Die Enden der Welt (eBook)

Spiegel-Bestseller
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2010 | 1. Auflage
550 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-400807-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Enden der Welt -  Roger Willemsen
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Auf fünf Erdteilen war Roger Willemsen unterwegs, um seine ganz persönlichen Enden der Welt zu finden. Manchmal waren es die großen geographischen: das Kap in Südafrika, Patagonien, der Himalaja, die Südsee, der Nordpol. Manchmal waren es aber auch ganz einzigartige, individuelle Endpunkte: ein Bordellflur in Bombay, ein Bett in Minsk, ein Fresko des Jüngsten Gerichts in Orvieto, eine Behörde im Kongo. Immer aber geht es in diesen grandiosen literarischen Reisebildern auch um ein Enden in anderem Sinn: um ein Ende der Liebe und des Begehrens, der Illusionen, der Ordnung und Verständigung. Um das Ende des Lebens - und um den Neubeginn. Die Eifel: Aufbruch - Der Himalaya: Highway im Nebel - Minsk: Der Fremde im Bett - Timbuktu: Der Junge und die Wüste - Borneo: Die Straße ins Nichts - Tonga: Tabu und Verhängnis - Chiang Mai: Opium - Kamtschatka: Asche und Magma - Mandalay: Ein Traum vom Meer - Bombay: Das Orakel - Patagonien: Der verbotene Ort - Kinshasa: Aus einem Krieg - Hongkong: Das leere Postfach - Indonesien: Unter Toten - Gibraltar: Das Nonplusultra - Senegal: Die Tür ohne Wiederkehr - Der Nordpol: Einkehr ...

Roger Willemsen, geboren 1955 in Bonn, gestorben 2016 in Wentorf bei Hamburg, arbeitete zunächst als Dozent, Übersetzer und Korrespondent aus London, ab 1991 auch als Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Bayerischen Fernsehpreis und den Adolf-Grimme-Preis in Gold, den Rinke- und den Julius-Campe-Preis, den Prix Pantheon-Sonderpreis, den Deutschen Hörbuchpreis und die Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft. Willemsen war Honorarprofessor für Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin, Schirmherr des Afghanischen Frauenvereins und stand mit zahlreichen Soloprogrammen auf der Bühne. Zuletzt erschienen im S. Fischer Verlag seine Bestseller »Der Knacks«, »Die Enden der Welt«, »Momentum«, »Das Hohe Haus« und »Wer wir waren«. Über Roger Willemsens umfangreiches Werk informiert der Band »Der leidenschaftliche Zeitgenosse«, herausgegeben von Insa Wilke. Willemsens künstlerischer Nachlass befindet sich im Archiv der Akademie der Künste, Berlin.  Literaturpreise: Rinke-Preis 2009 Julius-Campe-Preis 2011 Prix Pantheon-Sonderpreis 2012

Roger Willemsen, geboren 1955 in Bonn, gestorben 2016 in Wentorf bei Hamburg, arbeitete zunächst als Dozent, Übersetzer und Korrespondent aus London, ab 1991 auch als Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Bayerischen Fernsehpreis und den Adolf-Grimme-Preis in Gold, den Rinke- und den Julius-Campe-Preis, den Prix Pantheon-Sonderpreis, den Deutschen Hörbuchpreis und die Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft. Willemsen war Honorarprofessor für Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin, Schirmherr des Afghanischen Frauenvereins und stand mit zahlreichen Soloprogrammen auf der Bühne. Zuletzt erschienen im S. Fischer Verlag seine Bestseller »Der Knacks«, »Die Enden der Welt«, »Momentum«, »Das Hohe Haus« und »Wer wir waren«. Über Roger Willemsens umfangreiches Werk informiert der Band »Der leidenschaftliche Zeitgenosse«, herausgegeben von Insa Wilke. Willemsens künstlerischer Nachlass befindet sich im Archiv der Akademie der Künste, Berlin.  Literaturpreise: Rinke-Preis 2009 Julius-Campe-Preis 2011 Prix Pantheon-Sonderpreis 2012

Die Eifel


Aufbruch

Ich kam in die Stadt und suchte die Glücklichen, jene, die wegstreben. Sie haben keinen Ort, dachte ich, oder sind an der Erde nicht richtig befestigt. Jedenfalls sind sie nie nur da, wo sie sind, und die Ferne liegt ihnen schon auf den Schultern, noch ehe sie aufgebrochen sind, »rastlose Menschen« werden sie von denen genannt, die es nicht sind. Dabei leben sie eher sesshaft im Aufbruch. Damals wohnte ich auf dem Dorf, und in der Stadt suchte ich beides: Heimweh und Fernweh.

Das waren die Jahre der Schwärmerei. Sie konnten nicht bleiben. Über die Sterne, die Meridiane, den Schienenstrang, die Zugvögel, die Kurzwelle, über die Wasserwege und das ferne Brausen der Welt verbunden, drängte sie sich auf, weil sie entrückt war, und wie sich Bewusstsein oft um das kristallisiert, was fehlt, wurde mir die entlegene Welt erst im Phantomschmerz bewusst, am Neujahrstag gegen Mittag.

Zwölf Stunden zuvor waren wir unter einem frostklirrenden Himmel, erwärmt von Erwartungen, aus einer Umarmung in die nächste geglitten und erstarrt, hatten uns mit dem ironischen Schmachten im Blick betrachtet, das den Anwesenden fixiert wie einen Abwesenden, und gesagt:

»Hab ein glückliches neues Jahr!«

»Und dir ein glückliches Leben!«

Die Schleifspuren der flüchtigen Küsse auf der Wange, waren wir in die Silvesternacht getreten, hatten unsere Gläser zum x-ten Mal in den Luftraum gehoben, ein paar Mal nachgefasst, ein paar Bekenntnisse formuliert, und das Liebespaar, erst seit wenigen Wochen getrennt, schwor, dass es sich gut bleiben wolle. Die allseits beliebte Heitere daneben schimpfte, weil ihr Freund exakt um null Uhr die Falsche geküsst hatte, darauf stürzte dieser ins Gebüsch, um sich zu übergeben. So war denn wieder einmal Silvester nicht im Dur verklungen. Stunden später hatte jeder irgendein Bett, eine Matte im Winkel, eine Sofalandschaft zum ersten Schlaf des Jahres gefunden.

Am nächsten Morgen, es hatte in der Nacht zu schneien begonnen, tappte ich im Pyjama ins Freie, wo der Freund beschäftigt war, mit der Spitzhacke auf das gefrorene Erbrochene einzuhacken, das in farbigen Eisschuppen in alle Richtungen sprang. Die anderen kamen nach und nach, manche schon mit Kaffeetassen in der Hand, und begutachteten seine Arbeit, die erste im neuen Jahr.

Wenig später treibt die ganze Gruppe irgendwo in der Landschaft der Voreifel einen verschneiten Weg hinunter, dem weiten Feld, dem fernen Wald entgegen. Wir gehen wortkarg, verteilt auf mehrere Grüppchen. Einige schlendern schlampig, andere stapfen bewusst wie zu Kinderzeiten, befeuert von der matten Euphorie des Lufthungers. Vom Weg sind wir abgegangen. So hoch mit verharschtem Schnee bedeckt ist das Feld, dass wir gehen wie auf Baiser. Die Landschaft ist steif gestreckt und einförmig: Hügel mit Büschen rechts, Hügel mit Mischwald links vor offenem Horizont. Wir gehen.

Es kommt ein beliebiger Punkt. Da halten alle an, und niemand tut mehr einen Schritt. Der Wind streicht über die leere Fläche, auf der wir stehen wie zusammengefegt. Einer sagt:

»Hier ist nichts. Drehen wir um.«

Und keiner tut jetzt auch nur einen einzigen Schritt über die imaginäre Linie hinaus. Als hörten sie das Echo der Grenze, haben jetzt alle den Kopf gehoben, lauschen und sacken in die Bewegung: Alles nickt. Alle wenden sich in ihren Fußspuren. Man stapft heimwärts.

»Schau mal, wie abgetragen meine Haut schon ist«, sagt eine mit Pagenkopf zu ihrem Freund, das Kinn zwischen zwei Fingern schlenkernd.

Der Wind trägt es über das unberührte Feld. Keiner blickt zurück, während ich mit einer Freundin noch da stehe und auf den ersten reinen Schnee sehe, in den sich kein Fuß mehr setzte. Was war es in dieser Landschaft, das sagte: Nicht weiter, geh, dreh um, verschwinde?

»Da liegt sie, die Nein sagende Landschaft. Die ist nicht für uns«, bemerkte ich, angezogen von dieser menschenabweisenden, glanzlosen, von Empfindungen unbearbeiteten Zone.

»Man hat das Gefühl, auf der Rückseite der Landschaft angekommen zu sein«, sagte die Freundin. »Warum glauben wir eigentlich, ausgerechnet hier auf die ursprüngliche zu treffen?«

»Vielleicht weil sich Menschen ursprünglich so empfinden? Weil auch sie innen ohne Schauseite sind?«

»So ließe sich zumindest der Schrecken erklären, den solche Landschaften auch auslösen, der Schrecken vor dem Erhabenen. Die Leute sehen dort, was sie nicht in sich selbst sehen wollen: die wüste, unbehauste, unwirtliche Landschaft?«

Dann überlegten wir, ob man Landschaften überhaupt anders als symbolisch betrachten könne, korrespondiert doch jeder Hügelzug, jeder schimmernde See, jede Lichtstimmung über dem Tal einer inneren Situation, sei sie lieblich oder fahl oder roh. Eigentlich nimmt man doch jede Landschaft musikalisch, als eine Manifestation von etwas Seelischem.

»Und daraus leitet der Reisende dann seine Lieblingsfloskel ab, die da sagt, man bereise eigentlich sich selbst«, folgerte ich.

»Und wenn man nun in einer solchen inneren Landschaft ankommt? Einer, die dich verneint?«, fragte die Freundin.

»Dann ist das keine Landschaft zum Kinderzeugen.«

»Gerade!«, lachte sie. »Komm, ich hab Hunger!«

Ich dachte damals auch, wenn man reise, bis man irgendwo einmal das Ende der Welt berührt zu haben glaubt, dann erreiche man vielleicht auch einen neuen, andersartigen Zustand des Ankommens. Man müsste wohl unwillkürlich denken, dass alle Reisen ein Ende haben könnten, so unabschließbar sie auch eigentlich sind. Es würde eine Kraft von diesen Orten ausgehen wie im Märchen, wo der Riese auch aus der Berührung der Erde seine Stärke bezieht.

Könnte es nicht sein, dass nicht die Reisenden sich bewegen, sondern dass vielmehr die Welt unter ihren Füßen Fahrt aufnimmt, und sie sich gleich bleiben? In Wirklichkeit gelangt man immer nur an einen weiteren treibenden Ort, um sich dann neuerlich abzustoßen und vielleicht endlich an jenem instabilen Ort einzutreffen, den ich nur deshalb »Zuhause« nenne, weil er mehr Rituale versammelt als andere, das Zuhause der Wiederholungen. Ich kann ja nicht einmal sagen, dass ich ihn besser kenne – im Gegenteil, Touristen besuchen mit Anhänglichkeit Sehenswürdigkeiten andernorts und haben die ihres Zuhauses nie gesehen. In der Musik einer Flughafen-Wartehalle in Timbuktu, einem Werbefoto, einem Fernsehbild, das einen Berliner Bären im Plüschkostüm tanzend zeigt, gesehen irgendwo auf der Welt, bin ich vielleicht mehr zu Hause als auf einem deutschen Bahnhof. Zumindest kenne ich die Plausibilität hinter der Musik oder dem Bild vielleicht besser, als es die heimischen Tuareg tun, die so gezwungen werden, die mediale Geschichte des Westens zu bewohnen.

Der eisklare Neujahrstag in der Voreifel hatte einer Frostnacht Platz gemacht, als ich zur ersten Verabredung des Jahres aufbrach. Brigitta hatte den Jahreswechsel nicht mit uns feiern können. Sie war Krankenschwester und akzeptierte den Feiertagsdienst auf der Kinderstation, der besonderen Stimmung wegen, und weil sie gerne zugegen war, wenn die Kinder in ihr neues Jahr schauten, wie sie sagte.

Als ich ins Schwesternzimmer trat, trug sie noch ihren weißen Kittel, sogar das Häubchen und das Namensschild am Revers. Ich war Student im ersten Semester und nannte Brigitta damals meine »Romanze«. Ihre Gutherzigkeit war einschüchternd, die runden Augen in dem sommersprossigen Gesicht mit den etwas trotzigen Lippen waren es nicht minder. Aber erst, wenn sie Kittel und Häubchen ablegte und der braune Wollpullover über den massigen Brüsten erschien, hatte sie plötzlich einen Körper.

Wenn ich sie dann ein wenig zu lange im Arm hielt oder der Begrüßungskuss verbindlich wurde, begann sie schwerer zu atmen, und ich war ihr wieder nicht gewachsen. Für sie lag der Körper als Gegenstand der Medizin auf einer Achse mit dem Körper als Gegenstand der Lust. Für mich existierten die beiden nicht einmal im selben Milieu. Manchmal schenkte mir Brigitta Zeichnungen, auf denen Mädchen groß und rundlich standen, eine Sonnenblume hielten und die Haare zum Dutt hochgesteckt hatten. Ich sah diese Zeichnungen, ihre Unschuld und Körperlichkeit, als Inbegriff einer mir unzugänglichen schönen Welt.

An diesem Abend also trat ich ins Schwesternzimmer und fand Brigitta allein. Vom Etikettieren einer kleinen Sammlung Plastikdöschen blickte sie zwar auf, ließ sich auch auf die Wange küssen, doch abwesend, mit stillgelegter Sinnlichkeit. Fast hätten wir das neue Jahr vergessen. Aber dann lagen wir uns doch kurz im Arm, und bedrückt von der Gegenwart wünschten wir uns etwas diffuses Gutes für die Zukunft. Sie sagte »unsere Zukunft«.

Wir würden also einen stillen Abend haben. Ich setzte mich an den quadratischen Resopaltisch, an dem sie inzwischen mit dem Aufziehen einer Spritze beschäftigt war, und legte meine Hand auf die ihre. Sie fing sofort an zu weinen.

Es ging um den Jungen Tom, einen achtjährigen Kerl, so brütend wie sie selbst. Als ihren Schutzbefohlenen hatte sie ihn angenommen, seit man ihn unlängst mit einem Hirntumor eingeliefert hatte. In wolkigen Begriffen war ihm zuerst erklärt worden, dass er krank, sehr krank sei. Damit konnte er nicht viel anfangen, fühlte er doch weder Schmerzen noch andere Einschränkungen. Aber in der kurzen Zeit, die folgte, hatte er die Krankheit als inneren Adel angenommen, schritt nun mürrisch über die Flure und verlangte schleunigst seine Entlassung.

Am Tag meines Besuchs war Brigitta die Aufgabe zugefallen, dem Jungen die Wahrheit über seine Krankheit zu sagen. Sie hatte die Tür geschlossen, sich auf seine Bettkante gesetzt und...

Erscheint lt. Verlag 5.10.2010
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber
Reisen
Schlagworte Afghanistan • Anspruchsvolle Literatur • Eifel • Ende • Gibraltar • Illusion • Leben • Liebe • Neubeginn • Nordpol • Orvieto • Patagonien • Reise • Reisebericht • Reisen • Roman • Weltende
ISBN-10 3-10-400807-8 / 3104008078
ISBN-13 978-3-10-400807-3 / 9783104008073
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