz greift die Logik des Wettkampfs.« Diese Logik des Agonalen[4] sieht Cornelia Vismann im Tribunal verwirklicht, jener vermeintlichen Sonderform der Jurisdiktive, die nach ihrer Einschätzung gegenwärtig das im theatralen Dispositiv agierende Gericht verdrängt.

An die Einführung der beiden Dispositive schließt in der Ordnung dieses Buches die genaue Analyse jener sieben Medien an, die für Cornelia Vismann die Technik des Rechtsprechens bestimmen. Es sind Akten, Stimme und Öffentlichkeit, Fotografien, Kino und Fernsehen – und eine von Praxen des remote judging bestimmte »Fern-Justiz«, die die Autorin vor allem in gegenwärtigen Szenarien der transitional justice aufgefunden hat. Während Akten und die früheren Aufsätze zu Justinian und über das Kommentieren sich auf Rom konzentrierten, findet hier die Grundlegung der Rechtsprechung im antiken Griechenland ihre medientechnische Analyse. Solon und Sophokles, Kleist und Feuerbach, Preminger und Handke werden zu Zeugen einer Entwicklung, die Cornelia Vismann als Geschichte der Informalisierung des gerichtlichen Verfahrens erzählt. »Technische Medien entziehen sich der theatralen Logik der Justiz und versetzen die Prozessbeteiligten an einen Ort, der alles andere als ein Schauplatz ist – inmitten von Kabeln und Monitoren.« Erzählt wird indes keineswegs eine Verlustgeschichte, sondern die Geschichte eines Wandels, eine Transformationsgeschichte.

Die Nürnberger Prozesse markieren für die Autorin einen dramatischen Wendepunkt in der Mediengeschichte des Rechts. Das Geschehen im Gerichtssaal wird in Nürnberg zum globalen »Courtroom-Drama« – und beeinflusst so die Dramaturgie anderer Verfahren der Rechtsprechung in weltweit wahrgenommenen gesellschaftlich-politischen Übergangssituationen. Das Nürnberger Militärtribunal installierte einen bis dahin beispiellosen »umfassenden Medienverbund aus Mikrophonen und Kopfhörern, Simultandolmetschern, Zuhörern und Verhörten, Leinwand, Richtern, Kameras, Prozessbeobachtern und Beobachteten«. Die Entformalisierung macht die Gerichtsszene zum Tribunal. Gerichtsöffentlichkeit wird in Nürnberg Weltöffentlichkeit. Im Gerichtssaal 600 des Nürnberger Justizpalastes begann ein neues Zusammenspiel von Justiz und Bild, genauer: Justiz und Bildgebung des Holocaust. Das wirkliche »Vermächtnis von Nürnberg« ist für Cornelia Vismann indes die Offenheit für medientechnische Neuheiten, die Bereitschaft, neuesten Techniken im Verfahren Raum zu geben. Mit solcher Offenheit schließe das 1993 vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eingesetzte UN-Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY), ein Versuchslabor für die Verfahren vor dem seit 2003 tätigen Internationalen Strafgerichtshof (ICC), an die Nürnberger Prozesse an. »Was aber passiert mit dem Gericht selbst, wenn die Medientechniken das Verfahren übernehmen?« Am Beispiel des Prozesses gegen Slobodan Milošević zeigt die Autorin, wie das Eindringen der Fernsehkameras und webcams in die geschlossene Welt des Gerichts die strenge Ordnung des Prozesses aufbricht. »Regellosigkeit, Lärm sowie das Verschwimmen der Grenze zwischen Innen und Außen sind die Folge.«

Während sich Völkerrechtler und Experten transnationaler Rechtsentwicklung angesichts ungewisser Zukunftsperspektiven von Welt und Recht seit einigen Jahren mit Nachdruck der Vergangenheit zuwenden, hat Cornelia Vismann den Weg in die umgekehrte Richtung eingeschlagen. Als Medienwissenschaftlerin geht die Rechtshistorikerin den Weg nach vorn, ins Zentrum einer Rechtsprechung, die nationalstaatliche Grenzen transzendiert. Es handelt sich, das wird in diesem Buch deutlich, nicht nur um eine Justiz jenseits des Staates, sondern auch um eine Jurisdiktive jenseits des Gerichts und seines theatralen Dispositivs. »Transitional Justice heisst nicht allein, dass eine Periode des Übergangs zu einer öffentlichen Sache gemacht wird. Es heißt auch, dass die Justiz sich selbst im Übergang befindet.«

Cornelia Vismann zeigt, dass die in Nürnberg erstmals praktizierte, im Verfahren des Jugoslawientribunals gegen Milošević perfektionierte »Fern-Justiz« nicht nur medial die Wände des Gerichtsraums öffnet, sondern eine globale Öffentlichkeit zur Stätte der Rechtsprechung macht. Doch hat damit diese Öffentlichkeit, hat der Zuschauer jene aktive Rolle erlangt, die sich in Nürnberg als Versprechen abzuzeichnen schien? Um den Bürger, den »Zuschauer with a job«, war es Cornelia Vismann zu tun. »Wer hat die Macht zu entscheiden? Wer hat die Macht, etwas zu wissen?« Diese Frage beschäftigte sie noch in unseren letzten Gesprächen. Und die Ignoranz, mit der die Möglichkeiten einer Übergangssituation verkannt werden, die jenseits der klassischen Dispositive einer neuen Matrix der Jurisdiktive Raum geben könnte. »Hier ist eine ganz große Chance vertan. Die Chance heisst: transitional justice. Transitional justice heisst: wir legen offen, dass etwas in Veränderung begriffen ist. Wir gehen nicht über zu klassischen Formen.«

In dem hier vorliegenden Buch geht es um die Kunst der Form, um die Praxis einer Rechtsprechung, die ihre Legitimation durch Verfahren[5] gewinnt, durch die Form, die dem Recht niemals nur äußerlich ist, sondern auf etwas verweist.[6] Die Medienwissenschaftlerin, die mit den klassischen Formen der Jurisdiktive so profunde vertraut war, erweist sich dabei als leidenschaftliche Anwältin des Rechts. Insofern ist dieses Buch auch, und vielleicht vor allem, normativ. Die Autorin plädiert für eine Konfrontation mit dem Gegenwärtigen und seinen Möglichkeiten; sie sieht genau hin: »Das müssen wir erstmal aushalten, dass wirklich vieles unklar ist. Wir klammern uns an die bestehende Form«, so ihr Urteil. »Doch es kommt darauf an, dass wir das Schwere aushalten.« Und es kommt, so zögerte sie nicht anzuschließen, auf das Wagnis an. Auf den Mut zum Handeln, mit dem neue Formen der Rechtsprechung gewagt, neue Medien der Jurisdiktive verhandelt...

Erscheint lt. Verlag 8.6.2011
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Recht / Steuern
Wirtschaft
Schlagworte Berlin • Bundesverfassungsgericht • Deutschland • gerichtsfilm • Gesetzbuch • Hugo Münsterberg • Medium • Michel Foucault • Milosevic-Prozess • München • Mündlichkeit • Nürnberg • Otto Preminger • Paragraph • Pierre Legendre • Prozessordnung • Rechtsprechung • Sachbuch • Slobodan Miloševic • Untersuchungsausschuss • USA
ISBN-10 3-10-400946-5 / 3104009465
ISBN-13 978-3-10-400946-9 / 9783104009469
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