Der Erlöser (eBook)

Harry Holes sechster Fall

(Autor)

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2010 | 1. Auflage
528 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-548-92070-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Erlöser -  Jo Nesbø
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Oslo im Weihnachtslichterglanz, ein kaltblütiger Killer und ein Kommissar, dessen Leben aus den Fugen zu geraten droht. Harry Hole steht in seinem sechsten Fall vor einer ganz besonderen Herausforderung. In Oslo wird ein junger Mann auf offener Straße ermordet. Robert Karlsen, Offizier der Heilsarmee, wurde das Opfer des berüchtigten kroatischen Auftragskillers Stankic. Hauptkommissar Harry Hole, der gerade andere Probleme hat, hofft auf einen schnellen Ermittlungserfolg. Seine Freundin Rakel hat ihn verlassen und der eigenwillige Kommissar will endlich versuchen, die Beziehung zu kitten. Doch Stankic erweist sich als ebenbürtiger Gegner. Als Hole merkt, dass der Mörder es auch auf Roberts Bruder Jon Karlsen abgesehen hat, beginnt eine atemberaubende Verfolgungsjagd. In wessen Auftrag ist Stankic unterwegs? Was ist das Motiv für die Mordanschläge? Und was spielt sich hinter der makellosen Fassade der norwegischen Heilsarmee wirklich ab? Ein eindringlicher Kriminalroman und ein düsteres Porträt unserer Zeit. Entdecken Sie auch MESSER, den neuen großen Kriminalroman um Kommissar Harry Hole!

Jo Nesbø, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Er gehört zu den renommiertesten und erfolgreichsten Krimiautoren weltweit. Jo Nesbø lebt in Oslo.

Jo Nesbø, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Er gehört zu den renommiertesten und erfolgreichsten Krimiautoren weltweit. Die Hollywood-Verfilmung seines Romans Schneemann wird von Martin Scorsese produziert. Jo Nesbø lebt in Oslo.

 

KAPITEL 1

August 1991. Sterne

 

 

Sie war vierzehn und glaubte fest daran, dass sie die Sterne auch durchs Dach hindurch sehen konnte, wenn sie die Augen zukniff und sich richtig konzentrierte.

Rundherum hörte sie den Atem der Frauen. Die gleichmäßigen, schweren Atemzüge von Schlafenden. Nur eine schnarchte, Tante Sarah, man hatte ihr eine Matratze unter dem geöffneten Fenster gegeben.

Sie schloss die Augen und versuchte zu atmen wie die anderen. Das Einschlafen fiel ihr schwer, vor allem seit ihre Umgebung plötzlich so neu und anders war. Hier auf dem Østgård hörte sie draußen vor dem Fenster die fremden Geräusche der Nacht und des Waldes. Die Menschen, die sie von den Versammlungen im Tempel und von den Sommerlagern kannte, waren irgendwie nicht mehr die gleichen. Auch sie selbst war nicht mehr die gleiche. Das Gesicht und der Körper im Spiegel über dem Waschbecken erschienen ihr in diesem Sommer so neu. Und ihre Gefühle, diese seltsamen Wallungen, mal heiß, mal kalt, wenn einer der Jungs sie ansah. Besser gesagt, ein ganz spezieller. Robert. Auch er war in diesem Jahr ein anderer geworden.

Sie schlug die Augen wieder auf und starrte ins Dunkel. Sie wusste, Gott hatte die Macht, Großes zu vollbringen, sie die Sterne durch das Dach sehen zu lassen. Wenn Er nur wollte.

Es war ein langer, ereignisreicher Tag gewesen. Der trockene Sommerwind rauschte durch die Getreidefelder, und die Blätter tanzten ekstatisch an den Bäumen, so dass das Licht glitzernd auf die im Gras sitzenden Sommergäste herabrieselte. Sie lauschten einem Kadetten von der Offiziersschule der Heilsarmee. Er berichtete ihnen von seiner Tätigkeit als Prediger auf den Färöer. Ein hübscher Kerl, der mit großer Inbrunst und Eifer erzählte. Doch sie war mehr damit beschäftigt, eine Hummel zu verscheuchen, die ihr um den Kopf schwirrte. Als das Insekt dann plötzlich verschwunden war, spürte sie, wie müde die Hitze sie gemacht hatte. Sowie der Kadett fertig war, richteten sich alle Augen auf den Kommandeur. David Eckhoff sah sie mit seinen lachenden, jungen Augen an, die schon über fünfzig Jahre alt waren, vollführte den Gruß der Heilsarmee, indem er die rechte Hand über die Schulter hob und den Zeigefinger zum Himmel emporstreckte, und rief ein klangvolles »Halleluja!«. Dann bat er um den Segen für die Arbeit des Kadetten unter den Armen und Ausgestoßenen und erinnerte sie alle an die Worte des Evangelisten Matthäus. Jesus, der Erlöser, konnte als Fremder unter ihnen sein, auf jeder Straße, möglicherweise als Häftling, als Ausgestoßener, hungrig und ohne Kleider. Und die Gerechten, all jene, die diesen Geringsten halfen, würden am Tage des Jüngsten Gerichts das ewige Leben erhalten. Es sah so aus, als würde es eine längere Rede werden, doch da flüsterte ihm jemand etwas zu, und er sagte lachend, heute stehe natürlich die Stunde der Jugend auf dem Programm und nun sei Rikard Nilsen an der Reihe.

Sie hörte, wie sich Rikard räusperte und seiner Stimme einen erwachseneren Klang gab, als er dem Kommandeur dankte. Wie gewöhnlich hatte er seinen Vortrag schriftlich ausgearbeitet und dann auswendig gelernt. Jetzt stand er da und leierte herunter, wie er sein Leben dem Kampf Jesu für das Reich Gottes widmen wollte. Nervös, aber zugleich monoton, einschläfernd. Sein verstohlener, nach innen gerichteter Blick ruhte auf ihr. Sie blinzelte. Seine verschwitzte Oberlippe bewegte sich und formte die vertrauten, langweiligen Phrasen. Deshalb reagierte sie nicht gleich, als sie die Hand am Rücken spürte. Erst als die Finger langsam über ihr Rückgrat nach unten wanderten und ihr unter ihrem dünnen Sommerkleid ein Schauer über den Rücken lief.

Sie drehte sich um und blickte in Roberts lachende braune Augen. Und sie wünschte sich, doch auch so dunkle Haut zu haben wie er, damit er nicht sah, wie sie rot wurde.

»Psst«, sagte Jon.

Robert und Jon waren Brüder, und obwohl Jon ein Jahr älter war, hatte man sie in ihrer Kindheit häufig für Zwillinge gehalten. Jetzt war Robert siebzehn, ihre Gesichtszüge ähnelten sich zwar noch, doch ansonsten überwogen die Unterschiede. Robert war fröhlich und unbekümmert, er neckte die Menschen gerne mal ein bisschen, konnte gut Gitarre spielen, nahm es aber mit den Gottesdienstzeiten nicht immer so genau. Manchmal übertrieb er seine Neckereien auch, vor allem dann, wenn er bemerkte, dass er andere damit zum Lachen brachte. Dann war es oft Jon, der eingriff. Jon, ein redlicher, pflichtbewusster Junge, von dem die meisten erwarteten – auch wenn es niemand laut aussprach –, dass er auf der Offiziersschule aufgenommen werden würde und sich ein Mädchen innerhalb der Armee suchte. Letzteres war bei Robert alles andere als selbstverständlich. Jon war zwei Zentimeter größer als sein Bruder, aber seltsamerweise wirkte Robert größer. Was daran lag, dass Jon bereits im Alter von zwölf Jahren begonnen hatte, etwas gebeugt zu gehen, als trage er die Last der ganzen Welt auf den Schultern. Beide waren dunkel und hatten schöne, ebenmäßige Züge, doch Robert hatte etwas, was Jon fehlte. In der Tiefe seiner Augen lag etwas Schwarzes, Verspieltes, das sie manchmal zu gerne ergründet hätte, das sie dann aber auch wieder abschreckte. Während Rikards Rede war ihr Blick über die Anwesenden geschweift. Bekannte Gesichter. Eines Tages würde sie einen Jungen aus der Heilsarmee heiraten, und dann würden sie vielleicht in eine andere Stadt oder einen anderen Teil des Landes abkommandiert werden. Aber immer würden sie hierher auf den Østgård zurückkehren, auf das Gut, das die Armee gerade gekauft hatte und das von jetzt an ihre gemeinsame Sommerfrische sein würde.

Etwas abseits, auf der Treppe des Hauses, saß ein Junge mit blonden Haaren und streichelte eine Katze, die ihm auf den Schoß geklettert war. Sie sah ihm an, dass er sie gerade heimlich beobachtet, seinen Blick aber noch rechtzeitig abgewandt hatte. Er war der Einzige hier, den sie nicht kannte, sie wusste aber, dass er Mads Gilstrup hieß und der Enkel des früheren Gutsbesitzers war. Er war ein paar Jahre älter als sie und gehörte zur wohlhabenden Gilstrup-Sippe. Eigentlich ein hübscher Junge, aber er hatte so etwas Einsames. Und was machte er überhaupt hier? Er war am Abend zuvor gekommen und war mit gerunzelter Stirn herumgelaufen, ohne mit jemand zu sprechen. Nur seinen Blick hatte sie ein paarmal gespürt. In diesem Jahr hingen alle Augen an ihr. Auch das war neu.

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Robert ihre Hand nahm, etwas hineinlegte und sagte: »Komm in die Scheune, wenn der General in spe da fertig ist. Ich will dir was zeigen.«

Dann stand er auf und ging. Sie blickte auf ihre Hand hinunter und hätte beinahe laut aufgeschrien. Sie musste sich mit der anderen Hand den Mund zuhalten, während sie ins Gras fallen ließ, was Robert ihr gegeben hatte. Es war eine Hummel. Sie bewegte sich noch, hatte aber weder Beine noch Flügel.

Rikard kam endlich zum Schluss, aber sie blieb sitzen und sah zu, wie ihre Eltern mit denen von Robert und Jon auf die Kaffeetische zustrebten. Sie galten in ihren jeweiligen Gemeinden in Oslo als »starke Familien« innerhalb der Armee, und sie wusste, dass man besonderes Augenmerk auf sie legte.

Dann ging sie in Richtung Toilette. Erst als sie um die Ecke gebogen war und sie niemand mehr sehen konnte, huschte sie in die Scheune.

»Weißt du, was das ist?«, fragte Robert mit einem Lachen in den Augen und dieser tiefen Stimme, die er letzten Sommer noch nicht gehabt hatte.

Er lag auf dem Rücken im Heu und schnitzte mit dem Taschenmesser , das er immer am Gürtel trug, an einer Baumwurzel herum.

Als er das Holzstück hochhielt, sah sie, was es war. Sie kannte es von Zeichnungen und hoffte nur, dass er in der Dunkelheit der Scheune nicht sah, wie rot sie wurde.

»Nein«, log sie und setzte sich neben ihm ins Heu.

Abermals sah er sie mit seinem neckenden Blick an, als wüsste er etwas über sie, wovon sie selbst keine Ahnung hatte. Sie erwiderte seinen Blick, lehnte sich zurück und stützte sich mit den Ellbogen auf.

»Etwas, das hierhin muss«, sagte er, und plötzlich war seine Hand unter ihrem Rock. Sie spürte die harte Baumwurzel an der Innenseite ihrer Schenkel, und noch ehe sie die Beine schließen konnte, presste er sie gegen ihre Unterhose. Sein Atem lag warm auf ihrem Hals.

»Nein, Robert«, flüsterte sie.

»Aber ich hab es extra für dich gemacht«, zischte er.

»Hör auf, ich will nicht.«

»Du sagst nein? Zu mir?«

Ihr stockte der Atem, und sie konnte weder antworten noch schreien, als sie plötzlich Jons Stimme vom Scheunentor her hörte: »Robert! Nein! Robert!«

Sie merkte, wie er losließ. Die Wurzel blieb zwischen ihren zusammengepressten Schenkeln stecken, als er seine Hand zurückzog.

»Komm her!«, kommandierte Jon, als hätte er es mit einem ungehorsamen Hund zu tun.

Robert stand mit einem kurzen Lachen auf, blinzelte ihr zu und trat zu seinem Bruder in die Sonne.

Und sie richtete sich auf, zupfte sich das Heu vom Kleid und fühlte sich gleichermaßen erleichtert und beschämt. Erleichtert, weil Jon dem wilden Spiel ein Ende bereitet hatte. Und voller Scham, weil es so gewirkt hatte, als sei es für Robert mehr als nur ein Spiel gewesen.

Später, beim Tischgebet vor dem Abendessen, blickte sie direkt in Roberts braune Augen und sah, wie seine Lippen ein Wort formten, das sie aber nicht verstand. Trotzdem begann sie zu kichern. Er war verrückt! Und sie war … Ja, was war sie? War auch sie verrückt? Verrückt und verliebt? Ja, verliebt, das war es wohl. Und nicht so, wie sie es mit zwölf oder dreizehn gewesen war. Jetzt war sie vierzehn, und auf einmal war alles...

Erscheint lt. Verlag 8.9.2010
Reihe/Serie Ein Harry-Hole-Krimi
Übersetzer Günther Frauenlob
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Durst • Harry Hole • Kommissar • Krimi • Norwegen • Oslo • Spannung
ISBN-10 3-548-92070-5 / 3548920705
ISBN-13 978-3-548-92070-2 / 9783548920702
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