Gewalten (eBook)

Ein Tagebuch
eBook Download: EPUB
2010 | 1. Auflage
224 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-400712-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Gewalten -  Clemens Meyer
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Clemens Meyer schreibt ein Tagebuch über die Gewalten unserer Zeit: Eine Stadt sucht ihren Mörder, Jubel beim Pferderennen, der beste Freund liegt im Hospiz. Ein Hund stirbt. Endlose Zahlenreihen fließen über einen Bildschirm in einer menschenleeren Fabrikhalle. Die psychiatrische Notaufnahme wird zur Endstation einer heillosen Nacht. Roh, unheimlich und geheimnisvoll ist die Welt, durch die wir täglich gehen. Clemens Meyer entwirft Szenen von großer poetischer Kraft und verstörender Klarheit. Ein Jahr lang erkundet er Seelenlandschaften, reale Orte und imaginäre Welten. Er erzählt von Alpträumen, jubelnder Euphorie und dem Irrwitz unseres Lebens.

Clemens Meyer, geboren 1977 in Halle / Saale, lebt in Leipzig. 2006 erschien sein Debütroman »Als wir träumten«, es folgten »Die Nacht, die Lichter. Stories« (2008), »Gewalten. Ein Tagebuch« (2010), der Roman »Im Stein« (2013), die Frankfurter Poetikvorlesungen »Der Untergang der Äkschn GmbH« (2016) und die Erzählungen »Die stillen Trabanten« (2017). Für sein Werk erhielt Clemens Meyer zahlreiche Preise, darunter den Preis der Leipziger Buchmesse. »Im Stein« stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, wurde mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet.  Literaturpreise:Klopstock-Preis für neue Literatur 2020Stadtschreiber von Bergen-Enkheim 2018/2019Premio Salerno Libro d'Europa 2017Finalist Premio Gregor von Rezzori 2017Longlist Man Booker International Prize 2017Mainzer Stadtschreiber 2016Bremer Literaturpreis 2013Shortlist Deutscher Buchpreis 2013Stahl-Literaturpreis, 2010TAGEWERK-Stipendium der Guntram und Irene Rinke-Stiftung, 2009Preis der Leipziger Buchmesse, 2008Clemens-Brentano-Preis der Stadt Heidelberg, 2007Märkisches Stipendium für Literatur, 2007Förderpreis zum Lessing-Preis des Freistaates Sachsen, 2007Mara-Cassens-Preis, 2006Rheingau-Literatur-Preis, 2006Einladung zum Ingeborg Bachmann-Wettbewerb, 2006Nominierung zum Preis der Leipziger Buchmesse, 20062. Platz MDR-Literaturwettbewerb, 2003Literatur-Stipendium des Sächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst, 20021. Platz MDR-Literaturwettbewerb, 2001

Clemens Meyer, geboren 1977 in Halle / Saale, lebt in Leipzig. 2006 erschien sein Debütroman ›Als wir träumten‹, es folgten ›Die Nacht, die Lichter. Stories‹ (2008), ›Gewalten. Ein Tagebuch‹ (2010), der Roman ›Im Stein‹ (2013) sowie die Frankfurter Poetikvorlesungen ›Der Untergang der Äkschn GmbH‹ (2016). Für sein Werk erhielt Clemens Meyer zahlreiche Preise, darunter den Preis der Leipziger Buchmesse. ›Im Stein‹ stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, wurde mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet und für den Man Booker International Prize 2017 nominiert. ›Als wir träumten‹ wurde für das Kino verfilmt sowie ›In den Gängen‹ nach einer Erzählung von Clemens Meyer, beide Filme liefen im Wettbewerb der Berlinale. Im Frühjahr 2017 erschienen die Erzählungen ›Die stillen Trabanten‹. Literaturpreise: Klopstock-Preis für neue Literatur 2020 Stadtschreiber von Bergen-Enkheim 2018/2019 Premio Salerno Libro d'Europa 2017 Finalist Premio Gregor von Rezzori 2017 Longlist Man Booker International Prize 2017 Mainzer Stadtschreiber 2016 Bremer Literaturpreis 2013 Shortlist Deutscher Buchpreis 2013 Stahl-Literaturpreis, 2010 TAGEWERK-Stipendium der Guntram und Irene Rinke-Stiftung, 2009 Preis der Leipziger Buchmesse, 2008 Clemens-Brentano-Preis der Stadt Heidelberg, 2007 Märkisches Stipendium für Literatur, 2007 Förderpreis zum Lessing-Preis des Freistaates Sachsen, 2007 Mara-Cassens-Preis, 2006 Rheingau-Literatur-Preis, 2006 Einladung zum Ingeborg Bachmann-Wettbewerb, 2006 Nominierung zum Preis der Leipziger Buchmesse, 2006 2. Platz MDR-Literaturwettbewerb, 2003 Literatur-Stipendium des Sächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst, 2002 1. Platz MDR-Literaturwettbewerb, 2001

Gewalten


Ich hänge. Meine Beine sind vom Körper abgespreizt, an der Wand fixiert. Meine Arme sind vom Körper abgespreizt, an der Wand fixiert. Ich kann meinen Kopf bewegen, sehe Manschetten aus Plastik und festem Stoff, die meine Unterarme umschließen. Ich streiche mit den Fingerspitzen über die Wand, die sich seltsam weich anfühlt. Meine Brille ist weg, und ich drehe meinen Kopf, sehe den Raum um mich herum verschwommen, Neonröhren an der Wand gegenüber strahlen mich an, eine flackert, und in dem Flackern des Lichts dreht sich das Bild ganz langsam, ich sehe mich, wie ist das möglich?, wie ich da so an der kippenden Wand hänge, das Bild dreht sich, plötzlich die Neonröhren unter mir, ich spüre, wie mich diese Manschetten an Armen und Beinen halten und mein Kopf nach vorne fällt und an meinem Hals, der sehr lang ist, in den Raum baumelt, mir ist wie Kotzen, und ich drehe mich mit dem Bild und dem Raum, und ich liege, bin auf ein großes Bett geschnallt, Arme und Beine vom Körper abgespreizt, fixiert.

Ich sehe, wie ich da so liege auf dem Bett, sehe das von weit entfernt, werde immer kleiner, als ob die Decke dieses Raumes sich nach oben verschiebt, immer weiter hinauf in diesen Himmel im Dezember, das weiß ich noch, 30.Dezember auf den 31.Dezember, Jahr 2008.

So klein bin ich da unten und weiß nicht, wie ich da hingekommen bin, ein Flackern in meinem Kopf, ich will mich nicht alleinlassen in diesem weißen Raum auf dem weißen Bett, ich muss doch frieren, denn ich sehe, dass ich nur Unterwäsche trage, schwarzes Unterhemd, schwarze Unterhose, Kontrapunkte in der Arktis, keine Strümpfe, keine Schuhe, und dann plötzlich bin ich wieder ich auf dem Bett, die Neonröhren über mir, bin dann wieder ich über dem Bett, der sich im Bett sieht, der im Bett sieht nur die Decke, bin ich also mehrfach vorhanden?, da stimmt doch was nicht, mein eigenes Gesicht jetzt direkt vor mir, Großaufnahme, Augen aufgerissen, Mund aufgerissen, Falten wie Krater um Augen, um Mund, ich denke: 2028 vielleicht, ich brülle, bis ich nicht mehr brüllen kann. »Hilfe, hilfe, bitte helft mir doch!«

Aber da kommt keiner, da ist keiner, eine Tür, zwei Fenster mit heruntergelassenen Jalousien, es muss noch Nacht sein draußen, das weiß ich. Ein Waschbecken neben der Tür, sonst nichts in dem Raum außer dem Bett; später, als ich mit dem Bett durch den Raum reite und dabei ein wahnsinniges Krachen und Scheppern erzeuge, werde ich noch eine Tür bemerken, zwei Türen, zwei Fenster, aber die Zeit scheint sich nicht zu bewegen in diesem Würfel, und bevor ich so durch den Raum reiten kann, dass sich kleine, kaum sichtbare Risse durch die Wände und die Türen und das Glas der Fenster und der Neonröhren ziehen werden, gewaltige Vibrationen, ich liege und warte, eine Stunde, zwei Stunden ... vielleicht auch nur dreißig Minuten, eine Stunde, anderthalb Stunden. Ich warte. Ich versuche nachzudenken. Ich verstehe langsam, wo ich bin und warum ich bin, wo ich bin. Ich kann es noch nicht richtig greifen, eine dünne Eisschicht darüber in meinem Kopf, aber viele kleine und mittelgroße Fische stoßen schon von unten dagegen, ein kugeliges Aquarium, ich kann sie sehen als Schemen und Schatten, wenn ich die Augen schließe, und das Knirschen und Klirren des Eises in meinem Kopf, ich sehe einen Arzt, vollbärtig mit einer runden Brille, er erinnert mich an einen evangelischen Pfarrer, deswegen die Fische?, die Fische ergeben doch keinen Sinn, aber sie stoßen gegen das Eis. Ich friere. »Hatten Sie schon häufig die Absicht, Suizid zu begehen?«

»Ich hatte noch nie die Absicht, Suizid zu begehen.«

»Konsumieren Sie Drogen?«

»Sie sind falsch informiert, ich hatte noch nie die Absicht, Suizid zu begehen.«

»Leiden Sie unter Depressionen?«

»Das ist ein Irrtum, ich würde nie auf die Idee kommen, Suizid ...«

»Waren Sie schon einmal in Behandlung wegen ...« Der Ton ist weg, sein Mund bewegt sich, auf und zu, auf und zu, Blasen steigen zur Decke, und ich hasse diesen Pfaffen, ich stelle mir vor, wie ich seinen Bart mit beiden Händen packe und mit einem Geräusch wie beim Öffnen eines Klettverschlusses von seinen Backen reiße, die Haut darunter ist voller Blasen und Poren wie gekochte Hühnerhaut. Ich habe die Hände auf dem Rücken, während ich mit ihm spreche, irgendwo sind die Polizisten ...

Ich drehe den Kopf und begutachte die Manschette, die meinen rechten Arm festhält. Ich muss sie loskriegen und den Pfaffen aufspüren. Was soll ich ihm den Bart abreißen, so was funktioniert schlecht in der Realität, ich werde ihn aufspüren und packen und durch ein geschlossenes Fenster werfen, die Scherben im Scheinwerferlicht begleiten ihn nach unten, Knastmonde, aber ich bin nicht im Knast. So ähnlich, nur so ähnlich.

Später, irgendwann, Stunden, Tage, 2008, 2009, werde ich durchs Innere des Gebäudes laufen, ein langer Gang, meine rechte Schulter und mein Ellenbogen schmerzen, ich laufe, nein, ich humpele schwankend, etwas nach vorne gebeugt, der rechte Ellenbogen vom Körper abgespreizt, wie ein Körperklaus, das hat ein Junge immer benutzt, dieses Wort Körperklaus, das muss 1997 gewesen sein in der Jugendarrestanstalt Zeithain, der lag mit mir auf dem Zimmer und hat alle möglichen Leute so bezeichnet, hinter ihrem Rücken, obwohl er selbst klein und dick und hässlich war und sich in den paar Wochen kaum gewaschen hat und mir stinkende Lügengeschichten erzählt hat Nacht für Nacht; spastisch, auch so ein Wort, den Ellenbogen abgespreizt und spastisch durch die Luft rudernd, bewegen sie sich wie in Zeitlupe auf mich zu, Zombies würde ich sagen, sie schwanken, wie auch ich schwanke, als würden sie gleich umkippen, Night of the Living Dead, obwohl schon Nachmittag ist. Einige brabbeln, strecken ihre Arme nach mir aus, Zombies können nicht sprechen, aber sie sind hungrig nach menschlichem Fleisch und infizieren ihre Opfer, wenn sie sie beißen, die dann auch zu Zombies werden, Dawn of the Dead, der ist in Deutschland nicht ungeschnitten zu bekommen, mein Tätowierer kennt einen DVD-Dealer, der ihn mir besorgt hat, ein paar Überlebende der globalen Zombie-Katastrophe verschanzen sich in einem riesigen Einkaufszentrum, das von den Zombies belagert wird, wie 2007, als in Berlin am Alexanderplatz um Mitternacht ein Einkaufszentrum eröffnet wird, Schnäppchen – Schnäppchen – Schnäppchen, rennen Tausende Zombies auf Koks, viel schneller und agiler als die von George A. Romero, durcheinander und übereinander, es gibt viele Verletzte auf der Jagd nach dem Fleisch, Scheiben gehen zu Bruch, und ich sehe die Glassplitter im Scheinwerferlicht der Monde, »Das Vieh wurde geschlachtet, und nun will jeder ein Stück Fleisch«, hat mir mal ein Zuhälter gesagt, ich bevorzuge die modernere Berufsbezeichnung Manager, als er die großen Machtkämpfe im ostdeutschen Rotlicht-Milieu nach der Wende beschrieb ... Und über all das denke ich nach, während ich da festgeschnallt im Bett liege und meine Arme irgendwie aus diesen Manschetten kriegen will und noch gar nicht wissen kann, dass da welche über den Gang stolpern und nach mir greifen, denen der Sabber übers Kinn läuft, deren Augen tot sind, später, wie bei George A. Romero, dessen Meisterwerk von 1978 in Deutschland der Zensur zum Opfer fällt, dreißig Jahre lang, und hier 2008, 30. auf den 31.Dezember, das letzte Zimmer auf der linken Seite, ich.

Es muss doch möglich sein, diese Manschetten zu lockern, zu lösen. Ich muss nur eine Hand losbekommen, dann kann ich nach der Axt greifen, die neben dem Bett steht, nein, zu Hause, heeme, so sagen wir in Sachsen, heeme steht meine Axt neben dem Bett, eine wunderschöne Feuerwehraxt aus den dreißiger Jahren, ratzfatz mit der Axt befreit und mit riesen Hieben durch die Tür ins Innere des Komplexes und diesen bärtigen Schubladenöffner und Schließer zerhacken auf meinen Weg. Und ich schlage mich durch Türen mit meiner Axt ... Moment, wer kümmert sich um meinen Hund, der ist schon alt, wenn sie mich hier gefangen halten?, aber so lange bin ich noch nicht weg von Heeme und Hund, und wenn es Nacht ist, schläft er, und ich schwinge meine Axt, will raus aufs Feld, denn das weiß ich jetzt wieder, dass draußen vorm Fenster, hinter den Mauern, Felder sind, draußen vor der Stadt, dorthin haben sie mich gebracht, und ich schwinge die Axt, schreiend. Und an Magister Steinbauer muss ich denken, während ich so schreie, den Österreicher, der am 13.Mai 2008, ob das ein Freitag war, will ich wissen, aber verdammt nochmal, niemand antwortet!, der ist also am 13. los und hat fünf Leute erschlagen mit seiner Axt, Familie war das. »Darunter ein kleines Mädchen, das den Tod kommen sah und noch Abwehrbewegungen machte.« Das lese ich in der Zeitung, die ich aufgehoben habe, weil ich dachte, darüber muss ich mal was schreiben, und jetzt schreibe ich was ganz anderes, während ich wieder daliege und an diesen verdammten Manschetten fummle.

Magister Steinbauer hat also offenbar seiner eigenen kleinen Tochter die Hände weggehackt, als sie ihm die in dieser Abwehrbewegung entgegenhielt, denn anders können sie diese Abwehrbewegungen nicht konstatieren, wo sie doch nichts mehr sagen kann dazu. Der Magister Steinbauer hat seinen Magister gemacht an der Universität. Um mit einer Axt fünf Menschen zu erschlagen, braucht man eine gute, langstielige Axt und nicht unbedingt einen Magister, ich habe nur ein Diplom, und vielleicht braucht man das Moment der Überraschung, eine Axt ist eine Axt, und eine Rose ist eine Rose. Deswegen habe ich eine Axt...

Erscheint lt. Verlag 13.9.2010
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2009 • Anspruchsvolle Literatur • Berlin • Casino • Fußball • Gegenwart • Hannover • Hund • Kirmes • Leipzig • Literatur • Nacht • Pferderennen • Reisen • Roman • Stadt • Stadtschreiber Bergen • Tagebuch
ISBN-10 3-10-400712-8 / 3104007128
ISBN-13 978-3-10-400712-0 / 9783104007120
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