Mein Bruder (eBook)

Idol - Rivale - Verbündeter
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2011 | 1. Auflage
272 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-400829-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mein Bruder -  Benjamin Prüfer,  Tillmann Prüfer
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Brüder: Zuerst kämpften sie gegeneinander, dann um die Aufmerksamkeit der Eltern und schließlich gemeinsam gegen den Rest der Welt. Keiner kennt sie so gut wie sie sich selbst und doch bleiben sie sich ein ewiges Rätsel. Um dieses zu lüften, begeben sich die Brüder Tillmann und Benjamin Prüfer auf eine spannende Reise, die sie in ihre gemeinsame Vergangenheit, Gegenwart und - Zukunft führt: Das Ergebnis ist ein aufschlussreiches, bewegendes und humorvolles Buch über eine einzigartige Verbindung, die das ganze Leben prägt.

Benjamin Prüfer, Jahrgang 1979, arbeitete als Redakteur bei der Financial Times Deutschland, bevor er 2006 Buchautor und freier Journalist wurde. Sein erstes Buch »Wohin du auch gehst« hat Detlev Buck unter dem Titel »Same Same But Different« verfilmt. 2009 veröffentlichte er gemeinsam mit seinem Bruder Tillmann »Mein Bruder. Idol - Rivale - Verbündeter«. Benjamin Prüfer lebt mit seiner Familie in Hamburg und Kambodscha.

Benjamin Prüfer, Jahrgang 1979, arbeitete als Redakteur bei der Financial Times Deutschland, bevor er 2006 Buchautor und freier Journalist wurde. Sein erstes Buch »Wohin du auch gehst« hat Detlev Buck unter dem Titel »Same Same But Different« verfilmt. 2009 veröffentlichte er gemeinsam mit seinem Bruder Tillmann »Mein Bruder. Idol – Rivale – Verbündeter«. Benjamin Prüfer lebt mit seiner Familie in Hamburg und Kambodscha. Tillmann Prüfer, geboren 1974, wurde er an der Deutschen Journalistenschule in München ausgebildet und war Gründungsredakteur der Financial Times Deutschland. Heute ist er Redakteur des ZEITMagazins, Kolumnist für Financial Times Deutschland und Autor von »Wie man den Alltag überlebt, ohne dabei verrückt zu werden« (2007) und Co-Autor des Comics »Rezession und Frohsinn« (2005). Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

1. Kapitel Warum Benjamin noch lebt


Wie es ist, einen Bruder zu bekommen — und ein Bruder zu sein

Tillmann


An den Tag deiner Geburt kann ich mich vor allem deshalb erinnern, weil ich damals in den Sauteich fiel. Ich war fünf Jahre alt und besuchte diesen Tümpel öfters zusammen mit unserem Vater und Annette, meiner großen Schwester, um dort Kaulquappen zu fangen. Er hieß nicht etwa deswegen Sauteich, weil er schmutzig gewesen wäre, sondern weil neben ihm die Bronzefigur eines Ebers stand. Eber waren für mich die höchsten Tiere. Schon deshalb, weil ein roter Eber das Wappen meines Heimatortes Eberstadt zierte. Vor Kaulquappen hatte ich nicht so viel Respekt. In dem Aquarium, das unsere Eltern aufgestellt hatten, damit ich ihre Froschwerdung beobachten können sollte, führten sie einen verzweifelten Überlebenskampf. Meist nicht sehr erfolgreich, weshalb wir den Sauteich öfters besuchen mussten, um Nachschub zu besorgen. Kaulquappen, sagte unser Vater, während wir mit langen Keschern durch das Wasser pflügten, seien die Babys der Frösche. Und ein Baby hatten wir ja jetzt auch in der Familie. Dich, Benjamin.

Ach, das Baby. Ich hatte es zuvor im Krankenhaus kennengelernt. Und wie ich zu ihm stehen sollte, wusste ich nicht recht. Davor hatte ich nur das Gegenteil eines kleinen Bruders, eine große Schwester. Annette ist vier Jahre älter als ich. Bei meiner Geburt war ich aus ihrer Sicht ungefähr so groß wie ihre Puppen. Wenn wir Tierarzt spielten, war ich das kranke Kätzchen. Was passiert wäre, hätten wir Habicht und Häschen gespielt, möchte ich mir nicht ausmalen.

Wer kleiner Bruder einer großen Schwester ist, muss Geschäfte abschließen wie den Tausch eines nigelnagelneuen Darda-Aufziehflitzers gegen einen halbflüssigen Riegel Raider. Wer kleiner Bruder einer großen Schwester ist, muss zur Erbauung eines ihrer Schulfreunde dessen kleine Schwester auf den Mund küssen. Noch heute bin ich empört, wenn ich ein Filmchen betrachte, das mein Vater damals auf Super 8 gedreht hat. Es zeigt mich mit meiner großen Schwester im Garten, wie wir darum balgen, wer ins Planschbecken darf. Vielmehr balge ich darum: Sie spielt seelenruhig mit ihrer Badeente und bugsiert mich immer wieder mit einem fast entrüstend beiläufigen Schubser beiseite. Wohl auch deshalb war ich wie Flip, der Grashüpfer aus »Biene Maja«, durch die Küche gesprungen, als unsere Eltern uns beim Abendessen eröffnet hatten, dass ein »kleines Brüderchen« auf dem Weg sei. In meinem Kopf nur ein Gedanke: Verstärkung.

Natürlich war das zu kurz gedacht. Der da kam, sollte mein Partner und mein Widerpart fürs Leben werden. Jemand, der meinen Schritten folgt und doch immer ein Stück voraus ist. Jemand, mit dem ich alles teile, obwohl wir nichts gemeinsam haben. Mit unseren Geschwistern führen wir die längste Beziehung unseres Lebens — und die wichtigste. Unser Elternhaus lassen wir hinter uns, von Lebenspartnern können wir uns trennen. Aber du, Benjamin, wirst immer da sein. Von den Eltern lernen wir, dass man die Hände artig auf den Tisch legt und schön Bitte-Danke sagt. Erst das Leben mit dem Bruder aber bringt dir bei, dass Bitte-Danke bei den meisten Problemen nicht hilft und man die Hände besser gleich zu Fäusten ballt. Der Bruder ist uns vertraut wie kein anderer Mensch und doch ein Rätsel. Er ist Komplize und Konkurrent in einem. All das sollte Benjamin einmal für mich werden. Doch als ich das erste Mal von ihm erfuhr, genügte mir völlig die Interpretation: jemand, der keine Schwester ist.

Das Eintreffen der versprochenen Verstärkung war allerdings ernüchternd: Sie präsentierte sich als kleines gelbes Häufchen Haut, das auf der Brust meiner Mutter kauerte. Es hatte Neugeborenengelbsucht und keine Haare. Das sollte ein Bruder sein? Unter Brüdern verstand ich so etwas wie Tick, Trick und Track aus den Micky-Maus-Heften. Besonders in Erinnerung war mir eine Geschichte geblieben, in der die drei schmutzverkrustet einen Brüder-Schwur frei nach Schiller schlossen: »Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not uns waschen und Gefahr.« Ich hätte auch Ernie und Bert aus der Sesamstraße als Brüder durchgehen lassen (erst viel später erfuhr ich, dass sie vielleicht ein schwules Paar sind). Das neue Familienmitglied sah allenfalls aus wie die kleine Raupe Nimmersatt.

Gerade zog ich also den Kescher durchs Wasser des Sauteichs und stellte mir vor, wie mir eine große Raupe Nimmersatt ins Netz gehen würde, als ich das Gleichgewicht verlor und in den Teich plumpste. Nun war das nicht weiter schlimm, denn es gab ja meinen Vater, der hinterhersprang und mich aus der Brühe zog. Überraschender fand ich: Niemand machte großes Aufheben um meinen Unfall. Kaum hatte mich mein Vater in trockene Kleider gesteckt, fuhren wir wieder ins Krankenhaus, um meine Mutter und das Baby zu besuchen. Auch sie war nicht weiter besorgt um mein Schicksal. Gerade noch strampelte ich um mein Leben – und jetzt sollte die Geschichte meiner Rettung nicht interessanter sein als das Geschrei des kleinen Gewürms im Arm meiner Mutter? Dieser Benjamin plärrte und wollte sich nicht beruhigen. Meine Mutter fragte mich einmal: »Was machen wir nun mit dem kleinen Benjamin?« Ich schlug vor: »In den Sauteich werfen.«

Das wird mir manchmal als früher Vernichtungswille meinem Bruder gegenüber ausgelegt. Dabei dachte ich nur, es würde uns weiterbringen.

Ich habe nachgelesen: Ich muss mich dessen nicht schämen. Dass man einem unverhofft eintreffenden Bruder gegenüber Aggressionen hat, ist ganz normal. Der Bamberger Familienforscher Hartmut Kasten hat ermittelt, dass bei Befragungen 95 Prozent angeben, Neid gegenüber ihren jüngeren Geschwistern zu empfinden. Das Außergewöhnliche seien eher die restlichen fünf Prozent, sagt er. Seit es Brüder gibt, brennt die Eifersucht. Schon die Bibel ist voll davon. Im Neuen Testament wird das Gleichnis vom verlorenen Sohn erzählt, der zum großen Ärger seines älteren Bruders nach Hause zurückkehrt und von seinem Vater wieder aufgenommen wird. Und natürlich sind da, schon in der Schöpfungsgeschichte, Kain und Abel. Kain erschlägt seinen jüngeren Bruder mit einem Stein, weil dieser Gott besser zu gefallen scheint. So weit kam es bei uns nie.

Ich habe lediglich einmal mit einer Armbrust auf dich geschossen. Aber es war eine Kinderarmbrust, deren Bolzen an der Spitze Saugnäpfe hatte. Und schließlich hatten wir gerade Jäger und Kaninchen gespielt. Dieses Spiel lässt nicht viele Varianten zu. Und du konntest ja schlecht die Armbrust bedienen. Ein anderes Mal warf ich dir eine große Glasmurmel an den Kopf. Aber auch da war nicht Auslöschungswille das Motiv, sondern eher die Neugierde, ob es möglich ist, jemandem aus fünf Meter Entfernung eine Murmel an den Kopf zu werfen. Natürlich war es von Vorteil, dass nicht zu befürchten war, du würdest eine zurückwerfen — falls doch, dann nicht sehr fest.

 

Als wir beide zusammenkamen, Benjamin, war übrigens die Zeit, als die Psychologie überhaupt erst anfing, sich damit zu beschäftigen, wie Geschwister einander beeinflussen. Noch Sigmund Freud konnte seine ganze Psychoanalyse ausbreiten, ohne dass er sich dabei Gedanken machen musste, ob nicht auch Brüder oder Schwestern einen gewissen Einfluss haben könnten auf den seelischen Werdegang eines Kindes. Er wurde ja auch von seiner Mutter »der goldene Sigi« genannt, also genügte ihm die Analyse, dass es ganz schön gut ist für das eigene Wohlbefinden, wenn man als Kind ständig bevorzugt wird: »Wenn man der unbestrittene Liebling der Mutter gewesen ist, so behält man fürs Leben jenes Eroberergefühl und jene Zuversicht des Erfolges, welche nicht selten den Erfolg nach sich zieht.« Ansonsten stellte er hauptsächlich fest, dass man seine Geschwister »nicht notwendigerweise« liebt. Wenn in Träumen von Erwachsenen Ungeziefer eine Rolle spielte, deutete es der Urvater der Psychoanalyse schon mal als Symbol für die Brüder und Schwestern des Patienten.

Erst in den Achtzigerjahren begann man systematisch, sich mit dem Verhältnis zwischen Geschwistern und insbesondere Brüdern auseinanderzusetzen. Als einer der Pioniere der Geschwisterforschung gilt der Wissenschaftshistoriker Frank J. Sulloway von der University of California in Berkeley. Er geht davon aus, dass Rivalität eines der Hauptmotive der Geschwisterbeziehung ist: »Wenn du größer bist als deine Geschwister, dann haust du sie.«

Für diese Erkenntnis hatte die Wissenschaft fast die gesamte Menschheitsgeschichte gebraucht. Ich glaube, wir beide brauchten wesentlich weniger Zeit, um das herauszufinden.

Nachdem ich deine Versenkung im Sauteich angeregt hatte, wurde ich von unserer Mutter nicht mehr in Erziehungsfragen zurate gezogen. Ich musste allerdings feststellen, dass sich in meinem Leben etwas elementar geändert hatte. Nichts hatte ich getan, was ich nicht schon vorher getan hätte, nichts unterlassen, was ich zuvor nicht unterlassen hätte. Ich war scheinbar der Gleiche geblieben. Meine Nase war nicht länger geworden, meine Haare hatten sich nicht zu Zotteln verflochten, meine Haut hatte sich nicht grün gefärbt, ich spie kein Feuer, ich war nicht gewachsen. Und doch hatte sich etwas an mir verändert. Von einem Tag auf den anderen.

Ich war nicht mehr der Kleine.

Die Zeit, als ich der Kleine war, ist die einzige meines Lebens gewesen, die wir nicht miteinander verbracht haben, Benjamin. Und da du nicht dabei warst, möchte ich dir einen kurzen Eindruck davon geben, wie es ist, ein vierjähriger Tillmann zu sein. Als kleiner Tillmann darf man alles, man muss nichts. Und es gibt nichts, was man nicht bekommen würde, wenn man es nur wirklich,...

Erscheint lt. Verlag 7.1.2011
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Literatur Fantasy / Science Fiction Science Fiction
Geisteswissenschaften Psychologie Persönlichkeitsstörungen
Schlagworte Aufmerksamkeit • Autobiographie • Benjamin Prüfer • Bericht • Brüder • Eltern • Erinnerungen • Sachbuch • Tillmann Prüfer
ISBN-10 3-10-400829-9 / 3104008299
ISBN-13 978-3-10-400829-5 / 9783104008295
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