Das letzte Opfer (eBook)

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2011 | 1. Auflage
400 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-20681-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das letzte Opfer -  Petra Hammesfahr
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Sie durfte nicht schwitzen. Tote schwitzen nicht. Und sie spielte tot, weil sie leben wollte. Alle zwei Jahre bringt ein Serienkiller eine junge Frau in seine Gewalt und tötet sie. Immer am 14. September. Seit Jahren verfolgt Thomas Scheib, Fallanalytiker beim BKA, die Spur des Mörders. Drei Leichen wurden bisher gefunden, fünf Frauen gelten als vermisst. Nur für das Jahr 1990 gibt es eine Lücke. In diesem Jahr hat die damals 18-jährige Karen einen alten Mann überfahren. Aber sie weiß nicht, wie es zu diesem Unfall gekommen ist ...

Petra Hammesfahr schrieb mit 17 ihren ersten Roman. Mit ihrem Buch 'Der stille Herr Genardy' kam der große Erfolg. Seitdem schreibt sie einen Bestseller nach dem anderen, u.a. 'Die Sünderin', 'Die Mutter' und 'Erinnerungen an einen Mörder'. Die Autorin lebt in der Nähe von Köln.

Petra Hammesfahr schrieb mit 17 ihren ersten Roman. Mit ihrem Buch "Der stille Herr Genardy" kam der große Erfolg. Seitdem schreibt sie einen Bestseller nach dem anderen, u.a. "Die Sünderin", "Die Mutter" und "Erinnerungen an einen Mörder". Die Autorin lebt in der Nähe von Köln.

Marko


Für die Polizei in Bergisch Gladbach war der Unfall eine alltägliche Angelegenheit. An der Schuldfrage gab es keinen Zweifel. Karen hatte am Steuer und alleine im Wagen gesessen. Ein achtzehnjähriges Mädchen ohne Führerschein und Erfahrung im Straßenverkehr, unterwegs zu einem Rendezvous mit dem Vater ihrer Tochter, das ihre Freundin vor der Abreise nach China vermittelt hatte. So erzählte sie es. Und sie erklärte auch, sie habe im Lärm der Diskothek nicht genau verstanden, wo sie ihre Freundin und die verlorene Liebe treffen sollte.

Wie es passiert war, lag nach diesen Auskünften auf der Hand. Sie irrte in einer ihr unbekannten Gegend herum, wurde mit jedem Kilometer nervöser. Irgendwann wurde die Zeit knapp. Sie wollte nach Möglichkeit wieder unbemerkt von der strengen Mutter ins Haus gelangen, holte aus dem Wagen heraus, was der Motor hergab. Das war eine Menge, der Ford Taunus war getunt, hatte eine Maschine unter der Haube, die nicht hineingehörte. Norbert war mehr als stolz gewesen, dass der TÜV es durchgehen ließ.

Dann war ein Mensch tot, der Wagen Schrott. Und sie kam fast um vor Panik, weil sie nicht wusste, wie ihr Bruder reagierte. Damit erklärte sich alles, auch ihre erste Reaktion, die einen Landwirt zu der Annahme verleitete, Norbert Dierden habe ihr etwas antun wollen.

Der Landwirt war auf dem Kartoffelacker beschäftigt gewesen, in dem der Ford Taunus nach halsbrecherischer Fahrt landete. In seiner Aussage hieß es: «Ich hatte ja keine Ahnung, dass weiter hinten schon was passiert war. Ich sah nur zwei Autos heranrasen, das eine polterte mir fast vor den Trecker. Aus dem zweiten stürzte dieser Kerl auf uns zu, gerade, als ich das arme Ding durchs Fenster rauszog. Sie klammerte sich an mich und jammerte: ‹Norbert bringt mich um. Helfen Sie mir, bitte, helfen Sie mir, ich will nicht sterben.› Da dachte ich im ersten Moment, sieh an, da kommt Norbert schon. Der Kerl brüllte: ‹Die müsste man auf der Stelle ersäufen, fährt einen Mann zu Klump und rast einfach weiter.› Dem musste ich eine reinhauen, um ihn von ihr fern zu halten.»

Der Mann, der auf den Acker stürmte, war jedoch nicht ihr Bruder, sondern Marko Stichler, der gesehen hatte, wie der Ford Taunus den Radfahrer erfasste. Norbert tauchte erst eine gute Stunde später bei dem Acker auf, als man gerade dabei war, seinen demolierten Wagen zu bergen. Und für Marko Stichlers wütende Reaktion zeigte jeder Verständnis.

Es war ebenso verständlich, dass Karen befürchtet hatte, ihr Bruder würde sie windelweich prügeln. Er hing doch mit Leib und Seele an seinem Ford Taunus, hatte so viel Arbeit hineingesteckt und so viel Geld.

Doch als er sich im Krankenhaus über sie beugte, sagte er nur: «Mach dir bloß keine Gedanken ums Auto. Hauptsache, dir ist nichts passiert. Sarah und Christa sitzen seit Stunden draußen mit Jasmin. Soll ich sie reinrufen, oder willst du lieber schlafen?»

Sie wollte nicht schlafen, es nur hinter sich bringen, die Vorwürfe und Vorträge, die nun zwangsläufig kommen mussten, doch zu Anfang gab es keine. In den ersten Tagen erwähnte niemand den toten Mann, der behandelnde Arzt war strikt dagegen. Erst als man endlich Polizei an ihr Bett ließ, erfuhr sie, was sie angerichtet hatte. Danach war sie tagelang nicht ansprechbar, lag grübelnd in den Kissen und verlangte von jedem, der das Zimmer betrat: «Scheuch doch mal die Enten weg.»

Norbert vermutete, es seien Enten auf der Landstraße gewesen, denen sie hätte ausweichen wollen. Und weil es kurz hinter einer Kurve geschehen war, sagte er: «Wenn hinter einer Kurve plötzlich ein Hindernis auftaucht, hat auch jemand, der schon zwanzig Jahre fährt, keine Chance. Vielleicht hat der Radfahrer auch einen Schlenker gemacht. Der Mann war besoffen.»

Aber sie hätte ihn trotzdem sehen müssen, meinte sie. Sie hätte ihn nicht bloß sehen, sie hätte auch hören müssen, wie der Ford Taunus das Rad erfasste. Das musste gescheppert haben und gepoltert, als der Körper auf die Motorhaube schlug, so fest, dass er seine Konturen ins Blech drückte. Sein Kopf war gegen die Windschutzscheibe geprallt, musste unmittelbar vor ihren Augen gewesen sein. Und sie hatte nur Enten gesehen, wilde Enten und etwas Blut, ein Schmierstreifen auf der Windschutzscheibe. Der Schock, sagte der behandelnde Arzt. Für ihn war es eine normale Reaktion, dass sie sich nicht an den Unfallhergang erinnerte. Aber egal, wie man es ihr erklärte, für sie änderte es nichts.

Es sah danach zwei Jahre lang so aus, als sei ihr Leben nun endgültig ruiniert. Verhandlung vor der Jugendkammer am Kölner Landgericht, drei Jahre Sperrfrist für den Führerschein, achtzig Stunden Sozialarbeit in einem Altenpflegeheim. Damit käme sie noch glimpflich davon, meinte der Jugendrichter und verdonnerte sogar ihren Bruder zu einer Geldstrafe, weil Norbert seine Schlüssel auf die Garderobe gelegt hatte.

Der Richter meinte, nach der vorangegangenen Bettelei habe Norbert damit rechnen müssen, dass sie die Schlüssel nahm, vor allem, weil er sie bei der Suche nach einem anderen Autoschlüssel erwischt hatte. Einem jungen Mädchen so eine Rennmaschine zur Verfügung zu stellen, dürfe nicht ungestraft bleiben. Und wenn Norbert jetzt noch einmal den Mund aufmache, käme noch eine Ordnungshaft dazu.

Ihr Bruder legte sich in der Verhandlung mit allen Leuten an, bezweifelte die Erkenntnisse des Verkehrssachverständigen und die Aussage des Unfallzeugen, der keine Enten auf der Straße gesehen hatte. Er kannte Marko Stichler seit acht Jahren. Im September 1982 waren sie zum ersten Mal vor einer Diskothek am Clodwigplatz aneinander geraten, weil Norbert sein Auto nicht vorschriftsmäßig geparkt hatte.

Obwohl der Richter ihm bereits dreimal den Mund verboten hatte, erklärte Norbert auch noch: «Da hielt der mir einen Vortrag, ich würde eine Feuerwehrzufahrt blockieren. Das ging ihn doch einen Dreck an. Meine Kumpels haben ihm das auch klargemacht. Und jetzt lässt er seine Wut an meiner Schwester aus. Kann doch gar nicht sein, was er behauptet. Wenn Karen ihn unmittelbar vor der Kurve mit hundertzwanzig überholt hätte, wäre sie in die Botanik geflogen. Warum probiert das nicht mal einer aus? Ich kann Ihnen genau sagen, wie es passiert ist. Er hat mein Auto erkannt und sie gejagt. Ist doch logisch, dass ein junges Mädchen in Panik gerät, wenn plötzlich einer wie der Teufel hinter ihr her ist. Da hat sie wahrscheinlich mehr in den Rückspiegel geschaut als nach vorne.»

Der Jugendrichter ärgerte sich maßlos über Norberts ständige Einwürfe, und letztlich schlug sich das im Urteil gegen sie nieder. Aber für sie war das bedeutungslos.

In unzähligen Nächten stand sie in der Diskothek, hörte Lis Stimme, von lauter Musik zerhackt, über Jasmins Vater sprechen, jedenfalls verstand sie es so, aber sie verstand längst nicht alles. Li sprach nicht mit ihr, sondern mit der jungen Frau, die zusammen mit ihr an der Theke bediente. Sie hörte sich selbst zu Li sagen: «Ich glaube, wir beide sollten mal in Ruhe reden.» Hörte Li mit diesem Ton von Unbehagen fragen: «Bist du etwa Norberts Schwester?» Dann liefen sie nebeneinander durch den Regen, zu zweit unter einem Schirm.

Und jeden Morgen, in diesen zwei Sekunden, bevor sie die Augen öffnete, sah sie das Blut, diesen Schmierstreifen an der Windschutzscheibe.

Sie versagte in der Schule, schaffte das Abitur auch mit Nachprüfungen nicht. Von den achtzig Stunden Sozialarbeit arbeitete sie vielleicht zehn und saß den Rest ab am Bett eines alten Mannes, dem sie unentwegt erklärte, wie Leid ihr das alles täte.

In der Nachbarschaft wurde getuschelt. Christa mochte über den Unfall schweigen wie ein Grab, es fiel jedem auf, dass Norbert nicht mehr seinen heiß geliebten Ford Taunus fuhr, sondern den alten Kleinwagen, den er für Karen hergerichtet hatte. Die Kundinnen, die Christa in ihrer Küche bediente, stellten unangenehme Fragen, wenn sie Karen zu Gesicht bekamen.

Sie ließ sich gehen, wusch sich tagelang nicht die Haare. Oft lief sie noch weit nach Mittag im Nachthemd herum, schnappte sich manchmal ihre kleine Tochter und sagte: «Ich hab dich so lieb, Schätzchen. Ich hab dich so furchtbar lieb. Daran wird sich auch nie etwas ändern.» Dabei drückte sie das Kind so fest an sich, dass Jasmin vor Schmerz ihr Gesichtchen verzog.

Nachdem sich die Hoffnung zerschlagen hatte, dass sie doch noch das Abitur schaffte, suchte Christa Ausbildungsplätze für sie und nahm, was sich gerade bot, drei Frisörsalons, eine Rechtsanwaltskanzlei und einen Drogeriemarkt. Schon nach wenigen Wochen verlor sie jede Stelle wieder. In einem Frisörsalon hielt sie einer Kundin den Wasserstrahl ins Gesicht, statt der Frau die Haare zu waschen. Beim Rechtsanwalt tippte sie keine Schriftsätze, sondern romantische Liebesgeschichten mit italienischen Austauschschülern. Im Drogeriemarkt stand sie stundenlang vor einem Regal mit kleinen, bunten Glasenten. Sprach man sie an, verlangte sie wie im Krankenhaus: «Scheuch doch mal die Enten weg, damit ich sehe, was da los ist.»

Es gab Tage, da erschien sie gar nicht erst zur Arbeit, trieb sich in Köln herum. Wenn es regnete, setzte sie sich in ein Café und bestellte sich einen Cappuccino, auch wenn sie keinen Pfennig Geld in der Tasche hatte. Wenn es ans Bezahlen ging, verwies sie auf ihre Freundin. Und wenn man sie darauf aufmerksam machte, dass sie allein am Tisch saß, erzählte sie von Li und dem Vormittag im Regen, da hätten sie sich auch einen Cappuccino gegönnt und offen über Jasmins Vater gesprochen.

«Ich wollte nicht, dass sie sich mit ihm traf», sagte sie einmal. «Sie behauptete, ich hätte in der Diskothek etwas missverstanden. Aber ich habe ganz genau verstanden,...

Erscheint lt. Verlag 1.6.2011
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Fallanalytiker • Frauenleiche • Kleinbürgertum • kühler Stil • Mord • Opfer • Psychothriller • Serienmörder
ISBN-10 3-644-20681-3 / 3644206813
ISBN-13 978-3-644-20681-6 / 9783644206816
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